18. März 1996

Rede anlässlich der offiziellen Inbetriebnahme einer neuen Zeitungs-Rotationsanlage der Druck- und Pressehaus Naumann GmbH in Gelnhausen

 

Sehr geehrter Herr Naumann,
liebe Familie Naumann,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
lieber Herr Kanther,
meine sehr verehrten Damen und Herren und
vor allem auch: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

I.

gerne bin ich der Einladung gefolgt, heute gemeinsam mit Ihnen die neue Zeitungs-Rotationsanlage offiziell in Betrieb zu nehmen. Dies ist ein wichtiger Tag insbesondere für Sie, verehrte Familie Naumann, aber auch für die Stadt und die Region. Dazu möchte ich herzlich gratulieren. Sie haben mehrere Millionen DM in modernste Technik investiert. Besonders erfreulich ist, daß dabei 20 zusätzliche, moderne Arbeitsplätze geschaffen wurden.

Zugleich ist dies eine gute Gelegenheit, die große Bedeutung des selbständigen Mittelstandes in unserem Land hervorzuheben. Gerade in wirtschaftlich schwieriger Zeit brauchen wir Unternehmer mit neuen Ideen, Wagemut und der Entschlossenheit, sich trotz mancher Probleme und Ängste durchzusetzen. Der Mittelstand ist der Inbegriff von Leistung, lebendigem Wettbewerb und gesellschaftlicher Verantwortung. Er ist Eckpfeiler unserer freiheitlichen Grundordnung und Herzstück unserer Sozialen Marktwirtschaft. Die fast 30jährige Unternehmensgeschichte des Druck- und Pressehauses Naumann von der Ein-Mann-Druckerei zu einem modernen Verlag ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel.

Die dynamische Entwicklung des Druck- und Pressehauses Naumann zeigt nicht zuletzt, daß der deutsche Mittelstand auch im Medienbereich wettbewerbsfähig ist. Dies ist heute ­ auf dem Weg in die Informationsgesellschaft ­ um so bedeutsamer. Informationen werden immer zahlreicher, umfäng-licher und für den Normalbürger oft genug immer schwerer verständlich. Sie werden immer rascher übermittelt und immer flüchtiger wahrgenommen. Viele Informationen sind weltweit zeitgleich verfügbar.

Diese Entwicklungen eröffnen unbestritten große Chancen. Man muß aber darauf hinweisen, daß mit der Schnellebigkeit und der Fülle von Informationen auch Risiken verbunden sind. Es ist die wichtigste Aufgabe von Zeitungen, Ursachen und Hintergründe durch abgewogenes Erklären und das Einbetten von Ereignissen in Gesamtzusammenhänge auszuleuchten und zu kommentieren. Zeitungen ermöglichen es, daß man wichtigen Meldungen auch dann Aufmerksamkeit schenkt, wenn sie in der Informationsflut untergegangen, aus den Tagesnachrichten von Fernsehen oder Radio bereits verschwunden sind ­ oder darin gar nicht erwähnt wurden. Dies gilt um so mehr für lokale Nachrichten.

Gelegentlich wird die Meinung vertreten, das gedruckte Wort habe mit den neuen Möglichkeiten der Informationsgesellschaft seinen Sinn verloren und deshalb keinen Platz mehr. Ich teile diese Auffassung nicht. Printmedien und elektronische Medien ergänzen einander. Ich bleibe dabei, was ich in den vergangenen Jahren stets mit Überzeugung vertreten habe: Zeitungen haben auch in Zukunft ihren festen Platz in der Medienlandschaft. Ihre eigene Zeitung, sehr geehrter Herr Naumann, die gerade erst zehn Jahre junge Gelnhäuser Neue Zeitung, ist dafür ein gutes Beispiel. Mit der Investition in die neue Zeitungs-Rotationsanlage ist deshalb das Druck- und Pressehaus Naumann auf die künftigen Herausforderungen des Zeitungsmarktes gut vorbereitet. Dies ist zugleich ein Stück Zukunftssicherung für unser Land.

