18. Mai 1995

Rede anlässlich der Einweihung des Versandzentrums der Quelle-Schickedanz AG & Co. in Leipzig

 

Sehr geehrter Herr Dr. Bühler,
Herr Ministerpräsident,
Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Firma Quelle,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

zur Einweihung des neuen Versandzentrums in Leipzig gratuliere ich Ihnen herzlich. Ich verbinde dies mit einem besonderen Dank für die Spende, die die Firma Quelle für den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden zur Verfügung gestellt hat. Gerade in dieser Zeit, in der wir zurückblicken auf die schrecklichen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, ist dieser Wiederaufbau ein Symbol für zukunftsgerichtetes Denken und Handeln. Deshalb hoffe ich, dass dieses positive Beispiel der Firma Quelle möglichst viele Nachahmer findet.

Vor zweieinhalb Jahren, am 30. September 1992, habe ich anlässlich des Richtfests an dieser Stelle gesagt, dass der Bau dieses Versandzentrums ein Zeichen für den hoffnungsvollen Neubeginn in Ostdeutschland ist. Diese Hoffnung ist für Quelle sowie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Wirklichkeit geworden. Zugleich ist dieses neue Versandzentrum ein Aushängeschild für Leipzig. Gleich nebenan wird derzeit mit Hochdruck die neue Leipziger Messe gebaut. Beides sind wichtige Zukunftsprojekte, mit denen Leipzig an seine jahrhundertealte Tradition als Messe- und Handelsstadt anknüpft. Damit werden den Menschen hier in ihrer Heimat neue Perspektiven eröffnet.

Die Firma Quelle hat eine Milliarde D-Mark in dieses Versandzentrum mit Spitzentechnologien investiert. Damit sind neue und moderne Arbeitsplätze für heute fast 1.000 Menschen geschaffen worden. Bei voller Auslastung werden hier insgesamt über 2.000 Mitarbeiter beschäftigt sein. Dieses Versandzentrum ist in einer beeindruckend kurzen Bauzeit fertig gestellt worden. Hier zeigt sich einmal mehr, dass eine gute Zusammenarbeit von Investoren und Verwaltung wirklich etwas für die Menschen bewegen kann. Dies gibt uns Anlass, all jenen zu danken, die mit Fleiß, Ausdauer und Leistungswillen am schnellen Bau des Versandzentrums tatkräftig mitgewirkt haben.

Mit Respekt und Dankbarkeit denke ich bei dieser Gelegenheit auch an Grete Schickedanz. Sie hatte als Seniorchefin wichtigen Anteil daran, dass Quelle bereits im Januar 1991 sich für Leipzig als zweites Standbein im soeben wiedervereinigten Deutschland entschieden hat. Dies war ein beispielgebendes Stück von gelebtem Patriotismus! Wir hätten uns alle gewünscht, dass sie die Vollendung ihres Aufbauwerks hier in Leipzig noch hätte erleben können. Der heutige Tag ist Anlass, an die beispielhafte unternehmerische Leistung dieser großartigen Frau zu erinnern. Dies gilt ebenso für Gustav Schickedanz. Er hätte in diesem Jahr sein 100. Lebensjahr vollendet. Beide gehören zu den großen Persönlichkeiten der Aufbaugeneration nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie haben mit Mut zur Zukunft, neuen Ideen und Leistungsbereitschaft ihr zerstörtes Unternehmen wieder zum Erfolg geführt. Ich weiß, dass Ludwig Erhard mit großem Respekt von ihnen gesprochen hat. Grete und Gustav Schickedanz stehen stellvertretend für die mutigen Frauen und Männer, die nach dem Krieg nicht lamentiert, sondern den Neubeginn gewagt haben.

