18. Juni 1998

Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag zum Europäischen Rat in Cardiff am 15. und 16. Juni 1998

 

Frau Präsidentin,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Tagung des Europäischen Rats in Cardiff war eine wichtige Begegnung auf dem Weg zum weiteren Ausbau des Hauses Europa. Nach den Beschlüssen zur Erweiterung der Europäischen Union und zur Einführung des Euro haben wir in Cardiff eine Zwischenbilanz gezogen und vor allem über den weiteren Kurs auf dem Weg nach Europa diskutiert. Wesentliche Fragen der europäischen Tagesordnung waren zu behandeln:

Erstens haben wir intensiv über die Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschäftigung gesprochen.

Zweitens haben wir eine erste und ausführliche Aussprache zwischen den Staats- und Regierungschefs über die künftige Ausrichtung und Gestaltung der Europäischen Union gehabt. Dies wurde nicht zuletzt durch den gemeinsamen Brief von Staatspräsident Jacques Chirac und mir angeregt.

Drittens haben wir ausführlich über die anstehende Fortentwicklung der europäischen Strukturpolitik, der Agrarpolitik und der Finanzen gesprochen. Dies alles verbirgt sich ja hinter dem Begriff ,,Agenda 2000". Grundlage der Beratungen war ein erster Zwischenbericht der britischen Präsidentschaft und des Rates. Es konnte dabei nicht um konkrete Entscheidungen gehen. Da die Kommission ihre Vorschläge zu einer künftigen Finanzwirtschaft erst im Spätherbst vorlegen wird, konnten die Gespräche nur als Zwischengespräche verstanden werden. Wichtig ist, daß wir jetzt einen Zeitplan für das weitere Vorgehen vereinbart haben.

Viertens haben wir eine Zwischenbilanz über den Stand des Erweiterungsprozesses gezogen.

Fünftens wurden gerade in der jetzigen Situation wichtige Themen der internationalen Politik besprochen, vor allem auch die Krise mit ihren bürgerkriegsähnlichen Entwicklungen im Kosovo.

Sechstens haben wir Berichte zu wichtigen Themen - Organisierte Kriminalität, Drogen und Umwelt - entgegengenommen.

Meine Damen und Herren, zu den besonders wichtigen Themen in Cardiff gehörte natürlich die Erörterung der wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Fragen. Die umfassende Debatte zu diesem Thema hat auch gezeigt, daß wir uns in Deutschland bei nahezu allen wichtigen Kennzahlen der Wirtschaftsentwicklung im Vergleich zu den EU-Mitgliedsstaaten wiederum in die Spitzengruppe vorgearbeitet haben. Was besonders erfreulich ist: Diese Daten zeigen ja auch, daß diese Aufwärtsentwicklung weitergeht.

Das gilt ebenfalls für den schwierigen Bereich des Arbeitsmarktes. Allein in den letzten drei Monaten ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland um über 600000 zurückgegangen. Damit wird deutlich, daß wir das ins Auge gefaßte Ziel für dieses Jahr erreichen können. Besonders kräftig ist die Arbeitslosigkeit in den alten Bundesländern gesunken. Auch am ostdeutschen Arbeitsmarkt gibt es eine Erholung, aber sie geht leider sehr viel langsamer vonstatten. Die Normalisierung im Baubereich wird in den neuen Ländern durch die dynamische Entwicklung vor allem in der Industrie zunehmend kompensiert.

In dieser Woche hat das Statistische Bundesamt mitgeteilt, daß die Zahl der Beschäftigten in den ostdeutschen Industriebetrieben im April dieses Jahres erstmals seit 1991 wieder gestiegen ist. Das ist eine höchst erfreuliche Feststellung.

Es ist unübersehbar - das ist auch in der Diskussion in Cardiff deutlich geworden und anerkannt worden -: Der Wirtschaftsaufschwung in Deutschland gewinnt weiter an Fahrt. Das ist für EU-Europa von ganz großer Bedeutung. Dabei ist es besonders erfreulich, daß zusätzlich zur dynamischen Auslandsnachfrage, zum Export, inzwischen der Investitionsmotor ebenfalls angesprungen ist. Damit erhält der Aufschwung endlich ein zweites Standbein.

Alle Prognosen der nationalen wie der internationalen Institutionen - dies sagt nicht zuletzt auch die Europäische Kommission - bestätigen, daß wir in Deutschland in diesem Jahr ein Wachstum in der Größenordnung von über 2,5 bis in die Nähe von 3 Prozent erreichen werden. Das ist eine höchst positive Entwicklung. Hierzu wird das Wachstum von 3,8 Prozent im ersten Vierteljahr beitragen. Es ist das höchste Wachstum seit der Wiedervereinigung. Darüber können wir uns ganz besonders freuen.

Auch im europäischen Vergleich kommen wir beim Abbau der Arbeitslosigkeit voran. Dies ändert natürlich überhaupt nichts an der Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit überall in Europa nach wie vor zu hoch ist und daß dies die große Herausforderung für die Europäische Union bedeutet. Die Europäische Kommission erwartet auf der Grundlage von Zahlen des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften für Deutschland in diesem Jahr eine Arbeitslosenquote von unter 10 Prozent - genau 9,8 Prozent. Dabei ist es wichtig, in diesem Hause einmal darauf hinzuweisen, wie die Zahlen in anderen Ländern aussehen.

Ich nenne die Vergleichszahlen: Für Frankreich erwartet die EU-Kommission in diesem Jahr eine Arbeitslosenquote in Höhe von 11,9 Prozent, für Italien von 12 Prozent, für Spanien von 19,7 Prozent und für Großbritannien eine Arbeitslosenquote in der Größenordnung von 6,6 Prozent. Sie wissen, daß für Großbritannien vor einem Jahr - aus einem anderen Anlaß - eine Größenordnung von über 7 Prozent erwartet wurde.

Besonders eindeutig fällt der Vergleich mit unseren Nachbarn in bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit aus. Die Quote lag im April 1998 in Deutschland bei 10,8 Prozent und war damit nur halb so hoch wie der Durchschnitt der Europäischen Union mit 21,9 Prozent. Diese 10,8 Prozent sind natürlich noch viel zu hoch; darüber kann es keinen Zweifel geben. Aber trotzdem ist es eine sehr beachtenswerte Zahl - gerade im Vergleich zu anderen Ländern. Selbstverständlich geben wir uns mit dieser Zahl nicht zufrieden.

Aber wenn man nun die Lage in Deutschland betrachtet, ist es schon sinnvoll, einmal darauf hinzuweisen, daß die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern auch etwas über die regionale Strukturpolitik und deren Erfolge aussagen. Ich habe mit großem Interesse die Regierungserklärung des gerade neugewählten Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und die Ankündigung der notwendigen Reformen zur Kenntnis genommen. In diesem Zusammenhang frage ich mich schon, warum man damit im Vergleich zu anderen Bundesländern so lange gewartet hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Westerwelle! Neuland! Dazu können wir mal Guido zitieren!)