II.

Meine Damen und Herren, die Grundsatzfrage, die wir uns heute stellen müssen, lautet: Wo stehen wir, die Deutschen, heute? Wie schaffen wir, wie sichern wir die Zukunft? Zentrale Aufgabe für uns alle ist es, wenige Jahre vor dem Beginn des 21. Jahrhunderts die Chancen für eine gute Zukunft zu ergreifen. Dazu ist es notwendig, eine sachliche und redliche Standortdebatte zu führen und eine nüchterne Bilanz unserer Stärken und Schwächen zu ziehen. Es gibt überhaupt keinen Anlaß, den Standort Deutschland schlechtzureden, wie ich das gelegentlich beobachte. Wer das macht, schreckt ausländische Investoren ab, schafft keinen einzigen Arbeitsplatz und schadet in Wahrheit unseren gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen.

Deutschland hat unbestreitbare Stärken. Wir haben eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit vielen leistungsfähigen kleinen und mittleren Unternehmen. Die Arbeitnehmer in Deutschland sind hochqualifiziert. Das deutsche duale Berufsausbildungssystem genießt weltweite Anerkennung. Seine Leistungsfähigkeit schlägt sich nicht zuletzt in einer vergleichsweise geringen Jugendarbeitslosigkeit nieder. Diese ist in Deutschland mit rund 8 Prozent immer noch hoch, aber doch deutlich niedriger als in fast allen anderen Ländern der Europäischen Union. So liegt beispielsweise die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien bei rund 38 Prozent und im Durchschnitt der Europäischen Union bei etwa 20 Prozent.

Deutschland hat darüber hinaus eine gute öffentliche Infrastruktur, und wir haben trotz aller Probleme eine wirtschaftliche und soziale Stabilität, um die uns viele in Europa beneiden. Deutsche Erzeugnisse sind auf den Weltmärkten gefragt. 1995 ist das Jahr mit dem höchsten Überschuß im deutschen Außenhandel seit 1990. Viele Unternehmen, zum Beispiel in der Chemieindustrie, haben im vergangenen Jahr glänzende Geschäftsergebnisse erzielt. Und wir haben eine stabile D-Mark. Die Inflationsrate ist mit 1,5 Prozent auf einem Tiefstand. Es gibt bei allen Sorgen daher keinen Anlaß zu Pessimismus und Selbstmitleid in Deutschland.

Nüchtern Bilanz zu ziehen heißt natürlich auch, daß wir die tiefgreifenden Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung und die Globalisierung der Märkte noch stärker zur Kenntnis nehmen müssen. Die zunehmende internationale Verflechtung bedeutet für uns mehr Marktchancen, aber eben auch mehr Wettbewerb. Immer mehr Länder Asiens entwickeln sich in atemberaubendem Tempo zu starken Konkurrenten auf den Weltmärkten. Ich habe mich vor etwa zwei Wochen bei dem europäisch-asiatischen Gipfeltreffen in Bangkok davon zum wiederholten Mal überzeugen können. Wir haben auch neue Wettbewerber direkt vor der eigenen Haustür in Mittel- und Osteuropa. Es liegt in unserem eigenen Interesse, daß bei unseren Nachbarn im Osten nach der bedrückenden Zeit des Kommunismus jetzt Demokratie, Rechtsstaat, marktwirtschaftliche Ordnung und soziale Stabilität verwirklicht werden. Die Alternative wäre ein Rückfall in die Zeit des Kalten Krieges mit neuen Milliardenaufwendung für Rüstung und Nachrüstung.

