18. Januar 1989

Rede zur Eröffnung des CDU-Kongresses „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn

 

I.

Der 40. Geburtstag unserer Bundesrepublik Deutschland sollte für uns alle Anlass sein, uns auf eine wichtige Tugend aus der Gründungsphase unseres Gemeinwesens zu besinnen: nämlich auf die Fähigkeit zum Konsens, ohne den eine Demokratie auf Dauer nicht lebensfähig ist. Wir haben wahrlich genug Themen, über die wir uns streitig auseinandersetzen können; aber um der Zukunft unseres Landes willen ist es ebenso wichtig, immer wieder auch zur Gemeinsamkeit zu finden. Gerade die ersten Jahrzehnte unserer Bundesrepublik Deutschland beweisen ja, dass dies auch in schwierigen Zeiten möglich ist.
Vierzig Jahre Bundesrepublik Deutschland - dieses Jubiläum wird die vor uns liegenden Monate prägen, und es wird 1989 in vielfacher Hinsicht zu einem besonderen Jahr machen: zu einem Jahr, in dem wir auf die Anfänge unserer freiheitlichen Demokratie zurückblicken und Bilanz ziehen; zu einem Jahr auch, in dem wir gemeinsam feiern, was seit 1949 durch die Anstrengungen aller Bürger geschaffen wurde.
Vierzig Jahre Bundesrepublik Deutschland: auf den ersten Blick scheint das kein langer Zeitraum zu sein - schon gar nicht im Vergleich zu anderen Jubiläen, die in diesem Jahr gefeiert werden. Ich denke zum Beispiel an das 300-jährige Jubiläum der „Bill of Rights“ in Großbritannien und natürlich an das 200jährige Jubiläum der Französischen Revolution.
Und doch. Es ist gut und wichtig, dass wir gerade jetzt, nach vierzig Jahren, an die Gründung unserer Bundesrepublik Deutschland erinnern. Im Rahmen der jüngeren deutschen Geschichte nehmen sich diese vier Jahrzehnte in der Tat als etwas Besonderes aus. Und wir dürfen - bei aller gebotenen Zurückhaltung - mit Genugtuung und auch mit Stolz auf sie zurückblicken.
In der deutschen Geschichte der Neuzeit markieren diese vierzig Jahre eine eindrucksvolle Stabilität. Von 1914 bis 1949 zum Beispiel erlebten die Deutschen in nur 35Jahren zwei Weltkriege, das Ende des Kaiserreichs, die Weimarer Republik und deren Scheitern, schließlich die Barbarei der Nationalsozialisten sowie den tiefen Einschnitt nach 1945 mit den Jahren der Besatzung. Welch ein Kontrast zu der Periode, in der wir heute leben! Vierzigjahre Bundesrepublik Deutschland - das sind vor allem vierzig Jahre Frieden in Freiheit.
Noch aus einem anderen Grund halte ich es für wichtig, den historischen Rückblick jetzt vorzunehmen. Vierzigjahre entsprechen im landläufigen Sinne dem Wechsel von einer Generation zur nächsten. Aber sie bilden auch noch keine so große zeitliche Kluft, dass der Kontakt der Generationen dadurch unterbrochen würde.
Wer heute in der Bundesrepublik Deutschland Verantwortung trägt -in Politik und Wirtschaft, im kulturellen Leben oder in gesellschaftlichen Verbänden -, hat die Gründung unserer freiheitlichen Demokratie zumeist als Kind oder Jugendlicher erlebt. Gleichzeitig leben auch noch viele Zeitzeugen aus der Generation der Gründer, die von Beginn an beim Aufbau unseres freiheitlichen Gemeinwesens mitgewirkt haben. Gemeinsam stehen wir in der Pflicht, unserer jungen Generation, für die ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand selbstverständlich ist, ein wirklichkeitsgetreues Bild jener Gründungsphase vor Augen zu führen.
Vor allem müssen wir versuchen, einen Eindruck von den Hoffnungen, von den Ideen und Überzeugungen der Gründer unserer Republik zu vermitteln - und nicht zuletzt von den Erfahrungen, die sie geprägt hatten. Zu diesen Erfahrungen zählt in erster Linie das schreckliche Erlebnis der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. „Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur!“ - so lautete der feierliche Schwur bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland, und wir haben ihn seither immer wieder bekräftigt.