- Ich glaube nicht, Herr Abgeordneter Fischer, daß Sie zu diesem Thema jemals etwas beigetragen haben. Zwischenrufe sind so ziemlich das einzige, was Sie dazu beitragen können.

Meine Damen und Herren von der SPD, die Zahlen sprechen für sich; Sie müssen sie schon ertragen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Niedersachsen bei 11,2 Prozent, in Nordrhein-Westfalen bei 11,3 Prozent und im Saarland bei 11,4 Prozent; das ist die Trilogie, die Sie vorweisen können. In Baden-Württemberg liegt sie dagegen bei 6,6 Prozent und in Bayern bei 5,9 Prozent. Wenn man berücksichtigt, daß die gleichen Gesetzmäßigkeiten und Grundbedingungen in der ganzen Bundesrepublik gelten, stellt sich schon die Frage - wenn wir auf den Vergleich mit anderen Ländern in Europa angesprochen werden -, was die Landesregierung in Niedersachsen in diesen ganzen Jahren getan hat und was die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen getan hat. Was die Landesregierung im Saarland getan hat, das wissen wir aus langer Erfahrung. Das ist so bekannt, daß man es nicht kommentieren muß.

Tatsache ist, daß es für den neugewählten Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen viel zu tun gibt, wenn er und seine Landesregierung die Erfolge von Baden-Württemberg und Bayern wenigstens annähernd erzielen wollen. Das ist ein Weg, den zu gehen ich ihn ausdrücklich ermutigen will.

Meine Damen und Herren, auch bei der Diskussion um das, was wir voneinander übernehmen können - gerade bei dem Thema Jugendarbeitslosigkeit -, haben wir viel Grund, noch einmal darauf zu verweisen, wie wichtig es ist, daß wir das duale System der Berufsausbildung beibehalten und daß wir diese Fragen in einer freiheitlichen Ordnung regeln und nicht zu einer Ausbildungsabgabe kommen. Das ist mit großer Deutlichkeit gesagt worden.

Für uns Deutsche ist bei dieser Debatte wichtig, daß ein Vorgang, der uns in unserem Lande große Sorgen machen muß, auch in den europäischen Nachbarländern zu beobachten ist. Es handelt sich um das Problem für ältere Arbeitnehmer, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen und einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Ich bleibe dabei, daß das eine der Herausforderungen ist, die uns mit am meisten beschäftigen muß. Es ist unerträglich, daß jemandem, der 50 oder 51 Jahre alt ist, mitgeteilt wird, er sei für eine neue Verwendung zu alt. Ich glaube, daß insoweit eine soziale Herausforderung besteht, die außerordentlich wichtig ist. Wir haben in den beschäftigungspolitischen Leitlinien festgelegt, daß gerade diese Frage im europäischen Kontext besonders intensiv bearbeitet werden muß.

Meine Damen und Herren, auch die anderen wirtschaftlichen Grunddaten sind in Deutschland so gut wie seit langem nicht. Im Mai dieses Jahres betrug der Preisanstieg in Deutschland trotz der vorangegangenen Erhöhung der Mehrwertsteuer nur 1,3 Prozent. Ich betone das, weil wir bei der Diskussion um die Erhöhung der Mehrwertsteuer hören mußten, welche katastrophalen Preisentwicklungen uns ins Haus stehen würden. Jetzt verzeichnen wir einen Preisanstieg in einer Größenordnung, der auch im europäischen Vergleich eine Spitzenposition darstellt.

Für uns ist die Preisstabilität vor allem als Teil der Sozialpolitik wichtig. Gerade Rentner, Bezieher geringerer Einkommen und Sparer sind ganz besonders darauf angewiesen, daß ihr Geld seinen Wert behält. Im übrigen ist Preisstabilität ein wichtiger Teil einer guten Konjunkturpolitik. Auf unsere Verhältnisse bezogen bedeutet ein Prozentpunkt weniger Inflation einen Kaufkraftgewinn von rund 18 Milliarden D-Mark pro Jahr. Deswegen ist es eine ganz wichtige soziale Tat, wenn wir bei der Preisstabilität auf dieser Linie weiter vorankommen.

Noch etwas ist von großer Bedeutung: Die langfristigen Zinsen sind in Deutschland im Moment auf dem niedrigsten Niveau seit über drei Jahrzehnten. Das ist die beste Voraussetzung für arbeitsplatzschaffende Investitionen - übrigens nicht zuletzt im Wohnungsbau. Dazu will ich Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Wer heute ein Eigenheim baut, bekommt sein Baugeld für zehn Jahre zu Zinsen von unter 6 Prozent. Da jetzt oft der Zeitraum 16 Jahre genannt wird, will ich einmal darauf hinweisen, daß der Zinssatz vor 16 Jahren statt 6 Prozent 10 Prozent betrug. Das heißt ganz konkret: Ein Baudarlehen von 200000 D-Mark kostete damals 1670 D-Mark im Monat, und heute sind es 1000 D-Mark. Das sind nur 60 Prozent im Vergleich zu den Kosten von 1982. Ich finde, das ist eine imponierende Leistung im sozialen Bereich und fördert die Entwicklung zu Eigentum in unserem Land.

Meine Damen und Herren, all das war nur durch viel Arbeit und durch viel gemeinsames Tun möglich. Dabei ist eines vor allem wichtig: Unsere Reformen und Veränderungen tragen Früchte. Die Bundesregierung hat - wie jeder in diesem Haus weiß - diese Reformen in diesen Jahren gemeinsam mit der Koalition gegen zum Teil erbitterte Widerstände durchgesetzt. Wenn Sie noch einmal überlegen, wieviel Zeit und Kraft notwendig waren, um die Privatisierung der Post, die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes und vieles andere auf den Weg zu bringen, dann wissen Sie, wie richtig diese Bemerkung ist. Diese Reformen haben zu Unternehmensneugründungen geführt. Damit sind zusätzliche Impulse für neue Arbeitsplätze in diesem wichtigen Zukunftssektor geschaffen worden.

Der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Santer, hat bei der Tagung in Cardiff darauf hingewiesen, daß die Beschäftigtenzahl allein im Telekommunikationsbereich im Gebiet der Europäischen Union um jährlich 8 Prozent zunimmt. So kann jeder erkennen, daß die notwendigen Schritte auch gute Früchte tragen.

Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Fortsetzung der Gesundheitsreform, die seit 1. Juli 1997 in Kraft ist, und die Rentenreform, die 1999 in Kraft treten wird. Beides sind Entscheidungen, die dazu beitragen, daß der Anstieg der zu hohen Lohnzusatzkosten, die auf Arbeitsplätzen lasten und den Arbeitsmarkt belasten, dauerhaft begrenzt wird. Einige Krankenkassen - ich will das hier feststellen - haben inzwischen Beitragssenkungen angekündigt. Ich halte all dies für gute Signale für mehr Beschäftigung in Deutschland. Wer in diesen Tagen und Monaten diese Reformen, die - das erkennt jeder - überfällig sind, und diese Veränderungen, die notwendig sind, auf Grund von Wahlversprechen wieder rückgängig machen will, der zerstört Aufschwung und Arbeitsplätze.

Um unsere Ziele zu erreichen, müssen wir insbesondere alles tun, um unseren Standort Deutschland in der veränderten Welt für in- und ausländische Investoren attraktiver zu machen. Ich glaube, daß unsere Chancen gut sind. Wenn Sie die Entwicklung gerade in diesen Tagen - vielleicht sogar in diesen Stunden in Asien, nicht zuletzt in Japan - beobachten, dann sehen Sie, daß Deutschland ein Standort von hoher Qualität ist. Wir sollten das auch nach außen deutlich machen. Wir müssen alles tun, um unseren Sozialstaat finanzierbar zu halten, damit auch in Zukunft Wohlstand und soziale Sicherheit gewährleistet werden. Um es einfach zu sagen: Die Bundesregierung und die Koalition von CDU/CSU und FDP stehen dafür ein, daß der eingeschlagene Weg für mehr Beschäftigung und damit für die Sicherung der Zukunft fortgesetzt wird. Auf diesem Weg sind fünf konkrete Schwerpunkte zu berücksichtigen:

Erstens: Die große Steuerreform - im Sinne der Vorlage, die gemeinsam erarbeitet wurde und die der Bundestag im übrigen beschlossen hat -, ist überfällig; sie muß endlich durchgesetzt werden. Die täglichen Erfahrungen, die wir in Bonn und anderswo in Gesprächen mit ausländischen Investoren, vor allem auch mit Investoren aus dem Dollarbereich, machen, zeigen uns, daß die Besteuerung in unserem Land eines der entscheidenden Hindernisse für Investitionen ist. In vielen Gesprächen, die ich führe, höre ich immer wieder, daß nahezu alle Daten bei uns als erstklassig anerkannt werden: der Gemeinsinn, das Trachten und das Mittun der Arbeitnehmerschaft, der hohe Ausbildungsstandard, die Infrastruktur und vieles andere. Am Ende der Gespräche wird mir dann aber immer die Frage nach der Steuerhöhe gestellt. Die Verschleppung der Steuerreform, die jetzt im besten Falle zum 1. Januar 2000 in Kraft treten kann, hat uns - mit allen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt - ungeheuer geschadet.

Da es in diesen Tagen üblich ist, vor allem den Vergleich mit Großbritannien anzustellen, will auch ich das tun. Die Briten haben in ihrem Steuersystem ganz bewußt Investitionen besonders schonend behandelt. Das hat nicht nur die letzte konservative Regierung unter John Major getan; vielmehr tut es auch die New-Labour-Regierung. Auch das ist interessant. Diese Regierung hat bis jetzt nichts getan, um Investitionen zurückzuschrauben; vielmehr tut sie - dies zeigt sich auch bei den aktuellen steuerpolitischen Diskussionen in London - alles, um weitere Investitionen zu ermöglichen. Das Ergebnis ist eindrucksvoll: In den letzten Jahren wurde aus dem Dollargebiet in Großbritannien fast achtmal mehr investiert als bei uns in Deutschland. Wir brauchen in den neuen Ländern jeden Dollar und jede Mark für neue Investitionen. Durch Ihre Blockadepolitik wird das gestoppt und verhindert. Ohne ein international wirklich wettbewerbsfähiges Steuersystem können wir unsere Ziele nicht erreichen. Deswegen bleibt unser Steuerkonzept richtig und muß durchgesetzt werden.

Meine Damen und Herren, wenn der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen auch nur einen Teil dessen, was er gestern zugesagt hat, durchsetzen will, kann er jetzt schon sagen, daß er im Bundesrat für die große Steuerreform stimmt. Das ist die entscheidende Voraussetzung auch für sein eigenes Land.

Zweitens: Natürlich muß auch angesichts der demographischen Entwicklung in unserem Land die Arbeit an der Rentenreform fortgesetzt werden. Niemand will eine Politik zu Lasten der Rentner. Aber so, wie wir Verantwortung für die Rentner und die ältere Generation tragen, tragen wir ebenfalls Verantwortung für die nachfolgende Generation, der man nicht die ganze Last der Folgen der demographischen Entwicklung aufbürden kann. Deshalb ist es absolut zwingend, die umlagefinanzierte Altersversorgung stärker durch eine kapitalgedeckte, eigenverantwortliche Vorsorge zu ergänzen. Wenn wir das machen wollen - wir müssen es machen -, dann müssen wir den Jungen auch zusagen, daß ihre Eigenleistungen im Rahmen der Steuerreform steuerlich berücksichtigt werden. Beides gehört zusammen: Renten- und Steuerreform.

Drittens: Für die wirtschaftliche Entwicklung ist es entscheidend, daß wir eine neue Gründerwelle auf den Weg bringen. Nur so erreichen wir dauerhafte Beschäftigung. Wir haben deshalb die Startchancen für Existenzgründer und junge Unternehmer nachhaltig verbessert - zum Beispiel den Zugang zu Wagniskapital im Zuge des Dritten Finanzmarktförderungsgesetzes.

Allein 1997 haben sich 530000 Menschen in Deutschland wirtschaftlich selbständig gemacht. Das ist die höchste Zahl seit der Wiedervereinigung. Dabei weiß ich so gut wie Sie, daß es neben diesen Neugründungen auch eine ganze Reihe von Schließungen gegeben hat. Aber für uns ist es entscheidend, daß bei einem Vergleich dieser Zahlen immer noch ein Überschuß von knapp 100000 zugunsten der Existenzgründungen zu verzeichnen ist. Wenn das Jahr für Jahr so geschehen würde, kämen wir auch auf diesem Wege voran.

