18. Februar 1998

Dankesrede für die Verleihung der Ehrenbürgerwürde der City of London

 

My Lord Mayor, Herr Premierminister,
Exzellenzen, My Lords,
Aldermen, Sheriffs,
meine Damen und Herren,

 

ich danke Ihnen für die große Ehre, die Sie mir heute zuteil werden lassen. Es bewegt mich sehr, der erste deutsche Regierungschef zu sein, den die City of London in den kleinen Kreis ihrer Ehrenbürger aufnimmt. Vor allem aber freue ich mich: Wer möchte nicht in dieser Stadt zu Hause sein - mit ihrer "sprudelnden Lebendigkeit von Gewitztheit und Leidenschaft", wie Macaulay in seiner Geschichte Englands schrieb. Ich sage es ganz offen: In London bin ich gerne Ehrenbürger.

 

Diese einzigartige Metropole mit ihrer großen Tradition war schon früh ein Hort der Freiheit und der Weltoffenheit. In ihrer Geschichte finden sich viele Wurzeln von Demokratie und Rechtsstaat - Wurzeln, aus denen auch das vereinte Europa erwachsen ist. Am Ende unseres Jahrhunderts können wir alle froh und dankbar sein, daß sich Recht und Freiheit in großen Teilen der Welt mehr und mehr durchsetzen. So haben immer mehr Menschen Anteil am großartigen und freiheitlichen Erbe gerade Ihrer Stadt.

 

In Deutschland begehen wir in zwei Monaten den 150. Jahrestag der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Es war der erste große Versuch, in Deutschland eine Demokratie aufzubauen. Es ging damals um nationale Einheit, aber vor allem auch um Freiheit und Bürgerrechte. Damals haben viele Deutsche nach Großbritannien geblickt. Schon vor 150 Jahren haben zahlreiche Emigranten aus unserem Land bei Ihnen Zuflucht gefunden - und auch später, ganz besonders in den Jahren der Nazi-Barbarei.

 

Heute sind wir gemeinsam Mitglied der Europäischen Union, die sich ausdrücklich zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten bekennt. Und seit über vierzig Jahren schützen wir in der NATO die gemeinsamen Werte unserer Völker, ohne die diese keine Zukunft haben würden. Wir schützen Demokratie, Freiheit und die Herrschaft des Rechts.

 

Ohne den entschlossenen Widerstand des Vereinigten Königreiches gegen Diktatur, Unterdrückung und Willkürherrschaft gäbe es dieses freie Europa und gäbe es das freie und vereinte Deutschland nicht. Wir Deutsche werden uns stets dankbar daran erinnern, daß Briten, Amerikaner und Franzosen uns schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand zur Versöhnung reichten.

 

In wenigen Monaten jährt sich zum fünfzigsten Mal der Tag, an dem die Luftbrücke nach Berlin begann. Es war eine bis dahin unvorstellbare und beispiellose Hilfsaktion. Monatelang haben die westlichen Alliierten die Bürger im freien Teil Berlins aus der Luft versorgt und damit den Anschlag Stalins abgewehrt. Wir Deutsche haben nicht vergessen, daß bei diesem Einsatz für die Freiheit Berlins - das war auch unsere Freiheit - allein die Briten mehr als die Hälfte der Opfer bei den Alliierten zu beklagen hatten. Wir haben erfahren, was es heißt, in der Stunde der Not verläßliche Freunde an unserer Seite zu haben.

 

Über vierzig Jahre haben die Westmächte dem freien Teil unseres Vaterlandes Schutz, Schirm und Hilfe gewährt. Ohne ihre Hilfe - gerade auch ohne die Hilfe der Soldaten aus Großbritannien - wäre schließlich die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit nicht möglich gewesen.

 

Wir Deutsche blicken glücklich zurück auf die längste Friedensperiode in unserer Geschichte. Diese Entwicklung verdanken wir ganz entscheidend der Atlantischen Allianz und dem europäischen Einigungswerk. Auf diesen beiden Säulen ruht unsere Außenpolitik. Beide sind gleich wichtig. Es gibt kein "entweder - oder", sondern nur ein "sowohl - als auch". Wir wollen beides! Der enge Schulterschluß mit unseren Freunden in Nordamerika geht weit über Fragen der gemeinsamen Sicherheit hinaus. Wir wollen die Brücke über den Atlantik auf allen Gebieten - Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur - festigen und ausbauen.