In der vergangenen Woche haben wir uns besonders intensiv an die Zeit vor fünfzig Jahren erinnert. Deutschland lag damals in Trümmern. Die Nazi-Tyrannei hatte Tod, Leid und Elend über Millionen Menschen gebracht. Es tut uns gut - denjenigen, die diese Zeit noch selbst erlebt haben, ebenso wie den Jüngeren, die sie aus den Schilderungen ihrer Eltern und Großeltern kennen -, uns daran zu erinnern, welchen Weg wir seither zurückgelegt haben. Wir haben Grund zur Dankbarkeit, gerade in diesen Tagen im Rückblick auf die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in London, Paris, Berlin und Moskau. Wer hätte vor 50 Jahren in Deutschland zu träumen gewagt, dass wir am Anfang der längsten Friedensperiode in der jüngeren deutschen Geschichte stehen würden? Und wer hätte sich damals vorstellen können, dass Deutsche am Ende dieses Jahrhunderts eine internationale Position einnehmen würden, die durch Ansehen und Sympathie geprägt ist?

Wir haben die Deutsche Einheit in Frieden und Freiheit und mit Zustimmung unserer Nachbarn und Partner in der Welt erreicht. Dies gibt uns Grund, heute mit Optimismus nach vorn zu blicken - bei allen Problemen, die immer noch zu lösen sind. In wenigen Wochen begehen wir den fünften Jahrestag der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Sie war das Fundament, von dem aus der wirtschaftliche Aufholprozess in den neuen Bundesländern in Gang gesetzt werden konnte. „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr": Diese Aufschrift war damals auf vielen Transparenten auch hier in Leipzig zu lesen. Vor diesem Hintergrund musste damals rasch gehandelt werden.

Seither hat - entgegen vielfacher Skepsis - eine eindrucksvolle Entwicklung in den neuen Bundesländern eingesetzt. Der Strukturwandel der ostdeutschen Wirtschaft ist in voller Fahrt. An immer mehr Orten in Ostdeutschland entstehen leistungsfähige Betriebe, die zu den modernsten in Europa zählen. Jeder spürt die großen Fortschritte, die bei der Modernisierung der ostdeutschen Infrastruktur erzielt worden sind, zum Beispiel bei Fahrten mit dem Auto oder der Eisenbahn. Dass ab Ende Mai Schnellzüge die Strecke zwischen Leipzig und Berlin erstmals seit Kriegsende wieder in weniger als zwei Stunden zurücklegen werden, ist nur ein kleines Beispiel, das für viele steht.

Ich bin ganz sicher, dass wir auf diesem Weg weiter vorankommen. Die neuen Länder sind unverändert Wachstumsregion Nummer eins in Europa. Die Wirtschaft in den neuen Ländern zeigt eine ungebrochene Zuversicht für die Zukunft. Das Wachstum der ostdeutschen Wirtschaft macht sich auch zunehmend positiv auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Dennoch ist der Aufholprozess bei den Arbeitsplätzen noch längst nicht abgeschlossen. Mehr Investitionen sind unverändert der Schlüssel für mehr Beschäftigung. Die Bundesregierung hat deshalb im Jahressteuergesetz 1996 zum Beispiel vorgesehen, die Investitionszulage von zehn Prozent für kleine und mittlere Industriebetriebe sowie für Handwerker um zwei Jahre bis Ende 1998 zu verlängern.

Wichtig für Arbeitsplätze ist es auch, dass wettbewerbsfähige ostdeutsche Produkte von westdeutschen Einkäufern auch hinreichend berücksichtigt werden. Die „Einkaufsoffensive Neue Bundesländer" gibt hier ein gutes Beispiel. Quelle war als Mitbegründer von Anfang an dabei. Die Mitgliedsfirmen der Einkaufsoffensive haben im vergangenen Jahr für 40 Milliarden D-Mark in Ostdeutschland eingekauft. Das waren rund zehn Milliarden D-Mark mehr als 1993. Dennoch gehen immer noch um ein Vielfaches mehr Waren aus den alten Bundesländern nach Ostdeutschland. Deshalb sollte niemand in seinen Anstrengungen nachlassen. Ich bekräftige meinen Appell, den ich anlässlich des Richtfests vor zweieinhalb Jahren an dieser Stelle ausgesprochen hatte: Bitte nutzen Sie jede Gelegenheit, darauf hinzuwirken, dass vermehrt hier in den neuen Bundesländern bestellt und eingekauft wird!