Viertens: Wir müssen - auch das war in Cardiff ein Schwerpunktthema -, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und neue Arbeitsplätze zu schaffen, Verbesserungen im Bereich von Bildung und Ausbildung durchführen. Auf der Jahrestagung der Deutschen Forschungsgemeinschaft gestern wurde jedem, der dabei war, deutlich vor Augen geführt, was jetzt geschehen muß, damit wir fähig werden, die notwendigen Entscheidungen im Bereich der Hochschulen zu treffen. Das gilt aber auch allgemein für die Forschung und die Schulen. Wir brauchen die besten Schulen. Wir können dieses Ziel nur erreichen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, daß wir davon gegenwärtig noch ein gutes Stück entfernt sind. Das sollten wir uns alle selbstkritisch eingestehen; das gilt für den Bund und in besonders hohem Maße für die hierfür zuständigen Länder; das gilt unter Berücksichtigung der Vorbedingungen im Schulwesen auch für die Gemeinden. Deswegen ist es ganz sicher richtig, wenn ich sage: Die Reform des Bildungswesens ist eines der besonders wichtigen Themen der kommenden Jahre, wenn wir die Zukunft Deutschlands sichern wollen.

Mit dem Hochschulrahmengesetz haben wir einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung getan. Wir werden heute im Rahmen der Tagesordnung, wie wir zu Beginn der Sitzung gehört haben, hier im Bundestag den Einspruch des Bundesrates gegen dieses wichtige Gesetzesvorhaben zurückweisen. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich würde es begrüßen, wenn Sie endlich Ihren Widerstand aufgeben und die notwendigen Entscheidungen mit herbeiführen würden.

Im Bereich von Forschung und Technologie gibt es ebenfalls Gutes zu berichten. Bei den Weltmarktpatenten - diese bilden die wichtigste Gruppe aller Patente - nimmt Deutschland weltweit wieder Platz eins ein. Die Zahl der Biotechnologieunternehmen in Deutschland hat sich in den letzten beiden Jahren vervierfacht. Wir müssen auf diesem Weg weiter vorankommen. Gerade die Diskussionen im Zusammenhang mit der Volksabstimmung in der Schweiz in diesem Bereich sollten jedem in Deutschland zeigen, wohin eine Blockadepolitik führt.

Fünftens: Ich will für die Bundesregierung und für die Koalition noch einmal betonen, daß für uns der Aufbau Ost auch in Zukunft absolute Priorität hat. Ich würde es sehr begrüßen, wenn auch von seiten der Sozialdemokraten dieser Satz einmal klar ausgesprochen und durch Taten bekräftigt würde.

Morgen wird in Schwerin die Gemeinsame Initiative für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland eine Zwischenbilanz ziehen. Wir haben die feste Absicht - und werden entsprechend handeln -, den Ausbau der Infrastruktur und die Förderung der Investitionen in den neuen Ländern auf hohem Niveau fortzusetzen. Dazu gehört natürlich ebenfalls, daß auch die Tarifpartner ihren Beitrag zum Beschäftigungsaufbau leisten und daß die Tarife moderat und flexibel gestaltet werden.

Auf der Tagesordnung in Cardiff stand mit der Agenda 2000 ein weiterer wichtiger Punkt, der für die Fortentwicklung der Europäischen Union von großer Bedeutung ist. Es geht darum, der Europäischen Union die innere Stabilität und die notwendigen Mittel zu geben, damit sie auch nach einer Erweiterung im nächsten Jahrhundert ihre Aufgaben erfüllen kann. Wir haben dabei klargemacht, daß sich die Europäische Union auch in diesen Fragen an den Grundsätzen von Sparsamkeit und Effizienz, Solidarität und fairer Lastenteilung orientieren muß. Wir haben zu diesen Fragen eine erste Aussprache gehabt; denn beim derzeitigen Stand der Arbeiten war - das war auch nicht anders geplant - noch keine Entscheidung in der Sache möglich.

Die Europäische Kommission hat durch ihren Präsidenten Santer zugesagt, daß sie den wichtigen Bericht über das künftige Eigenmittelsystem, der die Grundlage der Debatte bildet, Ende Oktober/Anfang November dieses Jahres vorlegen wird. Ich habe - wie auch andere Kollegen - keinen Zweifel daran gelassen, daß über die einzelnen Aspekte der Agenda 2000 nur im Rahmen eines Gesamtpakets entschieden werden kann. Dazu muß man Kompromisse finden, die sich nur aus der Gesamtschau ergeben. Es ist beabsichtigt, die ersten konkreten Gespräche beim Europäischen Rat in Wien am 11. und 12. Dezember 1998 zu beginnen. Unter deutscher Präsidentschaft von Januar bis Ende Juni nächsten Jahres werden diese Fragen weiter zu diskutieren und zu entscheiden sein.

Es ist verabredet, daß die deutsche Präsidentschaft noch vor Ostern 1999, also etwa in der zweiten Märzhälfte, eine Sondertagung des Europäischen Rates einberufen wird. Dieser Zeitplan ergibt sich zwingend auf Grund anderer zeitlicher Vorgaben: Zum einen laufen die in Edinburgh 1992 verabredeten Regeln für die Finanzverfassung der Europäischen Union Ende 1999 aus. Das heißt: Noch vor Ende des Jahres 1999 muß der neue Finanzrahmen verabschiedet werden. Zum anderen findet die Wahl zum Europäischen Parlament zwischen dem 10. und 13. Juni des nächsten Jahres statt. Das ,,amtierende" Parlament muß aber die Agenda 2000 noch vor diesem Termin verabschieden. Die Lebenserfahrung zeigt, daß mindestens vier Wochen vor dem Wahltag das Parlament seine Sacharbeit einstellt, weil zu diesem Zeitpunkt schon der Wahlkampf läuft. Daraus folgt, daß der März 1999 der richtige Zeitpunkt für eine Sondertagung des Europäischen Rates ist.

Die Agenda 2000, über die im März nächsten Jahres entschieden werden soll, hat auch für die deutsche Politik eine enorme Bedeutung, weil der Finanzrahmen, der dann beschlossen wird, von 1999 bis 2006 gelten soll. Dabei werden Grunddaten für alle Bereiche der Politik in der Europäischen Union festgelegt. Deswegen ist es wichtig, daß die deutsche Präsidentschaft das Richtige tut, um das wohlverstandene Interesse Deutschlands durchzusetzen.

Wichtig ist auch, daß sich im Hinblick auf die künftige Finanzierung der Europäischen Union die große Mehrheit der Staats- und Regierungschefs in Cardiff dafür ausgesprochen hat, den derzeitigen Plafond der Eigenmittel von 1,27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auch im Rahmen der Erweiterung beizubehalten. Natürlich gibt es in dieser Frage auch andere Stimmen. Deutschland ist mit 28 Prozent größter Beitragszahler des EU-Haushalts und auch größter Nettozahler. Angesichts der wirtschaftlichen Lage in Europa und auch angesichts der Bedeutung unseres Landes, das hinsichtlich der Bevölkerungszahl das mit Abstand größte und hinsichtlich der Wirtschaftskraft das wichtigste Land Europas ist, ist diese Position verständlich und richtig. Und wir werden auch in Zukunft ein großer Nettozahler bleiben. Aber wir wollen angesichts der Gesamtentwicklung in Europa darauf dringen, daß auch andere begreifen, daß eine faire und gerechte Lastenteilung - auch im Interesse der deutschen Bürger - gefunden werden muß.