In diesem Jahr werden wir auch den 50.Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs begehen. Bei dieser Gelegenheit werden wir - wie auch beim Gedenken an den 50.Jahrestag der „Reichskristallnacht“ im vergangenen Jahr - einmal mehr mit großem Ernst deutlich machen: Wir nehmen unsere Geschichte in ihrer Gesamtheit an - mit all ihren guten, aber auch mit ihren schrecklichen Seiten.
Die Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland konnte uns den Wert und die Würde verantworteter Freiheit ja vor allem auch deshalb zurückgewinnen, weil sie bereit war, die Last der Geschichte anzunehmen. In diesem Geiste hat es Konrad Adenauer 1951 als „vornehmste Pflicht des deutschen Volkes“ bezeichnet, im Verhältnis zum Staate Israel und zu den Juden, „den Geist wahrer Menschlichkeit wieder lebendig und fruchtbar werden“ zu lassen.
Wiedergutmachung wurde geleistet, zur Sicherung einer Heimat für die Juden und als Hilfe für die Überlebenden des Holocaust. Aber heute wissen wir so gut wie damals: Leiden und Sterben, Schmerz und Tränen kann man nicht wiedergutmachen. Dafür gibt es nur die gemeinsame Erinnerung, die gemeinsame Trauer und den gemeinsamen Willen zum Miteinander in einer friedlicheren Welt.
Ohne das Wissen um die totalitäre Versuchung, ohne die Erinnerung an Schuld und moralisches Versagen sowie an die beispiellosen Schrecken, die daraus erwuchsen, lässt sich die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht verstehen: Diese Erfahrungen prägten die Beratungen im Parlamentarischen Rat auf entscheidende Weise. Dies immer wieder ins Bewusstsein zu rufen gehört mit zu den Aufgaben in diesem Jubiläumsjahr. Aus dem Rückblick auf vierzig Jahre Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kann auf diese Weise eine Brücke werden, die die Generationen zusammenhält. Ich glaube, der Versuch, über mehr Kenntnisse unserer Geschichte auch mehr Verständnis wachsen zu lassen, ist aller Anstrengungen wert.
Dies wäre allerdings zum Scheitern verurteilt, wenn wir uns nicht um ein vielseitiges, ausgewogenes und möglichst umfassendes Bild unserer Geschichte bemühten. Es kann nicht darum gehen, kritiklose Selbstzufriedenheit zu verbreiten - und ebenso wenig dürfen wir der Versuchung erliegen, unsere Sicht nur auf die Bundesrepublik zu beschränken. Wir müssen uns vielmehr um eine Gesamtschau bemühen, die alle Aspekte einbezieht: Dazu gehört zunächst einmal das Wissen um die fortbestehende Einheit unserer Nation. Wenn wir das 40jährige Bestehen unserer freiheitlichen Demokratie feiern, dann vergessen wir darüber niemals, dass die Bundesrepublik nicht unser ganzes Vaterland ist: Auch die DDR wird in diesem Jahr vierzig Jahre alt. Um so mehr bekräftigen wir -gerade auch bei den Jubiläumsfeierlichkeiten - unsere Verbundenheit mit all jenen Deutschen, denen ein Leben in Freiheit bislang versagt blieb. Zu der Gesamtschau, von der ich sprach, gehört ebenso der Blick auf die internationalen Zusammenhänge, vor allem auch auf die Einbindung in die westliche Wertegemeinschaft, durch die sich unsere Freiheit erst entfalten konnte.

II.

