19. Januar 1994

Rede bei einem internationalen Symposium anlässlich des 175-jährigen Bestehens der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

 

Magnifizenz, Exzellenzen,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
Herr Oberbürgermeister,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen!

I.

[...] Ich gratuliere der Universität Bonn herzlich zu ihrem 175-jährigen Bestehen. In diesen 175 Jahren hat sich die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität weit über die Grenzen Deutschlands hinaus einen hervorragenden Ruf als weltoffene Stätte der Wissenschaft erworben.

Am Beginn stand die Humboldtsche Idee der Einheit von Forschung und Lehre. Diese Idee ist nach meiner Überzeugung weiterhin gültig. Sie muss jedoch unter veränderten Bedingungen immer wieder aktualisiert werden. Nur so können wir auch für die Zukunft sicherstellen, dass sich die Qualität universitärer Forschung und die Qualität des wissenschaftlichen Nachwuchses nicht auseinanderentwickeln.

In den 175 Jahren ihres Bestehens hat die Universität Bonn Höhen und Tiefen deutscher Geschichte miterlebt und verantwortet. Viele geistige Impulse gingen von ihr aus. Heute sieht sie ihre Aufgabe nicht zuletzt darin, den Prozess der Einigung Europas auf wissenschaftlich-kulturellem Gebiet zu fördern. Dies begrüße ich sehr. Die zweite Demokratie auf deutschem Boden wird von vielen zu Recht als „Bonner Republik" bezeichnet. Zu deren größten Leistungen zählt die feste Einbindung Deutschlands in die Gemeinschaft der freiheitlichen Demokratien des Westens - in die Europäische Union und in das Nordatlantische Bündnis.

Ich nehme diese gute Gelegenheit gerne wahr, einmal mehr die Verdienste Bonns, seiner Bürgerinnen und Bürger um den Aufbau und die Festigung unserer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung zu würdigen. Wir alle schulden Bonn großen Dank. Ich halte es für selbstverständlich, dass dieser Dank nicht nur in freundlichen Worten zum Ausdruck kommt.

Ich bin mir darüber im klaren, dass der geplante Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin bei vielen der hier lebenden Menschen Enttäuschung hervorgerufen hat. Es ist auch nicht zu leugnen, dass sich für viele von ihnen die eigene Lebenssituation tiefgreifend verändern wird. Ich freue mich, dass am vergangenen Freitag in einem parteiübergreifenden Spitzengespräch eine grundsätzliche Einigung über die finanziellen Leistungen an die Region Bonn erzielt werden konnte. Ich habe keine Bedenken, Magnifizenz, dass wir uns beim Kleingedruckten auch noch werden einigen können.

In diesem Zusammenhang halte ich es für besonders wichtig, Bonn in den nächsten Jahren zu einem international attraktiven Wissenschaftsstandort weiter auszubauen. Um dieses anspruchsvolle Ziel zu verwirklichen, sind mehrere Vorschläge für geeignete Projekte und Institutionen gemacht worden. Die Universität Bonn hat mit einem Konzept für ein „Internationales Wissenschaftsforum" einen wichtigen eigenen Beitrag zur Belebung dieser Diskussion geleistet. Einigkeit besteht über das Ziel, Spitzenforschung auf Sektoren der Hochtechnologie des 21. Jahrhunderts mit einer nachuniversitären Ausbildung von hervorragenden Kräften aus dem deutschen und möglichst auch internationalen Forschernachwuchs zu verbinden.

Die Bundesregierung hat im Blick auf die Region Bonn unter Federführung des Bundesministeriums für Forschung und Technologie ein Konzept für ein europäisches Forschungsinstitut CAESAR (Center for Advanced European Studies and Research) vorgeschlagen. Diese Institution wäre für Deutschland einmalig. Sie könnte richtungweisend Forschung auf höchstem Niveau mit Eliteausbildung und neuartigen, flexiblen Forschungsstrukturen verbinden.

Die europäische Orientierung unseres Landes gehört zu den größten Leistungen von 40 Jahren Bundesrepublik Deutschland. Sie zählt heute ganz selbstverständlich zu den Fundamenten unserer politischen Kultur.