Wir haben in den vergangenen fünf Jahren gute Grundlagen für einen gemeinsamen Aufbruch in die Zukunft gelegt. Die Menschen in den alten Bundesländern haben den ostdeutschen Strukturwandel solidarisch mitgetragen. Seit Mitte 1990 ist der Aufbau Ost mit einem öffentlichen Nettotransfer von über 600 Milliarden D-Mark unterstützt worden.

Entscheidend für den Erfolg ist aber die großartige Einsatzbereitschaft der Menschen hier, die die Ärmel hochgekrempelt und sich an die Arbeit gemacht haben. Viele haben sich selbständig gemacht und neue Arbeitsplätze geschaffen. Andere haben den schwierigen Strukturwandel vor Ort in den Betrieben praktisch bewältigt. Alle mussten sich fast über Nacht in völlig geänderten Lebensbedingungen zurechtfinden. Ohne den festen Willen der Menschen hier, erfolgreich zu sein, hätten die gewaltigen Transfersummen aus dem Westen letztendlich nichts bewirkt.

Für den Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich der Begriff des „Wirtschaftswunders" eingebürgert. Diese Bezeichnung geht am Kern der Sache vorbei. Es war kein Wunder, das Deutschland damals wieder nach vorn gebracht hat. Es war die Hilfe von außen, vor allem der Marshall-Plan, und es war der Wille der Menschen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und den Neuanfang zu schaffen. Ich bin sicher, man wird den Aufbau Ost später auch einmal mit einem Wunder in Verbindung bringen. Doch auch hier gilt: Es ist die Kraft und das Wollen der Menschen, das gemeinsame Ziel - die innere Einheit Deutschlands - zu vollenden.

Die Konjunktur in ganz Deutschland befindet sich weiterhin im Aufwind. Für dieses Jahr erwarten Bundesregierung und fast alle Wirtschaftsexperten ein reales Wachstum von drei Prozent. Die Katastrophengemälde, die viele uns noch im vergangenen Jahr malten, haben sich nicht bewahrheitet. Gleichwohl - geklagt wird mancherorts auch weiterhin. Derzeit, so heißt es, sei die D-Mark zu stark und der Dollar zu schwach. Wenn es umgekehrt wäre, würde allerdings ebenfalls geklagt. Natürlich weiß ich, dass die Schwäche des Dollars und einiger europäischer Währungen die deutschen Exporteure belastet. Deshalb kommt es jetzt um so mehr darauf an, uns auf unsere Stärken zu besinnen.

[...] Die weiterhin positiven Konjunkturaussichten dürfen niemanden dazu verleiten, jetzt die Hände in den Schoß zu legen. Die Zahl der Menschen ohne Arbeit ist weiterhin viel zu hoch. Neue Arbeitsplätze zu schaffen, bleibt die größte Herausforderung in Deutschland. Deshalb ist Umdenken unverändert gefordert. Wir müssen den Standort Deutschland immer wieder auf seine Zukunftsfähigkeit prüfen. Dies ist wichtig für die Wettbewerbschancen deutscher Exporteure auf den Weltmärkten. Und dies ist wichtig für zukunftssichere Arbeitsplätze in Deutschland. Jeder ist gefordert, hierzu seinen Beitrag zu leisten - Tarifpartner und Unternehmen ebenso wie der Staat.

Ich denke zum Beispiel an mehr Flexibilität bei Arbeitszeiten und Maschinenlaufzeiten. Die gesetzlichen Möglichkeiten hierfür sind geschaffen. Die Tarifpartner sollten sie stärker nutzen. Auch das Potential für Teilzeitbeschäftigung ist in Deutschland noch längst nicht ausgeschöpft. Natürlich gibt es kein Allheilmittel für das Problem der Arbeitslosigkeit. Entscheidend ist, dass die Tarifpartner schnell und flexibel reagieren und den Wunsch der Arbeitsplatzsuchenden nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten und Arbeitseinkommen in den Mittelpunkt stellen. Ich denke dabei vor allem auch die die Gruppe der weniger Qualifizierten, die von Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind.