Damit sind entscheidende Stichworte genannt, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der letzten vierzig Jahre ziehen: Es ist eine Geschichte der Freiheit und der Verantwortung, die aus ihr erwächst -Verantwortung der Bürger füreinander und für unseren Staat, Verantwortung für unsere Landsleute in der DDR, Verantwortung für den Schutz von Frieden, Freiheit und Menschenrechten weltweit - an der Seite unserer Freunde und Partner in der westlichen Allianz. So sieht es nicht zuletzt das Grundgesetz vor, in dessen Präambel vor vierzig Jahren der Auftrag aufgenommen wurde, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen...“
Wir erinnern uns in diesen Tagen in Dankbarkeit jener Männer und Frauen, die im Parlamentarischen Rat das Grundgesetz berieten. Dieses Dokument der Freiheit, Fundament unserer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie, ist für uns Deutsche zu einer Quelle neuer moralischer Kraft geworden. Mit der Verkündung des Grundgesetzes war der entscheidende Schritt getan, um in einem zerstörten, von einer totalitären Diktatur geschändeten Land die Demokratie wiederzuerrichten. Und mehr noch; Unsere Verfassung hat sich als flexibel genug erwiesen, um einer kreativen Weiterentwicklung - wo erforderlich - den notwendigen Raum zu geben. Sie bezeugt damit über den Tag hinaus sowohl die Weitsicht der Gründer unserer Bundesrepublik Deutschland als auch die zeitlose Gültigkeit ihrer Ideale. Bei allem, was die demokratischen Parteien in der Bundesrepublik heute trennen mag - und notwendigerweise trennen muss: Wir stehen gemeinsam in der Tradition des antitotalitären Grundkonsenses von Persönlichkeiten wie Theodor Heuss, Kurt Schumacher oder Carlo Schmid - und nicht zuletzt Konrad Adenauer und Ludwig Erhard. Ich denke hier auch an so bedeutende Frauen wie zum Beispiel Helene Weber, die als Zentrumsabgeordnete schon der Verfassunggebenden Nationalversammlung von Weimar und dem Reichstag angehört hatte. [...]
Der historische Rückblick kann uns helfen, Augenmaß zu bewahren und den richtigen Weg zu finden. Die Erinnerung an die Geschichte dient immer auch als Standortbestimmung im Blick auf die Zukunft. Sie nimmt uns in die Pflicht, das Erreichte zu bewahren und auszubauen. Sie schärft schließlich den Blick für entscheidende Grundbedingungen und unauflösbare Zusammenhänge, die wir niemals außer acht lassen dürfen: So war zum Beispiel unsere Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten auch deshalb so stabil, weil sie sich - im Gegensatz zur Weimarer Republik - gegenüber den Feinden der Freiheit zur Wehr setzen konnte. Durch eine glückliche Verbindung von Toleranz und Festigkeit hat sich unsere freiheitliche Ordnung allen Herausforderungen durch totalitäre Bestrebungen oder terroristische Gewalttäter gewachsen gezeigt.
Auch für die Zukunft gilt: Wenn wir den inneren Frieden in unserem Land erhalten wollen, müssen wir bereit sein, die friedensstiftende Funktion des Rechts zu wahren. Dazu gehört auch, Gesetzesübertretungen zuverlässig zu ahnden und keine rechtsfreien Räume oder Grauzonen entstehen zu lassen. Dazu gehört erst recht, illegales Handeln als Mittel der politischen Auseinandersetzung entschieden abzulehnen.
Ebenso wie der innere Friede bedarf auch der äußere des fortdauernden Schutzes. Wenn wir auf vierzig Jahre Frieden in Freiheit zurückblicken können, dann sollten wir daran denken: Es ist kein Zufall, dass dieses Jubiläum mit dem 40jährigen Bestehen der Nato zusammenfällt. Wir leben mittlerweile nicht nur in der längsten Friedensperiode in der europäischen Geschichte der Neuzeit - länger als die zeitweise recht unruhige Phase zwischen 1871 und 1914. Wir haben darüber hinaus allen Grund zur Hoffnung, dass diese Friedensperiode anhält, mehr noch: dass der Frieden auf unserem Kontinent immer sicherer wird. Der INF-Vertrag war ein ermutigender Schritt in diese Richtung, ein bewegendes Zeichen der Hoffnung für viele Menschen.
Darüber droht nur allzu leicht der Blick für wesentliche Bedingungen dieses Erfolgs verlorenzugehen: Wenn wir jetzt in eine Entwicklung eingetreten sind, die Abrüstung Wirklichkeit werden lässt, die mehr Vertrauen schafft und die zu immer besseren Beziehungen zwischen West und Ost führen kann, dann verdanken wir dies nicht zuletzt unserer Grundsatztreue, unserem Willen zur Verteidigung von Frieden und Freiheit und dem festen Zusammenhalt im westlichen Bündnis. Gefährden wir diesen Fortschritt nicht, indem wir jetzt seine Grundlagen in Frage stellen!