Auch wenn es heute bei manchen wieder Mode geworden ist, „Europessimismus" zu predigen, kommt niemand an der Tatsache vorbei, dass die Einbindung Deutschlands in eine Union europäischer Demokratien mittlerweile unumkehrbar ist. Wir würden vor der Geschichte versagen, ja wir würden ein großartiges Kapital mutwillig verspielen, wenn wir uns heute jenen Ratschlägen beugen würden, die da besagen, dass wir uns zuerst einmal um die Herausforderungen, die die Deutsche Einheit mit sich gebracht hat, kümmern sollten und erst in zweiter Linie um die europäische Einigung. Ein Ausstieg aus der europäischen Integration wäre nicht nur in politischer Hinsicht selbstmörderisch; er würde auch die Grundlagen unseres Wohlstands, nicht zuletzt von Millionen Arbeitsplätzen, zerstören.

Ich formuliere dies ganz bewusst so dramatisch, weil bei vielen mittlerweile in Vergessenheit geraten ist, weshalb wir eigentlich schon so lange in Frieden leben. Wir verdanken dies entscheidend auch der europäischen Integration. Sie hat dazu beigetragen, jahrhundertealte Rivalitäten und Konflikte zwischen den beteiligten Nationen zu überwinden. Durch den Prozess der europäischen Einigung konnten wir in Europa unsere Kräfte zum gegenseitigen Vorteil bündeln.

Angesichts der dramatischen Veränderungen in der Welt während der vergangenen Jahre ist gemeinsames Handeln aller Europäer heute genauso notwendig wie in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es geht jetzt darum, zu beweisen, dass dieser alte Kontinent nicht an Altersschwäche leidet, sondern dass er in der Lage ist, seine ganze Dynamik und eine wirklich jugendliche Kraft zu entwickeln.

Dies ist nicht nur eine Frage von Wirtschaft und Finanzen. Wer glaubt, und das ist ja in Zeiten von hoher Arbeitslosigkeit und von schwierigen wirtschaftlichen Problemen verständlich, dass er über die Ökonomie alle Probleme lösen kann, wird sich täuschen. Wir haben immer wieder erlebt, dass die entscheidende Voraussetzung für eine Veränderung zum Besseren die Besinnung auf die geistig-kulturellen Grundlagen ist. Die Fragen von Bildung und Ausbildung gehören deshalb in das Zentrum der Diskussion um die Sicherung unserer Zukunft.

II.

Das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem genießt traditionell ein hohes Ansehen. Dennoch müssen wir uns heute die Frage stellen, ob dieses System den geänderten Anforderungen und Bedingungen in vollem Umfang genügt. Wer heute in Deutschland nach dem Abitur studiert, ist im Durchschnitt fast 30 Jahre alt, wenn er in das Berufsleben eintritt. Zugleich beträgt das durchschnittliche Renteneintrittsalter der Männer 59 Jahre. Dies bedeutet, dass in vielen Fällen 50 Jahre Ausbildung und Ruhestand nur etwa 30 Jahre produktive Erwerbstätigkeit gegenüberstehen. Diese Rechnung kann nicht aufgehen.

Was wir brauchen, ist eine junge Generation, die es sich selbst zutraut, sich den Herausforderungen zu stellen. Aber ebenso brauchen wir eine ältere Generation, die dieses Zutrauen vermittelt und auch Chancen aufzeigt. Im übrigen braucht unser Land die Kreativität und die geistige Mobilität gerade junger Menschen im Berufsleben.

Der deutsche Hochschulabsolvent hat auf dem internationalen Arbeitsmarkt gegenüber seinen jüngeren ausländischen Mitbewerbern deutliche Nachteile. Strukturreformen im Hochschulbereich, die zur Senkung der durchschnittlichen Studienzeiten fuhren, sind längst überfällig. Dies ist auch notwendig, um unsere Universitäten in der Forschung und wissenschaftlichen Lehre zu stärken.

