Die bisher vorliegenden Meldungen aus der Sowjetunion über die Verhängung des Ausnahmezustands und die Übernahme der Macht durch ein Staatskomitee für den Ausnahmezustand - und damit die faktische Absetzung Michail Gorbatschows - geben Anlass zu größter Sorge.
Ich habe daher meinen Urlaub unterbrochen, um ein vollständiges Bild über die noch unübersichtliche Lage in der Sowjetunion zu erhalten und mich mit befreundeten Staats- und Regierungschefs zu beraten. Ab 17.00 Uhr werde ich mich außerdem mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden treffen.
Unmittelbar nach meiner Rückkehr habe ich mit Präsident Bush, Präsident Mitterrand und Premierminister Major telefoniert. Wir waren uns einig, dass in dieser Situation ein enger Schulterschluss in der Europäischen Gemeinschaft und im Bündnis unerlässlich ist. Wir werden daher weiter in ständigem Kontakt bleiben. Ich habe gerade noch mit dem ungarischen Ministerpräsidenten, dem österreichischen Kollegen und dem Kanzler der CSFR telefoniert. Mit meinen Gesprächspartnern war ich mir über folgende Punkte einig:
Erstens: Wir fordern die sowjetische Führung auf, alle internationalen Verträge und Vereinbarungen strikt einzuhalten.
Zweitens: Wir fordern die sowjetische Führung auf, die Menschen- und Bürgerrechte, zu denen die Sowjetunion sich in der KSZE-Schlussakte und in der „Charta von Paris" für ein neues Europa ausdrücklich bekannt hat, zu achten.
Drittens: Wir sprechen die Erwartung aus, dass die Politik des friedlichen Ausgleichs, insbesondere der Abrüstung und Rüstungskontrolle, fortgesetzt wird.
Viertens: Wir unterstreichen, dass die Sowjetunion mit weiterer westlicher Hilfe nur rechnen kann, wenn sie diese Voraussetzungen erfüllt und die Politik der Demokratisierung und der Reformen weiterführt.
Fünftens: Wir erwarten, dass die persönliche Unversehrtheit Michail Gorbatschows, der einen entscheidenden Beitrag zum Frieden geleistet hat und in der Welt daher großen Respekt und großes Ansehen genießt, garantiert wird.
Lassen Sie mich noch hinzufügen: Wir wissen, welchen großen Beitrag Michail Gorbatschow zur Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und insbesondere zur deutschen Einheit erbracht hat; wir sind ihm zu bleibendem Dank verpflichtet.
Die Bundesregierung hat die Moskauer Erklärung an die Staatsund Regierungschefs zur Kenntnis genommen, wonach die Sowjetunion ihre in gültigen Verträgen übernommenen Verpflichtungen einhalten wird. Dies darf aber nicht nur für die Verträge und Abmachungen auf dem Weg zur deutschen Einheit - die allesamt ratifiziert sind - gelten, sondern muss auch einschließen:
- die in engem Zusammenhang damit stehenden Verträge über Abrüstung und Rüstungskontrolle und
- alle Dokumente der KSZE, insbesondere die im November 1990 unterzeichnete „Charta von Paris".
Im Geist der „Charta von Paris" appelliere ich nachdrücklich an alle Verantwortlichen in der Sowjetunion, keine Gewalt anzuwenden, jegliches Blutvergießen zu verhindern und die in Paris vereinbarten Prinzipien für ein neues Europa nicht zu verletzen.
Der heutige Tag gibt im übrigen Veranlassung, an die innenpolitische Diskussion vor einem Jahr zu erinnern: Damals wurde die von mir geführte Bundesregierung von vielen dafür kritisiert, dass sie angeblich den Weg zur Einheit zu schnell gegangen sei. Diese Kritik erweist sich heute mehr denn je als völlig verfehlt.
Ich stelle fest: Der Kurs zur deutschen Einheit, so wie wir ihn mit Hilfe unserer Freunde und Partner - und ich sage ganz bewusst in dieser Stunde: nicht zuletzt mit Hilfe von Michail Gorbatschow im Kaukasus - gesteuert haben, war und bleibt richtig.
Es war eine geschichtliche Chance, und ich bin froh darüber, dass wir sie so nützen konnten.
Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 88 (21. August 1991).