Von Anfang an, seit Bestehen unseres Staates, ist unsere Sicherheit unauflösbar mit der Sicherheit unserer westlichen Verbündeten gekoppelt, und so wird es auch in Zukunft sein. Deshalb wird die Einbindung in die westliche Wertegemeinschaft auch weiterhin ein unverzichtbarer Teil unserer Staatsräson bleiben - und ebenso werden wir auch in Zukunft die notwendigen Verteidigungsanstrengungen auf uns nehmen müssen. Das wird natürlich - wie bisher auch - in einem gewissen Umfang Belastungen, Einschränkungen und Opfer mit sich bringen, vor allem für unsere jungen Wehrpflichtigen.
Doch nach wie vor gilt: Frieden und Freiheit gibt es nicht zum Nulltarif. Der politische Kurs von Generalsekretär Gorbatschow berechtigt zu Hoffnungen. Aber der Weg ist noch weit, sein Ziel durchaus ungewiss. Niemand von uns hat das Recht, aus einer Euphorie heraus vorschnell Entscheidungen zu treffen, die unsere Sicherheit und die Solidarität des westlichen Bündnisses aufs Spiel setzen könnten.
Eine gesicherte Verteidigungsfähigkeit - das lehren uns gerade auch die letzten vierzig Jahre - bleibt unverzichtbare Voraussetzung für Entspannung und Abrüstung. Und deshalb bleibt es bei unserem Ja zur Bundeswehr - bei unserer Solidarität mit den Soldaten, deren Dienst oft schwierig und mit manchen Entbehrungen und Anstrengungen verbunden ist. Die Bundeswehr ist ein fester Bestandteil unseres demokratischen Gemeinwesens. Unsere Soldaten leisten Diensteid und feierliches Gelöbnis nicht auf eine bestimmte Person; vielmehr versprechen sie, „der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“.
Zu den Dingen, die es zu schützen und zu bewahren gilt, gehören natürlich auch unser wirtschaftlicher Wohlstand und unsere soziale Sicherheit. Beides hat dieselbe Grundlage: den Fleiß, die Leistungsbereitschaft und die Kreativität unserer Bürger. Ich sage noch einmal: Der hohe Lebensstandard bei uns ist die Frucht harter Arbeit - und wir müssen uns bewusst sein, dass er auch nur durch harte Arbeit erhalten werden kann.
Gerade zu einem Zeitpunkt, in dem andere Völker und Regionen -ich denke vor allem an den ostasiatischen Raum - im wirtschaftlichen Aufbruch begriffen sind, dürfen wir hier nicht nachlassen. Jeder Art von Versorgungsmentalität, wie wir sie hier und da beobachten können, müssen wir deshalb eine entschiedene Absage erteilen. Mehr denn je gilt die schlichte Wahrheit, dass wir nicht einfach sorglos aus dem vermeintlich vollen schöpfen können - weder beim Gesundheitswesen noch beim Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen oder bei der Verteilung von Arbeitszeit.
Begreifen wir deshalb das Jubiläum unserer Bundesrepublik Deutschland auch als einen Aufruf, neue Kräfte zu mobilisieren, Fähigkeiten und Tugenden zu erneuern, die manche schon zum alten Eisen werfen wollten - und die doch unseren wirtschaftlichen Aufstieg erst möglich gemacht haben! Ich spreche von der Bereitschaft zur Leistung, zum engagierten Einsatz über das zwingend Vorgeschriebene hinaus. Ich spreche auch von der Fähigkeit zur Eigeninitiative, vom Mut zum Risiko, von Sorgfalt und Zuverlässigkeit, von vermeintlich altmodischen Einstellungen also, die dem „Made in Germany“ seinen guten Ruf verschafft haben.
So verstanden, können vierzig Jahre Bundesrepublik Deutschland in der Tat kein Grund sein, uns selbstzufrieden zurückzulehnen - uns gleichsam auf den Lorbeeren unseres Jubiläums auszuruhen. Sie sind vielmehr immer auch Mahnung, Antrieb und eine Orientierungshilfe im Blick auf die Zukunft. Selbstzufriedenheit, Sattheit und Bequemlichkeit sind das Letzte, was wir uns erlauben können; sie wären Verrat an den künftigen Generationen.

III.