Die Zahl von Studienabbrechern ist zu hoch. Außerdem arbeitet fast ein Viertel der Hochschulabgänger in einem Beruf, der nicht dem akademischen Bildungsgang entspricht. Die Zeit ist reif, um auch in der Bildungspolitik zu strukturellen Entscheidungen zu kommen, die das Gesamtsystem von Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung leistungsfähiger und flexibler machen. Hier geht es nicht so sehr um eine Frage der Finanzen, sondern vielmehr um unsere Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen.

Als überzeugter Föderalist respektiere ich die in der Verfassung festgelegte Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Die Fragen von Bildung und Ausbildung sind indes zugleich Fragen von nationaler Bedeutung. Wer zuständig ist, hat auch die Pflicht zum Handeln. Ich kann es überhaupt nicht verstehen, wenn auf Seiten der Länder dringend gebotene Modernisierungsmaßnahmen blockiert werden. Die Länder sind es, die die notwendigen Strukturreformen entscheidend voranbringen können und müssen. Dabei können Hochschulreformen nicht gegen die Universitäten, sondern immer nur mit ihnen zum Erfolg geführt werden.

Im Hochschulbereich, bei Wissenschaft und Forschung, entscheidet sich letztlich die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wir sind mehr als andere von Innovationen, von intelligenten Produkten und qualifizierten Dienstleistungen abhängig, also insbesondere von der Kreativität und dem Ausbildungsniveau unserer Erwerbstätigen. In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, Nachwuchswissenschaftler und zukünftige Führungskräfte aus den verschiedensten Ländern an den Universitäten zusammenzubringen.

Bei aller Notwendigkeit der Breitenbildung auf hohem Niveau bleibt eines unerlässlich: Unsere Hochschulen müssen wieder unter Bedingungen arbeiten können, die Spitzenleistungen ermöglichen und fördern. Freiheitliche Demokratie braucht mehr als jede andere Staatsform eine gute Atmosphäre, einen gemeinsamen Willen, Leistungen zu fördern. Das hat nichts mit Ellenbogenmentalität zu tun, sondern ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass ein Land überhaupt Zukunft hat.

Wesenselement einer Universität ist die Autonomie. Wir müssen in unserem deutschen Hochschulsystem die Spielräume zur Eigenverantwortung der einzelnen Hochschulen erweitern. Die Hochschulen in Deutschland müssen die Chance haben, ja geradezu motiviert werden, neue Ansätze selbst zu erproben und sich mit innovativen Formen der Lehre und Forschung ein eigenständiges Profil zu geben. Es ist im wesentlichen eine Frage der inneren Bereitschaft und geistigen Einstellung, ob wir den Durchbruch zu strukturellen Veränderungen und zur Überwindung von Verkrustungen schaffen können. Das gilt für das Bildungswesen wie für andere Felder der Politik.

III.

Auch die Fortschritte bei der europäischen Integration machen eine weitere Modernisierung in Wirtschaft und Gesellschaft bei uns notwendig. Die Öffnung von Grenzen in Europa hat auf diese Weise schon in der Vergangenheit maßgeblich zu Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und bei unseren Nachbarn beigetragen.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich der internationale Wettbewerb verschärft. Zusätzlich zu den expandierenden Volkswirtschaften im ostasiatisch-pazifischen Raum' haben wir jetzt eine fleißige und hoch motivierte Konkurrenz direkt vor der Haustür. Ich denke an Länder wie Polen, die Tschechische Republik oder Ungarn. Dort wird zu einem Bruchteil unserer Kosten produziert. Wir wollen, dass diese Länder wirtschaftlich erfolgreich sind. Sie sollen nicht von westlicher Hilfe abhängig bleiben, sondern sich ihre Devisen selbst verdienen. Auch im Blick auf diese Entwicklungen müssen wir bei uns Veränderungen vornehmen und umdenken.

Wir Deutschen verdanken - selbst wenn es heute manche nicht mehr wahrhaben wollen - auch der Europäischen Gemeinschaft ein nie zuvor gekanntes Maß an Wohlstand. Knapp drei Viertel unserer Exporte gehen heute in den Europäischen Wirtschaftsraum, rund zwei Drittel unserer Importe kommen von dort. Wer daher heute für „weniger Europa" plädiert, setzt viele Millionen Arbeitsplätze aufs Spiel, die durch die Verflechtung mit unseren Partnern in Europa gesichert werden.