Eine gute und qualifizierte Ausbildung ist für die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland unverzichtbar. Wir brauchen für das bevorstehende Lehrjahr wieder ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen in Ost- und Westdeutschland. Ich appelliere von dieser Stelle an alle, die hier Einfluss nehmen können, darauf hinzuwirken, dass wiederum alle Jugendlichen, die dies wollen und die notwendigen Anforderungen erfüllen, eine Lehrstelle erhalten. So wie wir erwarten, dass die Jugendlichen ihre Pflicht gegenüber unserer Gesellschaft erfüllen - die jungen Männer zum Beispiel im Wehr- oder im Zivildienst -, so müssen wir ihnen eine qualifizierte Ausbildung garantieren. Dies ist für mich eine der größten Herausforderungen für unsere Gesellschaft.

Entscheidend für die Zukunftssicherung Deutschlands ist es, privater Initiative und Leistungskraft mehr Freiräume zu eröffnen. Das heißt zum Beispiel, den Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt wieder zurückzuführen. Schon einmal - zwischen 1982 und 1989 - haben wir die Staatsquote von über 50 Prozent auf knapp 46 Prozent gesenkt. Der erneute Anstieg der Staatsquote auf mehr als 50 Prozent und höhere Steuern waren vorübergehend unvermeidlich. Die großen Aufgaben mit hohem Finanzbedarf im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit duldeten keinen Aufschub.

Unser klares Ziel ist es jetzt, die Steuer- und Abgabenbelastung wieder zurückzuführen. Dazu gehört auch, den Solidaritätszuschlag sobald wie möglich wieder abzubauen. Ich halte jedoch nichts davon, dafür hier und jetzt konkrete Termine festzulegen. Wir müssen erkennen, dass die Menschen in den neuen Bundesländern weiterhin unsere solidarische Unterstützung bei der Bewältigung des enormen Strukturwandels brauchen. Jede Mark, die wir hier investieren, ist eine Abschlagszahlung für unsere gemeinsame Zukunft.

Zum Erhalt bestehender und für das Schaffen neuer Arbeitsplätze ist es unerlässlich, den gesellschaftlichen Stellenwert von Risikobereitschaft und Eigeninitiative nachhaltig zu erhöhen. Wir müssen begreifen, dass Existenzgründer und Selbständige immer auch Arbeit-Geber sind. Allein im Handwerk werden in den nächsten fünf Jahren rund 200.000 Betriebe an die nachfolgende Generation übergeben. Vor diesem Hintergrund erfüllen mich Umfrageergebnisse mit Sorge, denen zufolge viele Handwerksbetriebe, die aus Altersgründen zur Übergabe anstehen, noch ohne gesicherte Nachfolge sind.

Wir müssen alle Anstrengungen darauf richten, eine neue Kultur der Selbständigkeit zu schaffen. Vielerorts wird zu stark das Leitbild des behüteten Angestellten im öffentlichen Dienst gepflegt. Ich plädiere dafür, Existenzgründer und Selbständige wieder stärker als Leistungseliten unseres Landes anzuerkennen. Auch hier ist Umdenken gefordert.

Deutschland hat im Jahre 1995 großartige Chancen für eine gute Zukunft. Wir haben allen Grund zu einem realistischen Optimismus. Es geht nicht um Gesundbeten oder Verharmlosen der Aufgaben, vor denen wir stehen. Aber wir haben keinen Anlass zu törichtem Pessimismus, der das Selbstvertrauen untergräbt und Kräfte lähmt, statt die Menschen zu ermutigen.

Gustav Schickedanz hat den Aufbau seines Unternehmens mit der Maxime betrieben: Wollen - Wägen - Wagen. In diesem Geiste ist jeder einzelne aufgefordert, Verantwortung zu zeigen und den notwendigen Wandel in Deutschland aktiv mitzutragen und mit zu gestalten, Nur wenn wir bereit sind, die großen Chancen, die Deutschland am Ende dieses Jahrhunderts hat, auch wirklich zu nutzen, werden wir unserem Land eine gute Zukunft sichern. In diesem Sinne wünsche ich der Geschäftsleitung sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des neuen Versandzentrums Glück, Erfolg und Gottes Segen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 44 (31. Mai 1995).