In vielfacher Hinsicht hat die Entwicklung unseres freiheitlichen Gemeinwesens - allen Wechseln und Veränderungen zum Trotz - eine bemerkenswerte Kontinuität gezeigt. Im Rückblick erkennen wir: Wichtige Erfahrungen, Zusammenhänge und Grundbedingungen haben ihre Gültigkeit bewahrt. So wie vor vierzig Jahren müssen wir sie auch jetzt beachten, wenn wir neue Ziele anstreben.
Wir haben eine konkrete Vision, von der wir uns dabei leiten lassen: die Vision einer Friedensordnung, die ganz Europa und auch die Deutschen in Freiheit vereint. Wir wissen nicht, wann wir sie verwirklichen können, aber wir lassen nicht nach, mit ganzer Kraft dafür zu arbeiten - und gerade in letzter Zeit haben wir ermutigende Fortschritte erzielt.
Vor allem ist die Vollendung des europäischen Binnenmarktes auf einem guten Weg. Wir bauen weiter an dem Werk, das Konrad Adenauer, Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi und viele andere begonnen haben. Der gemeinsame Binnenmarkt wird eine völlig neue Qualität der europäischen Einigung eröffnen. Als Raum ohne Grenzen für 320 Millionen Bürger wird er einen wirtschaftlichen Schub bewirken, den man - auf deutsche Verhältnisse übertragen - nur mit Ludwig Erhards Währungsreform vergleichen kann. Aber er wird Europa auch politisch entscheidende Impulse geben.
Es geht in diesem Zusammenhang auch darum, der Gemeinschaft fortschreitend die Dimension eines gemeinsamen Sozialraumes und eines gemeinsamen Währungsraumes zu eröffnen - sowie darum, eine wesentlich größere Übereinstimmung in der Außen- und Sicherheitspolitik zu erreichen. Gerade auf dem zuletzt genannten Gebiet haben Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland eine Schrittmacherrolle übernommen.
Durch unsere gemeinsamen Initiativen, nicht zuletzt durch die Aufstellung eines integrierten deutsch-französischen Truppenverbandes, ist eine Keimzelle geschaffen worden, aus der schließlich eine gemeinsame europäische Verteidigung erwachsen kann. Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland handeln dabei in europäischer Verantwortung -und im Bewusstsein, dass die europäischen Staaten nur noch gemeinsam Sicherheit finden können. Auch die Brücke über den Atlantik zu unseren amerikanischen Freunden wird auf Dauer nur halten können, wenn sie auf beiden Seiten auf festgefügten Pfeilern ruht.
Ich betone noch einmal: Die Vollendung des Binnenmarkts markiert das wichtigste Ziel unserer Europapolitik in den nächsten Jahren, aber sie ist letztlich auch nur eine Zwischenetappe. Wir wollen die Europäische Union verwirklichen, die gleichzeitig als Modell und Eckstein einer umfassenden europäischen Friedensordnung wirken soll. Denn eines vergessen wir nicht: Europa ist weitaus mehr als die EG. Ich verstehe die Europäische Gemeinschaft deshalb als ein Angebot, das offenbleiben muss für jene, die einmal zu diesem größeren Verband dazu stoßen können und wollen. In dieser europäischen Perspektive liegt Deutschlands Zukunft - und wenn ich Deutschland sage, meine ich nicht nur die Bundesrepublik allein.
Die europäische Einigungspolitik bildet nach wie vor die einzig sinnvolle Antwort auf die ungelöste deutsche Frage. Europa muss den Rahmen bilden, in dem alle Deutschen in Einheit und Freiheit zusammenkommen können. Deshalb ist es absurd, wenn manche hier einen Widerspruch zu konstruieren suchen - einen Widerspruch zwischen den Zielen deutscher Wiedervereinigung und europäischer Einigung. Eine solche Behauptung ist ja nicht sehr originell. Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist sie immer wieder zur Diskussion gestellt - und aus guten Gründen immer wieder verworfen worden. In den Erinnerungen von Konrad Adenauer findet sich das Zitat:
„In Deutschland waren Auffassungen vertreten, nach denen es für uns entweder nur eine Politik für Europa oder aber eine Politik für die deutsche Einheit gäbe. Ich hielt dieses ,Entweder-Oder' für einen sehr verhängnisvollen Irrtum. Es konnte niemand erklären, wie ohne ein starkes und einiges Europa die deutsche Einheit in Freiheit zu verwirklichen wäre.“
Es ist erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit sich manche Irrtümer durch die deutsche Geschichte ziehen. Ich halte es für wichtig, solche Überlegungen auch heute noch einmal in aller Deutlichkeit zurückzuweisen. Die Wiederbelebung dieser Scheinalternative - deutsche Einheit oder europäische Einigung - hat offensichtlich die Westintegration selbst im Visier. Manche nehmen die kommende Europäische Union zum Anlass, um neutralistische Tendenzen zu fördern.