Was wir in der Vergangenheit in Europa erreicht haben, müssen wir aber für die Zukunft absichern und ausbauen. Der Maastrichter Vertrag, der allen Unkenrufen zum Trotz am 1. November vergangenen Jahres in Kraft getreten ist, gibt uns hierzu neue Möglichkeiten:

Erstens: Um Beschäftigung, Wachstum und Wohlstand in Europa und in Deutschland auf Dauer zu erhalten, werden wir die Wirtschafts- und Währungsunion verwirklichen. Die künftige europäische Währung wird genauso stabil sein wie unsere bewährte D-Mark. Um dies zu gewährleisten, haben wir im Vertrag von Maastricht strenge Kriterien für die Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion durchgesetzt. Zu diesen Voraussetzungen gehört insbesondere eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik. Eine Aufweichung der Stabilitätskriterien wird es mit uns nicht geben!

Besonders ermutigend war für uns die Entscheidung des Europäischen Rats für Frankfurt am Main als Sitz des Europäischen Währungsinstituts und damit auch der künftigen Europäischen Zentralbank. Dies ist ein überzeugendes Zeichen des Vertrauens in unsere Stabilitätspolitik und eine Ermutigung, diesen Kurs entschlossen weiter zu steuern.

Zweitens: Wir wollen eine gemeinsame europäische Politik im so wichtigen Bereich der Inneren Sicherheit. Seit vielen Jahren weise ich die deutsche und die internationale Öffentlichkeit auf diese Notwendigkeit hin - vor allem angesichts der Ausbreitung des Organisierten Verbrechens und der internationalen Drogenmafia. Wir müssen davon ausgehen, dass diese im Jahre 1993 in einer Größenordnung des Budgets des Königreichs Belgien Geld nach Europa-natürlich vor allem in die Hartwährungsländer - eingeschleust hat.

Man muss kein Spezialist sein, um zu erkennen, welche Veränderung dies für die Substanz unseres Gemeinwesens bedeuten kann. Da die Drahtzieher und Helfershelfer der Kriminalität heute europaweit, ja weltweit operieren, müssen wir auch deren Bekämpfung entsprechend organisieren. Kein Land in Europa ist, auf sich allein gestellt, in der Lage, dieser wachsenden Gefahr Herr zu werden.

Wir wollen im Interesse unserer Bürger offene Grenzen in Europa. Dies darf aber nicht mit einem Verlust an Innerer Sicherheit einhergehen. Mit EUROPOL haben wir einen ersten Schritt dazu getan, um den Kampf gegen die internationale Bandenkriminalität gemeinsam und entschlossen führen zu können. Ich vertrete aber gegenüber meinen europäischen Kollegen mit Nachdruck die Überzeugung, dass die Instrumente des Maastrichter Vertrags noch nicht ausreichen. Wir müssen darüber hinaus überlegen, was wir konkret - nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen der amerikanischen Behörden - bei der Bekämpfung Organisierter Kriminalität und der Drogenmafia tun können.

Drittens: Gerade aus deutscher Siebt ist die Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine existentielle Frage. Wir haben mehr Nachbarn als jedes andere Land in Europa. Seit nunmehr 48 Jahren leben wir in Frieden, aber es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, dass dies für alle Zukunft garantiert sei. Die bösen Geister der Vergangenheit sind nicht nur auf dem Balkan zu Hause.

Wir brauchen die politische Einigung Europas, um jedem Rückfall in nationale Rivalitäten früherer Zeiten vorzubeugen. Eine Art gehobener Freihandelszone reicht dazu nicht aus. Krieg und Frieden in Europa hängen davon ab, ob wir es schaffen, dieses „Haus Europa" fest, wetterfest zu bauen, so dass es nicht mehr zerstört werden kann.

In Zukunft können die Europäer die großen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen nur noch gemeinsam bewältigen. Nicht zuletzt der Krieg im früheren Jugoslawien hat die bisherigen Grenzen der Europäischen Gemeinschaft bei Krisenvorbeugung und Krisenlösung gezeigt. Seit zwei Jahren sehen wir Abend für Abend in den Fernsehnachrichten die schrecklichen Bilder vom Leiden der Menschen in Sarajevo und anderswo. Hier geht es um die Glaubwürdigkeit der europäischen Demokratien.