Viele europäische Länder haben in den letzten zwei Jahrzehnten im sozialen und wirtschaftlichen Bereich enorme Fortschritte gemacht. Der Beitritt zur Europäischen Union - man kann das so einfach sagen - war für diese Länder aus allgemeinpolitischen Gründen wichtig, und er hat sich auch gelohnt. Genau das wollten wir. Das entspricht unserer Intention bezüglich Europa.

Aber den Grundsatz der fairen Lastenteilung anzuerkennen ist das eine - die Frage, welche praktischen Konsequenzen daraus gezogen werden müssen, ist etwas ganz anderes. Dazu gab es in Cardiff unterschiedliche Auffassungen, was auch niemanden überraschen kann. - Bekanntlich gibt es ja, wenn Bund und Länder oder die Länder untereinander über Geld reden, auch ganz unterschiedliche Auffassungen. - So vertraten in Cardiff einige die Meinung, daß alle bisherigen Besitzstände erhalten bleiben müssen. Das ist eine relativ einfache Position. Dabei kann mit Blick auf die Erweiterung jeder erkennen, daß nicht alles so bleiben kann wie bisher.

Ich will hierzu noch eine andere Bemerkung machen: Für mich ist immer wieder interessant festzustellen, daß dann, wenn wir - Kollege Waigel, ich oder andere - über dieses Thema sprechen, sofort der Vorwurf erhoben wird, wir würden die deutschen Interessen zu entschieden oder - wie es auch heißt - zu radikal vertreten. Ich verstehe nicht, wie jemand einen solchen Vorwurf erheben kann. Auch unsere Partner verstehen das nicht. Ich habe in der Europäischen Union bisher noch niemanden getroffen, der nicht ganz selbstverständlich seine Interessen vertritt. Ich habe auch noch nie festgestellt, daß jemand sagt, daß seine Interessen nicht die wichtigsten seien. Das gehört zu meinen politischen Erfahrungen. Deswegen ist es unverständlich, daß man als antieuropäisch gesonnen bezeichnet wird, wenn man hinsichtlich der EU-Finanzierung - und es geht hier um beachtliche Beträge - seine Interessen vertritt.

Diese Bundesregierung und diese Koalition lassen sich in ihrer europäischen Überzeugung von niemandem übertreffen! Das war immer so, und das bleibt auch so. Ich glaube nicht, daß man seine europäische Überzeugung dadurch am besten vertritt, daß man die eigenen Interessen unterdrückt. Es geht darum, die deutschen Interessen mit denen unserer Freunde und Partner in Einklang zu bringen, damit das Ganze dem Fortschritt der europäischen Integration dienen kann.

Zu den Vorschlägen der Kommission zur Agrarpolitik hat die Bundesregierung bereits in der Erklärung des Kabinetts vom 18. März 1998 festgestellt, daß sie in wesentlichen Teilen den Erfordernissen der europäischen und den Notwendigkeiten der deutschen Landwirtschaft nicht gerecht werden. Deswegen müssen wir über dieses Thema intensiv miteinander sprechen. Es ist eines der schwierigsten Themen, weil die Ausgangspositionen in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich sind. Das hat mit den jeweiligen Bodenqualitäten, Größenordnungen, Strukturen und Traditionen in der Landwirtschaft zu tun.

Ich will noch einmal mit aller Entschiedenheit für die Bundesregierung erklären: Hier geht es nicht um ein engstirniges, kurzfristiges Eigeninteresse einer einzelnen Bevölkerungsgruppe, hier geht es vielmehr um ein Stück gelebte Solidarität mit der deutschen Landwirtschaft; denn ohne die Bauern auf ihren Höfen wird dieses Land keine gute Zukunft haben. Sie brauchen unsere Hilfe und unsere Unterstützung. Im übrigen konnte ich beim letzten Treffen der Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten unserer Bundesländer feststellen, daß ich in dieser Frage auch die einstimmige Unterstützung der 16 Bundesländer habe.

Meine Damen und Herren, ein anderes wichtiges Thema war der Reformbedarf bei der EU-Strukturpolitik. Die Bundesregierung begrüßt grundsätzlich die Ziele der Reform. Das gilt insbesondere für eine stärkere Konzentration der Mittel. Ich glaube aber auch, daß die jetzigen Vorschläge noch viele Diskussionen erfordern, um zu einem gerechten Interessenausgleich zu kommen. Übrigens ist die Forderung nach Veränderung besonders deutlich von den deutschen Bundesländern erhoben worden. Denn es kann nicht richtig sein - dies ist dem einen oder anderen Kollegen im Europäischen Rat leider schwer verständlich zu machen -, ein so bewährtes Instrument wie unsere regionale Strukturförderung durch Vorgaben der europäischen Ebene zu unterlaufen. Dies widerspräche eklatant dem Subsidiaritätsprinzip.

In der Europäischen Union leben zur Zeit rund 370 Millionen Menschen. Ich brauche hier nicht die völlig unterschiedlichen Traditionen, die Geschichte und die Strukturen der einzelnen Länder vorzutragen. Ich halte es für völlig ausgeschlossen - dies ist gegen den Sinn der föderalen Ordnung in Europa -, daß es möglich ist, zentral von Brüssel aus zu erkennen, welche Strukturpolitik für Mecklenburg-Vorpommern, für Lappland, für Sizilien und die Kanarischen Inseln richtig ist. Wenn wir diesen Weg gehen würden, würden wir eine Überbürokratisierung und einen europäischen Zentralismus schaffen, der für die Idee der europäischen Einigung tödlich wäre. Deswegen müssen wir hier etwas tun.

Ein ganz wichtiger Punkt der nächsten Monate im Zusammenhang mit der Agenda 2000 ist die Frage der Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Auch dies war in Cardiff ein zentrales Thema. Wir haben eingehend darüber gesprochen, als wir uns mit dem Stand und den künftigen Perspektiven der Europäischen Union befaßten. Nach den Beschlüssen zur Erweiterung der Europäischen Union, nach den Beschlüssen zur Einführung des Euro und vor allem auch vor dem Hintergrund der anstehenden Fragen ist dieses ein Thema von entscheidender Bedeutung.

Ich bin dem Vorsitzenden des Europäischen Rates, Premierminister Tony Blair, und auch den anderen Kollegen dankbar, daß sie die Anregungen von Präsident Jacques Chirac und mir aufgegriffen haben.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn Klaus Kinkel dazu?)

