19. Dezember 1989

Rede bei einer Kundgebung vor der Ruine der Frauenkirche in Dresden

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine lieben jungen Freunde, liebe Landsleute! Zunächst darf ich mich bei Ihnen allen sehr herzlich bedanken für dieses freundliche und freundschaftliche Willkommen.

Meine lieben Freunde, es sind viele Hunderte Journalisten aus ganz Europa zu uns gekommen, und ich finde, wir sollten Ihnen gemeinsam demonstrieren, wie wir mitten in Deutschland eine friedliche Kundgebung durchführen können. Deshalb meine ganz herzliche Bitte, dass wir - bei aller Begeisterung - uns jetzt gemeinsam auf diese wenigen Minuten unserer Begegnung konzentrieren. Das erste, was ich Ihnen allen zurufen will, ist ein herzlicher Gruß all Ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Bundesrepublik Deutschland.

Das zweite, was ich sagen möchte, ist ein Wort der Anerkennung und der Bewunderung für diese friedliche Revolution in der DDR. Wir erleben, dass eine solche Umwälzung sich zum ersten Mal in der deutschen Geschichte so gewaltlos, mit so großem Ernst und im Geist der Solidarität vollzieht. Dafür danke ich Ihnen allen sehr herzlich. Es ist eine Demonstration für Demokratie, für Frieden, für Freiheit und für die Selbstbestimmung unseres Volkes. Und Selbstbestimmung heißt für uns - auch in der Bundesrepublik -, dass wir Ihre Meinung respektieren. Wir wollen und wir werden niemanden bevormunden. Wir respektieren das, was Sie entscheiden für die Zukunft des Landes.

Liebe Freunde, ich bin heute hierhergekommen zu den Gesprächen mit Ihrem Ministerpräsidenten Hans Modrow, um in dieser schwierigen Lage der DDR zu helfen. Wir lassen unsere Landsleute in der DDR nicht im Stich. Und wir wissen - lassen Sie mich das auch hier, angesichts dieser Begeisterung, die mich so erfreut, sagen -, wie schwierig dieser Weg in die Zukunft ist. Aber gemeinsam werden wir diesen Weg in die deutsche Zukunft schaffen! Es war dies heute meine erste Begegnung mit Ministerpräsident Hans Modrow. Wir beide sind uns bewusst, dass wir in einer geschichtlichen Stunde - ungeachtet unserer unterschiedlichen politischen Herkunft - versuchen müssen, für unser Volk unsere Pflicht zu tun. Es war ein erstes Gespräch, es war auch ein ernstes Gespräch, und es hatte gute Ergebnisse. Wir haben verabredet, dass in den nächsten Wochen intensiv daran gearbeitet wird, dass wir noch im Frühjahr einen Vertrag über die Vertragsgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR abschließen können. Wir wollen eine enge Zusammenarbeit auf allen Gebieten: auf dem Felde der Wirtschaft, des Verkehrs, zum Schutz der Umwelt, auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Kultur. Wir wollen vor allem auf dem Felde der Wirtschaft eine möglichst enge Zusammenarbeit mit dem klaren Ziel, dass die Lebensverhältnisse hier in der DDR so schnell wie möglich verbessert werden. Wir wollen, dass die Menschen sich hier wohl fühlen. Wir wollen, dass sie in ihrer Heimat bleiben und hier ihr Glück finden können. Entscheidend für die Zukunft ist, dass die Menschen in Deutschland zueinander kommen können, dass der freie Reiseverkehr in beiden Richtungen dauerhaft garantiert ist.

Wir wollen, dass sich die Menschen in Deutschland überall, wo sie dies wollen, treffen können. Liebe Freunde, Sie werden im kommenden Jahr freie Wahlen haben. Sie werden frei entscheiden, wer, mit Ihrem Vertrauen versehen, im Parlament sitzt. Sie werden eine frei gewählte Regierung haben. Und dann ist der Zeitpunkt gekommen für das, was ich „konföderative Strukturen" genannt habe - das heißt: gemeinsame Regierungsausschüsse, gemeinsame Parlamentsausschüsse -, damit wir mit möglichst viel Gemeinsamkeit in Deutschland leben können. Und auch das lassen Sie mich hier auf diesem traditionsreichen Platz sagen: Mein Ziel bleibt - wenn die geschichtliche Stunde es zulässt - die Einheit unserer Nation.

Liebe Freunde, ich weiß, dass wir dieses Ziel erreichen können und dass diese Stunde kommt, wenn wir gemeinsam dafür arbeiten - und wenn wir es mit Vernunft und mit Augenmaß tun, mit Sinn für das Mögliche. Es ist ein schwieriger Weg, aber es ist ein guter Weg; es geht um unsere gemeinsame Zukunft.