In vielen Ländern - auch bei uns in Deutschland - werden die Bemühungen zur Beendigung des Konflikts als nicht ausreichend empfunden. Angesichts der Schreckensbilder im Kriegsgebiet stellen viele die Frage, warum der Westen und insbesondere die NATO nicht mehr zur Beendigung des Konflikts tun. Ich habe viel Verständnis für diese Fragen. Dabei wird jedoch vergessen, wie sehr dieser Krieg durch Hass und Irrationalität geprägt wird, die in Jahrhunderten gewachsen sind.

Es gibt in Wahrheit kein Patentrezept für eine Lösung dieses Konflikts. Gerade wir Deutschen sollten mit unseren Ratschlägen besonders vorsichtig sein. Wir haben nicht das moralische Recht, von den Verantwortlichen anderer Länder mehr zu verlangen, als wir selbst tun. Wir sollten vielmehr jenen jungen Soldaten und ihren Angehörigen Respekt bekunden, die unter Einsatz ihres Lebens dort für die Vereinten Nationen im Einsatz sind.

Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union bliebe Stückwerk, wenn nicht eine europäische Verteidigung hinzukäme. Der WEU fällt dabei eine Schlüsselrolle zu. Atlantische Allianz und europäische Verteidigung müssen sich sinnvoll ergänzen und gegenseitig verstärken. In diesem Zusammenhang war es ein großer Erfolg des jüngsten NATO-Gipfels in Brüssel, dass die Zusammenarbeit zwischen NATO und Europäischer Union wesentlich ausgebaut wird. Künftig wird die WEU für eigene Einsätze auf Streitkräfte der NATO zurückgreifen können. Gleichzeitig wird das von Staatspräsident Mitterrand und mir ins Leben gerufene EUROKORPS schon bald für die gemeinsame Verteidigung der Allianz, für Einsätze zur Friedenssicherung und für humanitäre Aufgaben zur Verfügung stehen.

IV.

Wir wollen dieses Europa als ein Europa der Bürger bauen. Dieses Europa soll föderal sein. Föderal heißt, dass die Kompetenz und Entscheidungsgewalt dort liegt, wo die Entscheidung am besten getroffen werden kann. Das ist im Zweifel auf der bürgernäheren Ebene.

In Brüssel soll nur das entschieden werden, was dort wirklich entschieden werden muss. Einige EG-Richtlinien sind sicherlich überflüssig. Man muss jedoch auch aus Gründen der Fairness zugeben, dass viele dieser Richtlinien auf Initiativen nationaler Interessengruppen zurückzuführen sind. Deswegen haben wir in Edinburgh vor einem Jahr schon beschlossen, dass wir Kriterien und Kontrollmechanismen aufbauen, um derartige Entwicklungen für die Zukunft unmöglich zu machen.

Wir wollen nicht einen europäischen Überstaat, wir wollen ein europäisches Gemeinwesen, ein „Haus Europa" bauen, in dem sich die Menschen wohl fühlen und in dem vieles unterschiedlich bleiben wird. Dieses Europa soll ja nicht eine graue Einheitsfront bilden, sondern die ganzen Facetten und die ganze Farbenpracht, das ganze bunte Bouquet Europas soll dabei deutlich werden. Im Europa der Zukunft bleiben wir Deutsche, Briten, Italiener oder Franzosen. Wir bleiben fest in unserer Heimatregion verwurzelt. In diesem Sinne steht „Maastricht" eben nicht für einen europäischen Leviathan, sondern für ein bürgernahes, dezentralisiertes und demokratisches Europa. Gerade die Verschiedenartigkeit der Völker Europas bietet die Voraussetzung für eine Synthese, die die besten Eigenschaften der Völker miteinander verbindet. Die Kraft Europas liegt doch gerade in dem fruchtbaren Spannungsverhältnis zwischen Einheit und lebendiger Vielfalt unseres kulturellen Erbes.