 

Eine ganz wesentliche Voraussetzung für Frieden und Freiheit müssen wir Europäer selbst schaffen. Darauf hat bereits Londons Ehrenbürger Winston Churchill in seiner wegweisenden und unvergessenen Rede in Zürich im September 1946 hingewiesen. Diejenigen, die sich damals als Visionäre auf den Weg machten - ich nenne neben Winston Churchill Robert Schuman, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi und Paul Henri Spaak -, haben sich als die großen Realisten der Geschichte erwiesen.

 

Vor fünfzig Jahren trafen sich auf dem Europa-Kongreß in Den Haag erstmals Konrad Adenauer und Winston Churchill. Churchill begrüßte die deutschen Delegierten besonders herzlich, wie Adenauer in seinen Memoiren schrieb. Mit der Weitsicht des Staatsmanns erklärte er, dieser Europa-Kongreß wünsche die Teilnahme aller Völker des Kontinents, deren Lebensart nicht im Widerspruch zur Charta der Menschenrechte stehe.

 

Heute - am Ende eines Jahrhunderts, das so viel Not und Elend gesehen hat - können wir auch diese Vision endlich verwirklichen. Eine Europäische Union ohne Polen, Ungarn oder Tschechien - um nur einige Beispiele zu nennen - würde ein Torso bleiben. Prag, Warschau und Budapest - das sind genauso europäische Städte wie London und Berlin.

 

Beim Bau des Hauses Europa wollen wir Deutsche möglichst eng mit unseren britischen Freunden zusammenarbeiten. Ich bleibe bei meiner These, auch wenn sie hier nicht jeder versteht: Die Europäische Union braucht das Vereinigte Königreich - und umgekehrt. Europa braucht vor allem die einzigartige britische Mischung von Wirklichkeitssinn und Traditionsbewußtsein, von Pragmatismus und Idealismus, von Nüchternheit und Freiheitsliebe. Ohne die Tugenden, die Ihr Land groß gemacht haben und für die es zu Recht bewundert wird, würde uns in Europa etwas sehr Wichtiges fehlen. Ohne das Vereinigte Königreich könnten wir Europäer unsere gemeinsamen Interessen in der Welt nicht so wirksam zur Geltung bringen.

 

In diesem ersten Halbjahr 1998 stehen unter britischer Präsidentschaft entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft Europas an. Ich bin zuversichtlich, daß wir gemeinsam unter britischer Präsidentschaft, geführt von Ihrem Premierminister und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ein gutes Stück vorankommen werden.

 

Auf der Sitzung des Europäischen Rates am 2. Mai entscheiden wir darüber, welche Länder zum 1. Januar 1999 den Euro einführen werden. Ich bin absolut sicher, daß der pünktliche Start des Euro unter Einhaltung der Stabilitätskriterien das Klima für Investitionen, Innovationen und mehr Beschäftigung in Europa deutlich verbessern wird. Der Euro wird die Position Europas im härter werdenden globalen Wettbewerb stärken. Ich bin davon überzeugt, daß ein wirtschaftlich zersplittertes Europa in diesem Wettbewerb auf Dauer nicht bestehen könnte.

 

Ebenso bin ich sicher, daß sich die Wallstreet daran gewöhnen wird, daß der Euro die andere große Währung in der Welt sein wird. Und - ich darf es so sagen - wenn ich mich in der City umhöre, dann habe ich den Eindruck, daß man sich hier auf diese große Veränderung schon längst einstellt. Ich hoffe sehr, daß sich bald auch jene überzeugen lassen, die heute noch zögern.

 

Wir sind uns bewußt, daß der freie Welthandel für eine gute Zukunft Europas von existentieller Bedeutung ist. Wenn wir uns den neuen Herausforderungen offensiv und selbstbewußt stellen, wird auch die fortschreitende notwendige Globalisierung für uns Europäer vor allem eine große Chance sein. Damit wird zugleich - das scheint mir wichtig zu betonen - auch den Entwicklungsländern die Aussicht auf wirtschaftliches Wachstum und mehr selbsterarbeiteten Wohlstand eröffnet. Bisher hat zunehmender Handel - das ist die Erfahrung der Geschichte - die Wohlfahrt der beteiligten Völker noch immer erhöht. Auch deshalb lehnen wir eine "Festung Europa" ab.