Ich weiß auch, dass dies nicht von heute auf morgen zu erreichen ist. Wir, die Deutschen, leben nun einmal nicht allein in Europa und in der Welt. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass alles, was sich hier bei uns verändert, Auswirkungen auf unsere Nachbarn haben muss, auf die Nachbarn im Osten und auf die Nachbarn im Westen. Es hat keinen Sinn, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass uns auf unserem Weg viele mit Sorge und manche auch mit Ängsten beobachten. Aus Ängsten aber kann nichts Gutes erwachsen. Wir müssen als Deutsche unseren Nachbarn sagen: Angesichts der Geschichte dieses Jahrhunderts haben wir Verständnis für manche dieser Ängste. Wir werden sie ernst nehmen.

Natürlich wollen wir unsere Interessen als Deutsche vertreten. Wir sagen „Ja" zum Selbstbestimmungsrecht, das allen Völkern dieser Erde zusteht - auch den Deutschen. Aber wenn wir dieses Selbstbestimmungsrecht für die Deutschen verwirklichen wollen, dann dürfen wir auch die Sicherheitsbedürfnisse der anderen nicht außer acht lassen. Wir wollen eine Welt, in der es mehr Frieden und mehr Freiheit gibt, die mehr Miteinander und nicht mehr Gegeneinander kennt.

Das „Haus Deutschland" - unser gemeinsames Haus - muss unter einem europäischen Dach gebaut werden. Das muss das Ziel unserer Politik sein.

In wenigen Tagen beginnen die neunziger Jahre, beginnt das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Es ist ein Jahrhundert, das vor allem in Europa und auch bei uns in Deutschland viel Not, viel Elend, viele Tote, viel Leid gesehen hat - ein Jahrhundert, das auch uns Deutschen eine besondere Verantwortung auferlegt hat - angesichts des Schlimmen, das geschah.

Hier vor der Ruine der Frauenkirche in Dresden, am Mahnmal für die Toten von Dresden, habe ich gerade ein Blumengebinde niedergelegt - auch in der Erinnerung an das Leid und an die Toten dieser wunderschönen alten deutschen Stadt.

Ich war 1945 - und das sage ich zu den jungen Menschen hier auf dem Platz - 15 Jahre alt, ein Schüler, ein Kind. Ich hatte dann die Chance, „drüben" in meiner pfälzischen Heimat, groß zu werden, und ich gehöre zu jener jungen Generation, die nach dem Krieg geschworen hat - wie hier auch -: „Nie wieder Krieg, nie wieder Gewalt!" Ich möchte hier vor Ihnen diesen Schwur erweitern, indem ich Ihnen zurufe: Von deutschem Boden muss in Zukunft immer Frieden ausgehen - das ist das Ziel unserer Gemeinsamkeit!

Aber, liebe Freunde, wahrer Friede ist ohne Freiheit nicht möglich. Deswegen kämpfen Sie, demonstrieren Sie für die Freiheit in der DDR, deswegen unterstützen wir Sie, und deswegen gehört Ihnen unsere Solidarität. Liebe Freunde, es sind noch wenige Tage, die uns vom Weihnachtsfest - dem Fest des Friedens - trennen. Weihnachten, das ist das Fest der Familie, der Freunde. Gerade in diesen Tagen empfinden wir uns in Deutschland wieder als eine deutsche Familie. Wir alle haben das empfunden in diesen Wochen und Tagen.

Ich erinnere uns alle an die bewegenden Bilder mitten in Deutschland im September, im Oktober, im November - an jene Bilder vor allem, die zeigten, wie sich Freunde und Verwandte wieder getroffen haben, über vierzig Jahre haben wir darauf gewartet. Wir sind dankbar, dass wir das jetzt erleben dürfen. Das alles ist nicht von allein gekommen. Viele haben dabei mitgeholfen, nicht zuletzt die Bürger auf den Straßen und Plätzen der DDR. Aber auch draußen in der Welt haben viele geholfen. Und so nenne ich hier aus gutem Grund die Politik der Perestroika von Michail Gorbatschow, die diese Möglichkeiten mitgeschaffen hat, die Freiheitsbewegung der Solidarnosc in Polen, die Reformer in Ungarn.

Liebe Freunde, wir sind dafür dankbar. Jetzt kommt es darauf an, dass wir diesen Weg in der Zeit, die vor uns liegt, friedlich, mit Geduld, mit Augenmaß und gemeinsam mit unseren Nachbarn weitergehen. Für dieses Ziel lassen sie uns gemeinsam arbeiten, lassen sie uns einander in solidarischer Gesinnung helfen. Ich grüße hier von Dresden aus alle unsere Landsleute in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland. Ich wünsche Ihnen und uns allen ein friedvolles Weihnachtsfest, ein glückliches Jahr 1990. Gott segne unser deutsches Vaterland!

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bundeskanzler Helmut Kohl - Reden und Erklärungen zur Deutschlandpolitik, Bonn 1990.