In diesen Zusammenhang gehört auch, dass die Europäische Union, so wie sie sich jetzt darstellt, ein Torso ist. Ich hoffe, dass 1995, wie geplant, Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen der Europäischen Union beitreten werden. Sicher gibt es bei den derzeitigen Verhandlungen noch Schwierigkeiten. Wir müssen jedoch versuchen, den schwierigen Weg in die Zukunft gemeinsam zu gehen. Ebenso wie der Beitritt der EFTA-Staaten für mich zur Entwicklung der Europäischen Union selbstverständlich dazu gehört, wäre es für mich inakzeptabel, wenn die Grenze der politischen Union auf Dauer die Oder-Neiße-Grenze wäre. Deshalb haben wir auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen im Juni vergangenen Jahres auch unseren östlichen Nachbarn eine klare Beitrittsperspektive eröffnet.

Ich weiß, es sind gewaltige Aufgaben, die uns in Europa bevorstehen. Ich weiß, man kann darüber verzagen. Ich weiß aber auch, es ist nicht die Sache einer einzigen Generation, sondern es sind Aufgaben von Generationen, aber wir können doch Europa voranbringen. Dieser Weg hat uns viel Glück gebracht. Er hat uns die Deutsche Einheit gebracht.

Wenn wir jetzt im Sinne von Thomas Mann sagen: „ Wir sind deutsche Europäer und europäische Deutsche ", dann ist es doch eine großartige Sache für die Zukunft - in Freiheit, in Frieden leben zu können! Wir können etwas tun im Blick auf die Hoffnungen weiter Teile der Dritten Welt, Lateinamerikas, Asiens und Afrikas, jener Länder und Völker, die ja von Europa nicht nur Gutes, sondern auch sehr viel Ungutes im Laufe ihrer Geschichte erfahren haben.

Wir müssen den Reichtum an Kulturgütern, an geistigen Entwicklungen verschiedenster Art nutzbar machen. Er ist eine ganz wesentliche Grundlage der menschlichen Schaffenskraft, und damit auch Grundlage für politischen wie ökonomischen Erfolg. Ich glaube, wir sollten dabei vor allem an die nächste, an die junge Generation denken und in ihrem Sinne handeln. Junge Leute in Deutschland - also Sie, die Sie hier studieren, - haben die Chance, auch künftig in Frieden und Freiheit zu leben, ein Glück, das niemals zuvor einer Generation in Deutschland beschert war. Dafür müssen wir aber auch etwas tun.

Wir haben heute die Chance, an gute Traditionen - aus jener Zeit vor der Ära nationalstaatlicher Rivalitäten - anzuknüpfen, als man sein Studium zum Beispiel in Oxford begann, es in Bologna fortsetzte und dann nach Paris ging.

Sie, liebe Studentinnen und Studenten, leben bereits heute in Europa vor, was wir für morgen erreichen wollen: einen Kontinent der offenen Grenzen, der guten Nachbarschaft und Freundschaft. Es geht um Ihre Initiative, Ihre schöpferische Intelligenz, Ihr Selbstbewusstsein, aber auch um Ihre Fähigkeit, einen Beitrag zur Zukunft unseres Landes und Europas zu leisten.

Ich wende mich gerade an Sie, die Studentinnen und Studenten, denn es ist eigentlich weit mehr Ihr Europa, von dem ich rede, als das meine. Wenn Sie 63 oder 64 Jahre alt sind, dann denken Sie natürlich darüber nach, wie viel Zeit Ihnen noch bleibt. Sie denken anders als der 20-jährige Student, der ich im Jahre 1950 war. Aber eines habe ich in Erinnerung behalten, dass wir damals eine Generation waren, die es sich zutraute, dieses Europa zu bauen.

Deswegen gibt es keinen Grund zu jenem Kulturpessimismus, der in Deutschland leider hoch bezahlt wird. Ich empfinde vor allem Dankbarkeit, dass es in meiner Generation möglich war, das Werk der großartigen Gründerinnen und Gründer der Bundesrepublik fortzusetzen.

Europa - das ist die Zukunft, die ich uns wünsche, vor allem aber Ihnen, den Studentinnen und Studenten.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 12 (4. Februar 1994).