In Wahrheit gibt es zwischen Wiedervereinigung und Westintegration keinen Widerspruch. Sie sind nicht konkurrierende, sondern parallellaufende - und ich meine sogar: zusammengehörige - Aufträge des Grundgesetzes. Ich zitiere noch einmal den Satz aus der Präambel des Grundgesetzes, in dem beide Aufträge an das deutsche Volk formuliert sind: „... seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen...“ Diese Formulierung macht deutlich, dass die Väter und Mütter unserer Verfassung beides für miteinander vereinbar hielten. Die Wiedervereinigung Deutschlands ist Verfassungsauftrag; Friedenspolitik und europäische Einigung sind es ebenfalls.
Richtig ist natürlich auch, dass die Staatsorgane alles zu unterlassen haben, was die Wiedervereinigung vereiteln würde. Sie dürfen nichts unternehmen, was rechtlich oder tatsächlich einer Wiedervereinigung in Freiheit offensichtlich entgegenstünde. Ich kann aber nicht erkennen, inwieweit die Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu einem europäischen Bundesstaat - den Vereinigten Staaten von Europa - ein rechtliches Hindernis dafür bilden könnte, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Es geht um beides: um Einheit und Freiheit. Freiheit ist Bedingung der Einheit, sie darf nicht ihr Preis sein. Wenn aber die Freiheit der Kern der deutschen Frage ist -wie sollte dann ein freiheitlich verfasster europäischer Bundesstaat im Wege stehen, wenn sich endlich allen Deutschen die Chance gemeinsamer Freiheit böte? Heute wie vor vierzig Jahren war der Sinn der Westintegration, die Freiheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland sowie ihrer Bündnispartner zu schützen und die Chance für gemeinsame Freiheit aller Deutschen und Europäer zu bewahren und zu fördern. Daher sind Deutschland- und Europapolitik zwei Seiten derselben Medaille.
Wenn wir die europäische Einigung vorantreiben, dann nicht, weil wir unsere Landsleute in der DDR oder unsere europäischen Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa abgeschrieben hätten. Im Gegenteil: Wir vertrauen auf die große Anziehungskraft des europäischen Einigungswerkes. So wird etwa in Ungarn laut darüber nachgedacht, ob man nicht der EG beitreten solle; dies ist beispielhaft für eine Entwicklung, die noch vor wenigen Jahren völlig undenkbar gewesen wäre.
Die Europäische Gemeinschaft wird so mehr und mehr zu einem Kristallisationspunkt für das Europa der Freiheit - und gerade in diesen Monaten erleben wir, wie der fortschreitende Prozess der europäischen Einigung auch in den Staaten des Warschauer Pakts Eindruck macht. Es wächst dort das Bewusstsein, dass alte, verkrustete Strukturen aufgebrochen werden müssen, um Wege in eine bessere Zukunft zu eröffnen.
Indem wir uns in der Europäischen Gemeinschaft immer enger zusammenschließen, handeln wir also auch im Interesse der Menschen im anderen Teil unseres Kontinents - und damit auch unseres Vaterlandes - sowie in der Hoffnung, dass sie eines Tages in freier Selbstbestimmung dieses Werk des Friedens werden mit gestalten können.

IV.

Gerade wir Deutsche müssen deshalb das größte Interesse daran haben, dass der europäische Einigungsprozess voranschreitet. Das heißt auch: Wir müssen zu Kompromissen bereit sein, wenn wir nicht die großen Chancen verspielen wollen, die sich uns gemeinsam eröffnen. Vergessen wir dabei nicht: Nur gemeinsam lassen sich die großen globalen Aufgaben lösen, mit denen wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten konfrontiert werden.