 

Der Euro wird Europa nicht nur wirtschaftlich stärken, er wird auch die Europäische Union als Friedens- und Freiheitsordnung noch enger zusammenfügen. Aber unsere Bemühungen blieben unvollständig, wenn wir uns in der Europäischen Union nur auf uns selbst konzentrierten. Deshalb ist die Erweiterung von Europäischer Union und NATO nach Osten ebenfalls von ganz wesentlicher Bedeutung. Der Erweiterungsprozeß beginnt jetzt. Auf dem Europäischen Rat in Luxemburg im Dezember haben wir dazu Entscheidungen von historischer Tragweite getroffen. Der Untergang des Abendlandes, der in Teilen der Literatur beschrieben wurde, findet nicht statt. Ein neues Europa entsteht. Das neue Europa wird ein Kontinent des Friedens sein, auf dem kommende Generationen in gemeinsamer Freiheit leben können.

 

Das Europa, das wir bauen, darf keine zentralistische Gemeinschaft mit Allzuständigkeit in Brüssel sein. Es wird ein demokratisch verankertes, handlungsfähiges und bürgernahes Europa sein, das die Identität, die Traditionen, die Erfahrung der Geschichte und die Kultur aller Mitgliedstaaten und ihrer Regionen achtet. Dieses Europa, von dem ich spreche, wird auch künftig von seiner kulturellen Vielfalt, seinen regionalen Besonderheiten und seinen unterschiedlichen Traditionen geprägt sein. Auch im künftigen Europa bleiben wir selbstverständlich Briten, Italiener, Franzosen und Deutsche.

 

Es ist unser Ziel, auf europäischer Ebene nur das zu regeln, was nicht in ausreichendem Maße auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene entschieden werden kann. Ich bin zutiefst überzeugt, daß Kreativität nur auf dem Boden der Vielfalt gedeiht. Das ist auch die Lehre unserer gemeinsamen Geschichte: Die über Jahrhunderte andauernde gegenseitige Inspiration in Philosophie, Literatur und Musik hat doch in Wahrheit den kulturellen Reichtum unserer Nationen gemehrt.

 

Auch unsere wirtschaftliche Kooperation hat weite und tiefe Wurzeln in der Vergangenheit. Gerade auf diesem Gebiet zeichnen sich heute vielfältige neue Chancen ab. Ich bin überzeugt, daß die Möglichkeiten fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern noch viel besser ausgeschöpft werden könnten. Um dies auf Dauer sicherzustellen, müssen wir noch mehr als bisher dafür sorgen, daß das Verständnis vor allem auch zwischen jungen Briten und Deutschen weiter wächst.

 

Vorurteile - auch das ist die Erfahrung der Geschichte - bauen sich meist in der Distanz auf, wenn man einander nicht kennt oder über jemanden redet, von dem man nichts weiß. Heinrich Heine hat nach einem Aufenthalt in England einmal niedergeschrieben: "Die alten stereotypen Charakteristiken der Völker, wie wir solche in gelehrten Kompendien und Bierschenken finden, können uns nichts mehr nutzen und nur zu trostlosen Irrtümern verleiten." Heute ermöglichen uns vielfältige Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten, geographische und mentale Distanzen schneller zu überwinden. Das ist ein Glück und eine Chance vor allem für die junge Generation.

 

Exzellenzen, meine Damen und Herren, in wenigen Monaten beginnen überall in Europa die Sommerferien. Sie werden dann auf vielen Bahnhöfen in Europa junge Leute sehen können, die sich dort ein Interrail-Ticket lösen. Mit diesem Interrail-Ticket können sie ohne Grenzen quer durch Europa fahren. Sie treffen diese jungen Menschen hier in London am Piccadilly Circus; Sie treffen sie in Berlin; Sie treffen sie an der Spanischen Treppe in Rom, in Paris am Eiffelturm oder in Prag auf der Karlsbrücke. Sie erleben ein Europa ohne Grenzen. Für mich ist das wie die Vollendung eines Traums. In der Laudatio war freundlicherweise von meinem Lebensweg die Rede. Am Ende des Krieges - als ich 15 Jahre alt war - brauchte ich in meiner Heimatstadt einen Passierschein, um von der einen Seite des Rheins auf die andere zu kommen, von der französischen Besatzungszone in die amerikanische Besatzungszone. Wenn ich heute mit Schülern darüber spreche, können sie sich das gar nicht mehr vorstellen. Ich finde, das ist gut so. Denn es zeigt, welche Perspektive die jungen Menschen heute haben.

 

Sorgen wir dafür, daß auch künftig Briten und Deutsche im Geiste der gemeinsamen Erfahrung der Geschichte und in der Liebe zur Freiheit an dieser von uns gemeinsam gewünschten friedlichen Zukunft Europas arbeiten!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 16. 4. März 1998.