- Ihre Anregungen können sie ja nicht aufgreifen; denn Sie haben noch nie welche gemacht. Ihre Tätigkeit in diesem Haus hat tiefe Spuren hinterlassen. Die Diskussion hat gezeigt, daß in dieser Frage eine große Übereinstimmung besteht.

Der europäische Einigungsprozeß wird mit Sicherheit nur dann erfolgreich sein, wenn dieses Europa von den Menschen akzeptiert wird. Die Menschen müssen spüren, daß das Haus Europa für sie gebaut wird und daß es ein Haus der gemeinsamen Zukunft sein wird.

Wir müssen uns also folgenden Fragen stellen: Erstens: Wie kann eine erweiterte Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit nach innen und außen verbessern? Zweitens: Wie kann sie zugleich ihre demokratische Verankerung weiter stärken und ihre Bürgernähe verbessern? Jetzt, nach den Beschlüssen über den Euro und vielen anderen Entscheidungen, ist sicherlich der richtige Zeitpunkt gekommen, die notwendigen Gespräche zu führen und, falls erforderlich, auch Veränderungen vorzunehmen.

Das Ziel ist, auf einen einfachen Nenner gebracht, die Kompetenzen der Europäischen Union klarer und unter konsequenter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips gegenüber den kommunalen, regionalen - wir würden hier von Landesinteressen reden - und nationalen Zuständigkeiten abzugrenzen. Es geht hier also überhaupt nicht um die Änderung von Verträgen: weder um eine nachträgliche Änderung des Vertrages von Maastricht noch um eine Änderung des Vertrages von Amsterdam. Vielmehr geht es darum, daß das Protokoll des letzten Vertrages realisiert wird.

In diesem Zusammenhang muß ich Ihnen doch noch einmal sagen, daß dies nicht eine beliebige Frage ist. Der dänische Kollege hat in sehr eindrucksvoller Weise über den Diskussionsstand bei der Volksabstimmung in Dänemark berichtet und dargelegt, welche Fragen dort aufgeworfen wurden. Ich konnte feststellen, daß - ungeachtet der unterschiedlichen Sprachen - die Fragen in Dänemark genau die gleichen sind wie bei uns. Vor allem geht es ganz einfach darum, daß die Menschen Fragen nach ihrer Identität stellen: Bin ich ein Deutscher in Europa? Bleibt meine Identität bestehen?

Die großartige Formulierung von Thomas Mann ,,Ich bin ein deutscher Europäer und ein europäischer Deutscher" ist sicherlich die Richtschnur für den Weg, auf den wir uns begeben - zumal dann, wenn wir begreifen, daß das Gefühl für Heimat, die Zugehörigkeit zu einer überschaubaren Region heute zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Dieses Europa darf nicht fern von den Menschen sein, sondern die Menschen müssen sehen, daß in Brüssel oder Straßburg nur das entschieden wird, was man dort am besten entscheiden kann; daß im nationalen Bereich in Bonn - und später in Berlin - das entschieden wird, was dort für Deutschland am besten und bürgernah entschieden werden kann; und daß in den Landeshauptstädten, ob in München oder in Düsseldorf, das entschieden wird, was in Sachen Landespolitik am besten entschieden werden kann. Ich füge ausdrücklich hinzu: Ich wünsche mir, daß in diesen Dreiklang noch stärker als bisher die Gemeindeebene einbezogen wird, weil dort die Bürgernähe am besten gewährleistet werden kann.

Meine Damen und Herren, bei dieser Diskussion geht es überhaupt nicht darum, daß wir Stimmung gegen Brüssel machen oder gar die Richtung unserer bewährten Europapolitik ändern wollten. Aber es ist doch wahr, daß es Fehlentwicklungen, Überregulierungen und damit unnötige Bürokratie gegeben hat. Ich will von diesem Pult aus klar sagen: Es waren alle daran beteiligt - ich bin gegen eine einseitige Schuldzuweisung - : die Europäische Kommission genauso wie die Parlamente - das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente -, die Regierungen der Mitgliedstaaten und nicht zuletzt die große Zahl von wirtschaftlichen Interessenverbänden und Lobbys.

Wir sind also gemeinsam gefordert, und wir waren uns in Cardiff einig, daß die Staats- und Regierungschefs in dieser Frage eine sehr persönliche Verantwortung haben. Unser österreichischer Kollege hat in diesem Sinne angekündigt, daß er noch vor dem EU-Rat in Österreich, also Mitte der zweiten Jahreshälfte, zu einem informellen Treffen über dieses Thema einladen wird.

Meine Damen und Herren, alles deutet darauf hin, daß die deutsche Präsidentschaft in diesem Zusammenhang eine ganz große Bedeutung gewinnt. Kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament wird eine wichtige Kursbestimmung vorgenommen. Deswegen muß jeder in Deutschland wissen, daß auch bei der Wahl zum Deutschen Bundestag mit über die Kursbestimmung entschieden wird, die dann in Europa stattfindet.

Ich füge hinzu, daß diese Diskussion natürlich nur dann vorankommt, wenn wir gemeinsam das Ziel erreichen, den Vertrag von Amsterdam in diesem Jahr zu ratifizieren. In Cardiff ist sehr gewürdigt worden, daß die Bundesrepublik der erste Mitgliedstaat war, der die Ratifikationsurkunde am 7. Mai 1998 hinterlegt hat. Ich will mich übrigens bei dieser Gelegenheit noch einmal bei allen bedanken, die daran mitgewirkt haben. Es war für unsere Position in Europa sehr wichtig, daß wir die ersten waren. Andere Mitgliedstaaten tun sich sehr viel schwerer, die Ratifikation noch in diesem Jahr vorzunehmen.

Meine Damen und Herren, es gilt also, alles zu tun, um das Prinzip der Subsidiarität, wie es im Maastrichter Vertrag und im Protokoll zum Amsterdamer Vertrag festgelegt ist, mit Leben zu erfüllen. Da es viele falsche Vorstellungen von Subsidiarität gibt und viele über Dinge reden, die sie noch nicht einmal zur Kenntnis genommen haben, will ich Artikel 5 des Amsterdamer Vertrags zitieren. Dort heißt es:

In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.

Ich finde, das ist eine Definition, die jetzt mit Leben erfüllt werden muß, und zwar ohne jede Position der Gegnerschaft zu irgendeiner europäischen Institution.

Es gab und gibt Fehlentwicklungen, was auch niemand in Brüssel und Cardiff bestritten hat. Ich will nur ein Beispiel nennen: Brauchen wir wirklich eine Richtlinie über die Erhebung statistischer Daten im Bereich des Fremdenverkehrs, die die Einführung eines umfassenden Informationssystems in der Europäischen Union vorsieht? In dieser Richtlinie werden die Hoteliers verpflichtet, vierteljährlich Daten über die Anzahl der Betriebe, Zimmer und Betten, die Anzahl der Ankünfte und Übernachtungen Gebietsansässiger und Gebietsfremder mit geographischer Untergliederung sowie über die Kapazitätsauslastung zu liefern.