Ich erwähnte den Schutz unserer Umwelt. Die Schönheit und Vielfalt unserer Natur ist ein kostbares Gut, das es zu pflegen und zu bewahren gilt. Vor allem aber geht es darum, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten - für uns und für die kommenden Generationen. [...]
Ähnlich verhält es sich mit der Lösung des Nord-Süd-Konflikts. Ich sehe in diesem Problem eine der zentralen Herausforderungen an die Menschheit, dessen Brisanz vielleicht schon bald die des Ost-West-Konflikts überwölben könnte. Die Armut in den Ländern der Dritten Welt, Krankheiten, Hunger und Elend - sie dürfen uns schon aus mitmenschlicher Solidarität nicht gleichgültig lassen. Doch hier steht auch der Frieden, der soziale Frieden, der Völkergemeinschaft auf dem Spiel. [...]
Diese Beispiele zeigen, wie unsere Zukunft in immer stärkerem Maße mit der anderer Staaten verflochten ist. Internationales Zusammenwirken wird unter diesen Voraussetzungen zum Gebot der Stunde. Nach vierzig Jahren ist die Bundesrepublik Deutschland heute mehr denn je gefordert, ihre weltpolitische Verantwortung wahrzunehmen - ohne Besserwisserei, ohne Überheblichkeit und in enger Partnerschaft mit unseren Freunden im westlichen Bündnis.
Nutzen wir das Jubiläum unserer freiheitlichen Ordnung auch in dieser Hinsicht - indem wir darauf hinweisen, wie sich aus veränderten Bedingungen für die Bundesrepublik Deutschland auch international neue Herausforderungen, neue Pflichten ergeben. Sie verbinden sich mit unserem Auftrag, weltweit für Freiheit und Menschenwürde einzustehen - und nicht zuletzt diese besondere Verpflichtung ergibt sich aus unserer Geschichte.
Ich erwähnte bereits, dass sich in diesem Jahr auch der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum 50. Mal jährt - ein Anlass, an die schlimmen Taten zu erinnern, die von Deutschland ausgegangen sind und für die wir als Deutsche die historische Verantwortung tragen. In den Gedenktagen dieses Jahres werden so Licht und Schatten deutscher Geschichte in starkem Kontrast deutlich. Dieser Gegensatz schärft nicht nur das Bewusstsein dafür, dass wir ohne Wenn und Aber zu unserer gesamten Geschichte stehen müssen - dass sich niemand von uns einzelne Teile davon heraussuchen kann. Er enthält gleichzeitig die Mahnung, totalitärer Versuchung in jeder Form zu widerstehen.
Schließlich gibt er uns Kraft und Mut für die Zukunft. Indem wir an Krieg und Zerstörung erinnern, indem wir die Umstände nachzeichnen, unter denen unsere Republik geboren wurde, erfahren wir die Demokratie einmal mehr als kostbares Geschenk, das wir uns durch Bürgersinn, durch eigene Anstrengungen täglich neu erwerben müssen. Damit stärken wir das geistige und moralische Fundament unserer freiheitlichen Ordnung.
Wir wissen: Die Zustimmung zu unserer Demokratie hängt nicht zuletzt davon ab, dass die Bürger deren geschichtliche Wurzeln kennen - und die Entwicklung, die die Bundesrepublik Deutschland seit 1949 genommen hat. Wenn wir uns diese Entwicklung vergegenwärtigen, dann stellen wir fest: Unsere Ausgangsposition an der Schwelle zu den neunziger Jahren, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist gut - und gewiss unvergleichlich viel besser als die Lage vor vierzig Jahren. Im Gegensatz zu heute gab es damals wirklich Grund, pessimistisch in die Zukunft zu blicken - oder gar zu verzweifeln. Die Menschen von damals - diese großartige Generation der Väter und Mütter unserer Republik - haben sich indessen ihren Lebensmut nicht nehmen lassen, und dieGeschichte der letzten vierzig Jahre hat ihnen recht gegeben.
Dies sollte uns Ansporn sein, mit Zuversicht den Weg fortzusetzen, den uns die Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland gewiesen hat im leidenschaftlichen Bekenntnis zur Demokratie und im Bewusstsein unserer Verantwortung für die nachwachsenden Generationen.

Quelle: Redemanuskript. Bandesgeschäftsstelle der CDU.