Unsere Antwort auf die neuen Herausforderungen darf nicht Abschotten und Einigeln heißen. Dies wäre der Weg in die protektionistische Sackgasse. Wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit steigern. Wir müssen größere Flexibilität zeigen und der Konkurrenz mit neuen Ideen und besseren Produkten begegnen. Die Zeit ist ­ gerade auch angesichts der zahlreichen Urlaubstage in Deutschland ­ nicht dazu angetan, bei uns über mehr Freizeit nachzudenken, sondern über die Sicherung unserer Zukunft.

III.

Meine Damen und Herren, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist Herausforderung Nummer 1 in Deutschland. Für das Schaffen neuer Arbeitsplätze in ausreichender Zahl reicht es nicht, auf die konjunkturelle Besserung zu warten. Richtig ist: Die Konjunktur wird wieder Fahrt aufnehmen. Die Aufschwungkräfte dürfen nicht zerredet werden. Notwendig aber sind vor allem strukturelle Veränderungen. Ich habe keine Zweifel, daß wir dafür die Kraft haben werden. Zur Resignation besteht kein Anlaß. Zwischen 1983 und 1992 sind schon einmal mehr als drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in den alten Ländern geschaffen worden. Dies war möglich durch eine moderate Lohnpolitik und einen konsequenten Sparkurs bei den öffentlichen Haushalten. Beides brauchen wir heute wieder.

Das zwischen Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften am 23. Januar 1996 verabredete "Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" ist hierfür ein wichtiges Signal. Das Bündnis ist eine gute gemeinsame Grundlage für das konkrete Handeln von Politik, Tarifparteien und Unternehmen ­ jeweils im eigenen Verantwortungsbereich. Wir haben uns das Ziel gesetzt, bis zum Ende des Jahrzehnts die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. Dies ist ehrgeizig, aber erreichbar. Jetzt kommt es darauf an, daß jeder seine Bündnisversprechungen einhält. Ich sage dies auch im Hinblick auf angelaufene und bevorstehende Tarifverhandlungen. Es ist wichtig, daß die Tarifpartner immer auch daran denken, daß über 4 Millionen Menschen in Deutschland heute keine Arbeit haben und daß wir Tarifabschlüsse brauchen, die nicht neue Arbeitsplätze verhindern, sondern bestehende Arbeitsplätze sichern und zusätzliche Beschäftigung schaffen.

Die Bundesregierung hat ihrerseits im Januar 1996 ein 50-Punkte-Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze auf den Weg gebracht. Wir werden dieses Programm Punkt für Punkt umsetzen. Ein Schwerpunkt ist unsere Offensive für unternehmerische Selbständigkeit und Innovationsfähigkeit. Deutschland braucht eine neue Gründerwelle. Jeder Existenzgründer gibt im Durchschnitt vier Menschen Arbeit. Wir werden zum Beispiel Existenzgründer steuerlich entlasten und mittelständischen Unternehmen den Zugang zum Wagniskapital erleichtern. Die Bedeutung kleiner und mittlerer Unternehmen zeigt sich nicht zuletzt darin, daß zwischen 1990 und 1995 im Mittelstand ­ trotz zwischenzeitlicher Rezession ­ knapp eine Million Arbeitsplätze geschaffen wurden.

Wir müssen außerdem sehen, daß eine große Übergabewelle von Betrieben bevorsteht. In den nächsten zehn Jahren suchen in Deutschland bis zu 700000 Mittelständler, darunter 200000 Handwerker, einen Nachfolger für ihren Betrieb. Ein alarmierendes Umfrageergebnis der Handwerkskammer für München und Oberbayern zeigt, daß dort jeder zweite Handwerksbetrieb ohne einen Nachfolger aus der Familie ist. Entweder ist kein Nachwuchs vorhanden oder die Kinder haben kein Interesse, den elterlichen Betrieb zu übernehmen. Diese Einstellung ist nicht nur eine Frage der Finanzausstattung, sondern ebenso des gesellschaftlichen Klimas in unserem Land. Wir müssen wieder stärker erkennen, daß Unternehmer Arbeit-Geber sind, die Arbeitsplätze schaffen und Verantwortung für sich selbst und ihre Mitarbeiter übernehmen. Sie zählen damit zu den Leistungseliten unseres Landes. Wir brauchen in Deutschland mehr gesellschaftliche Anerkennung für unternehmerische Selbständigkeit.