Meine Damen und Herren, ich habe dieses Beispiel gewählt, weil es ein besonders absurdes Beispiel ist. Es hilft keinem Menschen in Europa. Es nutzt gar nichts. Der Fremdenverkehr wird hierdurch behindert. Die Qualität der Gastronomie wird nicht erhöht, die Preise werden nicht gesenkt. Ich kann mir keinen Nutzen für irgend jemanden vorstellen.

Bei all diesen Fragen - auch das muß klar ausgesprochen werden - geht es uns überhaupt nicht um Renationalisierung. Wir müssen notwendige Reformen vornehmen, weil sich die Verhältnisse verändert haben. Es muß doch möglich sein, daß wir auf der europäischen Ebene prüfen und ohne jegliche Emotion sagen, was gut gelungen und was nicht gut gelungen ist. Es geht also um eine klare Abgrenzung der Aufgaben und zugleich um die Prüfung, ob die heutige Regelungsdichte wirklich den Erfordernissen der Zukunft entspricht.

Meine Damen und Herren, es gibt auch Bereiche, in denen wir ein Mehr an Integration brauchen. Die gemeinsame Währung wird mit Sicherheit die Notwendigkeit zu weiteren Gemeinschaftsregelungen verstärken. Das gilt in besonderem Maße - jeder spürt es doch in diesen Wochen - auch für den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Das enttäuschende Verhalten der Europäischen Union im Jugoslawien-Konflikt hat doch deutlich gemacht, daß wir hier ein stärkeres, wirkungsvolleres gemeinsames Vorgehen brauchen. Bis geschichtliche Erfahrungen in tägliche Entscheidungen einfließen, braucht es seine Zeit. Aber gerade in diesen Tagen der Auseinandersetzungen im Kosovo zeigt sich doch, daß Europa mit sehr viel größerer Kraft handlungsfähig sein muß. In diesem Sinne brauchen wir mehr Integration und Gemeinsamkeit in der Europäischen Union.

Ich sage dies auch - obwohl es manche nicht gern hören - für den Bereich der Innen- und Justizpolitik. Sie können aus dem in Cardiff vorgelegten Bericht ersehen: Die Bekämpfung der internationalen Kriminalität ist mit den bisherigen Mitteln allein nicht mehr zu bewerkstelligen.

Man brauchte kein Prophet zu sein, um zu erkennen, daß die Fragen des Asyls, der Immigration, der Zunahme der Gefährdung durch Drogen und internationale Kriminalität Schicksalsfragen in Europa sein werden. Hier hat Europa künftig eine besondere Aufgabe. Die Bürger werden dieses Europa auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, ob es auf diesen Feldern handlungsfähig ist. Deswegen müssen wir hierfür ohne Zweifel mehr tun als bisher.

Ein handlungsfähiges und bürgernahes Europa muß ein Europa sein, in dem die Vielfalt der politischen, kulturellen und regionalen Traditionen gewahrt wird. Diese Vielfalt ist eine Quelle der Kraft und Dynamik für das neue Europa. Deswegen müssen auch die Reformen der Institutionen energisch vorangetrieben werden. Wir haben in Amsterdam vereinbart, daß über die Größe und Struktur der Europäischen Kommission, die Gewichtung der Stimmen der Mitgliedstaaten und den verstärkten Gebrauch von Mehrheitsentscheidungen weiter diskutiert und entschieden werden muß. An diesen kurzen Bemerkungen läßt sich unschwer erkennen, welch eine Wucht der Auseinandersetzungen, auch der nationalen Interessen, sich hinter diesen Fragen verbirgt. Auch diese Entscheidungen stehen während der deutschen Präsidentschaft an. Deswegen ist es wichtig, daß all diese Fragen rechtzeitig vor dem Wahltermin des Europäischen Parlaments im Juni des nächsten Jahres positiv abgeschlossen und erledigt werden.

Meine Damen und Herren, wir alle sind dazu aufgerufen, als Parlamentarier in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unseren Beitrag dazu zu leisten, daß die Wählerinnen und Wähler Europas mit einer soliden, zukunftsweisenden Erfolgsbilanz für Europa gewonnen werden. Diese Wahl ist von großer Bedeutung für die Gestaltung Europas im neuen Jahrhundert.

Unsere Zukunft, die Zukunft des vereinten Deutschland, liegt mehr als die aller anderen Länder im vereinten Europa. Nur gemeinsam mit unseren Partnern und Freunden werden wir Frieden, Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherheit auf Dauer sichern können. Das kann nur gelingen, wenn wir das Haus Europa weiterbauen.

Dies gilt um so mehr im Blick auf die künftige Erweiterung der Europäischen Union. Wir waren uns einig, daß in den wenigen Monaten seit den Luxemburger Beschlüssen vom Dezember 1997 zur Einleitung des Erweiterungsprozesses auf diesem Weg schon viel geleistet worden ist. Ich will der Kommission, aber auch den Beitrittskandidaten von dieser Stelle aus ausdrücklich dafür danken, daß diese sehr schwierigen Verhandlungen mit sehr viel Geschick und auch zügig vorangebracht werden.

Dabei steht außer Frage - wir sind mit diesem Thema mitten in der deutschen Innenpolitik -, daß wir in einzelnen Fragen nicht ohne langfristige Übergangsregelungen auskommen werden. Ich denke hierbei beispielsweise an die zu Recht vieldiskutierte Frage der Freizügigkeit für Arbeitnehmer.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa ist eine entscheidende Frage für das künftige Gesicht Europas. Wir Deutschen müssen noch mehr als andere leidenschaftlich dafür eintreten und kämpfen, daß der frühere Eiserne Vorhang nicht durch eine neue sogenannte Wohlstandsmauer ersetzt wird. Polen und Ungarn gehören genauso zu Europa wie Spanien und Dänemark. Deswegen werden wir das Notwendige auf diesem Gebiet tun.

Die Konflikte der letzten Jahre auf dem Balkan haben uns vor Augen geführt, welche Bedeutung der europäische Integrationsprozeß für den Frieden auf unserem Kontinent hat. Wir haben uns in Cardiff notwendigerweise auch mit der Frage der Entwicklung im früheren Jugoslawien beschäftigt. Auf der Grundlage der Beratungen der Außenminister haben wir eine Erklärung der Staats- und Regierungschefs zur Lage im Kosovo verabschiedet. In ihr sind konkrete Forderungen formuliert. Ich will einige davon nennen: Beendigung der Operationen der Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung und Abzug der hierfür eingesetzten Einheiten; Ermöglichung wirksamer und ständiger internationaler Überwachung im Kosovo; Ermöglichung der Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre Heimat und des ungehinderten Zugangs für humanitäre Organisationen sowie ein möglichst rascher Fortschritt im Dialog mit der Führung der Kosovo-Albaner.

Meine Damen und Herren, für den Fall, daß diesen Forderungen nicht entsprochen wird, wurde ein umfangreicher Katalog von Maßnahmen in Aussicht genommen, von Maßnahmen, die auch ein militärisches Eingreifen einschließen. Wir begrüßen und unterstützen die Initiative Großbritanniens, hierzu ein Mandat des UN-Sicherheitsrats zu erreichen.

Meine Damen und Herren, bei den Gesprächen von Präsident Miloševic am 15. und 16. Juni in Moskau, die wir von unserer Seite sehr stark mit unterstützt haben - nicht zuletzt anläßlich des Besuches von Boris Jelzin letzte Woche bei uns in Bonn -, hat der jugoslawische Präsident in einer gemeinsamen Erklärung mit der russischen Regierung Verpflichtungen im Hinblick auf eine friedliche Lösung übernommen. Er selbst sagte, es seien klare Verpflichtungen.

Ich will zunächst einmal Präsident Jelzin für seine Initiative danken, aber ich will hier doch klar aussprechen, daß wir mit großem Interesse und nicht ohne Skepsis - auch das muß gesagt werden - abwarten, ob nun Präsident Miloševic seine Zusagen auch wirklich einhält. Wenn das Ganze nur zur Verschleppung dient, ist das eine völlig inakzeptable Position - wenn es so sein sollte. Wir werden alles aufmerksam beobachten, und wir müssen ihn an seinen Taten messen. Die täglichen Berichte von neuen Morden sind völlig unerträglich.

Ein vorrangiges Ziel der Staatengemeinschaft muß einfach sein, daß das Blutvergießen und die völlig unerträgliche Brutalität bei den Vorgängen im Kosovo beendet werden und daß die elementaren Menschen- und Minderheitenrechte endlich auch dort gewahrt werden.

Meine Damen und Herren, ungeachtet der Leiden der ganz unmittelbar betroffenen Bevölkerung ist auch die Feststellung angebracht - auch das habe ich in Cardiff gesagt -, daß unser Land, daß die Bundesrepublik Deutschland bei zunehmenden Flüchtlingsströmen mehr als alle anderen in Europa betroffen ist. Sicherlich ermöglicht dies einigen unserer Kollegen, die dort mit am Tisch sitzen, ein etwas distanzierteres Verhältnis zu dem Problem, weil sie dieses Problem nicht im eigenen Hause haben. Ich habe dort noch einmal darauf hingewiesen, daß wir aus unserer selbstverständlichen moralischen Pflicht und aus unserem Verständnis von Solidarität bereit waren, viele Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina aufzunehmen. Wir haben das aus gutem Grund getan. Denn wir wissen noch um die schlimmen Verhältnisse nach dem Zusammenbruch des Naziregimes und am Ende des Zweiten Weltkrieges, als wir Hilfe von anderen erhalten haben. Es hat etwas mit der moralischen Statur unseres Volkes zu tun, daß wir ungeachtet eigener Probleme bereit sind, anderen zu helfen.

Ich weiß - ich sage ganz offen, wie ich es empfinde -: Manche sind nicht erfreut, wenn man in diesem Zusammenhang darauf hinweist, daß der deutsche Steuerzahler in Bund, Ländern und Gemeinden für diese spezielle Hilfe fast 15 Milliarden D-Mark aufgebracht hat. Natürlich geht es hier nicht primär um diese finanzielle Seite, sondern um die moralische Pflicht, aber, meine Damen und Herren, ich habe auch gesagt: Wenn sich jetzt die Entwicklung im Kosovo so zuspitzt und an Stelle der über 200000 Bosnien-Flüchtlinge, die Gott sei Dank wieder in ihre Heimat zurückkehren konnten - wir hoffen, daß andere auch bald unter friedlichen Verhältnissen heimgehen können -, eine neue große Flüchtlingswelle bei uns ankommt, dann ist das eine Frage, die auch andere interessieren muß.

Wir können in Europa nicht die Arbeitsteilung haben: Für diese besonderen Herausforderungen sind vor allem die Deutschen und dann noch die Österreicher zuständig, und ansonsten schauen wir mit Gelassenheit in die Zukunft. Wir Deutschen stehen zu unserer moralischen Verpflichtung, aber ich muß schon darauf bestehen, daß man auch begreift, daß wir nicht allein eine europäische Last schultern können, sondern daß das eine gemeinsame Herausforderung für alle ist. Im übrigen war es die völlig einmütige Meinung, daß die politische Lösung der Krise im Kosovo nur auf der Basis einer Autonomie für den Kosovo möglich ist.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, nicht zuletzt der erneute Ausbruch von Gewalt und die kriegerische Entwicklung auf dem Balkan haben uns noch einmal ins Bewußtsein gerufen, was die eigentliche Zielsetzung, was die großartige Dimension des europäischen Einigungswerks ausmacht: Die Einigung Europas ist die beste, ja die einzig wirklich dauerhafte Garantie für Frieden und Freiheit in Europa im 21. Jahrhundert, nicht zuletzt und vor allem für die Deutschen. Die Sicherung von Frieden, Freiheit und Stabilität durch ein ganz enges Miteinander der europäischen Völker - das ist in Wahrheit der Kern des europäischen Gedankens.

Die Geschichte Europas hat sich in diesem Jahrhundert vom Schlimmen zum Guten gewendet. Wenn man sich in diesen Tagen an den 50. Geburtstag der D-Mark erinnert - das wird ja am kommenden Samstag der Fall sein - und sich noch einmal in Erinnerung ruft, wie das Land damals aussah, wie die Menschen lebten, wie die Verhältnisse waren, dann kann man mit Fug und Recht sagen: Es hat sich in diesen fünfzig Jahren auch für uns Deutsche - schon gar in dem letzten Jahrzehnt mit der Deutschen Einheit - vom Schlimmen zum Guten gewendet, erst im Westen und dann auch im Osten. Dies wäre nicht möglich gewesen ohne den Aufbruch gleich nach dem Krieg zum Bau des Hauses Europa.

Deshalb ist es wichtig, daß wir, ungeachtet aller Auseinandersetzungen im Bereich der Innenpolitik - die manchmal sein müssen und manchmal auch nicht -, gemeinsam mit ganzer Kraft für die Einigung Europas arbeiten. Wir wollen und wir werden das Haus Europa bauen als die Friedens- und Freiheitsordnung des 21. Jahrhunderts, als die gemeinsame Heimat kommender Generationen in Europa.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 44. 22. Juni 1998.