Meine Damen und Herren, das Schaffen von Arbeitsplätzen darf natürlich auch nicht durch überhöhte Kosten, einengende Regulierungen und zuviel Staat erschwert werden. Unser Ziel ist es, die Staatsquote bis zum Jahr 2000 wieder auf das Niveau vor der Wiedervereinigung ­ auf 46 Prozent ­ zurückzuführen. Zwischen 1982 und 1989 haben wir schon einmal bewiesen, daß dies zu schaffen ist. Ich erinnere daran, daß die Staatsquote durch die notwendigen Entscheidungen im Zuge der Deutschen Einheit gestiegen ist. Von 1991 bis Ende 1995 sind rund 615 Milliarden DM netto in die neuen Länder geflossen. Dieses Geld ist gut angelegt, es ist eine Abschlagszahlung auf unsere gemeinsame Zukunft.

Die Bundesregierung wird ihren Kurs zur Haushaltskonsolidierung konsequent fortsetzen. Sie schafft damit die Voraussetzung für die Senkung der Steuer- und Abgabenlast in Deutschland. Wir bereiten derzeit zum Beispiel die aufkommensneutrale Unternehmensteuerreform in Verbindung mit der Gemeindefinanzreform vor. Wir werden außerdem den Solidaritätszuschlag ab Mitte 1997 schrittweise abbauen.

Für die Verminderung der Arbeitslosigkeit ist es darüber hinaus wichtig, die Anreize zur Aufnahme von Erwerbsarbeit zu verstärken. Nach einer Untersuchung des Deutschen Städtetages haben 30 Prozent der befragten Sozialhilfeempfänger, für die Beschäftigung zumutbar war, die angebotene Beschäftigung abgelehnt. Meine Damen und Herren, dies kann nicht hingenommen werden. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, muß mit der Kürzung der Sozialhilfe rechnen. Eine Bekämpfung des Mißbrauchs ist nicht nur im Sozialbereich notwendig. Steuerhinterziehung und das Erschleichen von Subventionen sind ebenfalls keine Kavaliersdelikte. Für eine gute Zukunft unserer Gesellschaft müssen Tugenden wie Fleiß, Zuverlässigkeit und Menschlichkeit wieder stärker gelten.

IV.

Meine Damen und Herren, wir Deutschen haben die besten Chancen für das 21. Jahrhundert, wenn wir uns den vor uns liegenden Herausforderungen stellen und sie gemeinsam angehen. Im Rückblick auf die vergangenen 50 Jahre haben wir heute allen Anlaß zu Dankbarkeit und realistischem Optimismus. Der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war eine großartige Gemeinschaftsleistung der Aufbaugeneration. Vor fast sechs Jahren haben wir die deutsche Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und mit Zustimmung unserer Nachbarn und Partner in der Welt erreicht.

Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir Deutschen würden vor der Geschichte versagen, wenn wir jetzt in unserem Einsatz für ein vereintes Europa nachließen. Die europäische Einigung ist letztlich eine Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert. Die Fortsetzung des europäischen Einigungswerkes ist gerade für Deutschland, als Land in der Mitte Europas und mit den meisten Nachbarn, von herausragender Bedeutung.

Wenige Jahre vor einem neuen Jahrhundert geht es jetzt darum, die Aufgaben der Zukunft mit Mut und Entschlossenheit anzupacken. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, Familie Naumann, Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Ihren Kunden einen guten Start mit der offiziellen Inbetriebnahme der neuen Rotationsanlage. Ihrem Unternehmen und Ihren Gästen wünsche ich Glück, Erfolg und Gottes Segen.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 28. 9. April 1996.