19. Juni 1991

Rede zur Eröffnung der KSZE-Außenministerkonferenz in Berlin

 

I.

Es ist mir eine große Freude, Sie hier in Berlin begrüßen zu können. Kein Ort in Europa spiegelt die Tragweite Ihres Treffens sinnfälliger wider als Berlin. Diese Stadt war über vier Jahrzehnte schmerzendes Symbol der Teilung Deutschlands, die zugleich die Teilung unseres europäischen Kontinents war. Stets verkörperte Berlin jedoch auch den Willen des deutschen Volkes zur Einheit in Freiheit.

Heute steht Berlin für die Kraft und den Erfolg der Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker, niedergelegt in den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und der Schlussakte von Helsinki. Die Deutschen haben die widernatürliche Teilung, unter der sie mehr als 40 Jahre gelitten haben, überwunden und im Einvernehmen mit allen ihren Nachbarn ihre Einheit wiedergefunden. Ein großes Ziel deutscher und europäischer Politik wurde damit erreicht: die geschichtlich gewachsene Einheit unseres Kontinents kann neu begründet werden.

Gut ein halbes Jahr nach dem KSZE-Gipfeltreffen in Paris treten Sie heute zum ersten Mal als Rat zusammen, wie dies die „Charta von Paris für ein neues Europa" vorsieht. Die Charta weist dem Rat die Rolle des zentralen Forums für regelmäßige politische Konsultationen im KSZE-Prozess zu. Es gilt, diese Chance jetzt zu nutzen und die Weichen für den nächsten KSZE-Gipfel in Helsinki zu stellen.

II.

Im Streben der Völker nach Freiheit, nach Frieden und nach Gerechtigkeit, findet das ganze Europa zu sich selbst und zu seiner Einheit zurück. Der Mensch in seiner Würde und mit seinen Rechten wird endlich in ganz Europa zum Maßstab des staatlichen und gesellschaftlichen Handelns. Wir legen damit in Europa den Grundstein für eine neue Kultur des Zusammenlebens der Völker: statt Konfrontation gute Nachbarschaft, statt Rivalität Zusammenarbeit, statt Hegemonie Gleichberechtigung. Das muss der Kurs in die Zukunft unseres Kontinents sein. Europa setzt damit zugleich neue Maßstäbe für das Zusammenleben auch in anderen Teilen unserer unruhigen Welt. Der historische Beitrag der Völker Mittel-, Ost- und Südosteuropas, mit ihrer friedlichen Revolution die Trennung unseres Kontinents zu überwinden, ist unvergessen. Der Elan dieser Bewegung, die nicht von oben verordnet, sondern von den Menschen selbst getragen war, verpflichtet uns, den Bau des einen Europa mit aller Kraft voranzubringen.

Dieses Europa der Zukunft muss alle Staaten unseres Kontinents umfassen. Kein Staat, der sich den Prinzipien der „Charta von Paris" verpflichtet hat, darf ausgegrenzt werden. Auch einer demokratischen, dem „neuen Denken" verpflichteten Sowjetunion wird im zukünftigen Europa der ihr gebührende Platz zukommen.

Dabei kann das künftige Europa nicht ohne die aktive und andauernde Mitwirkung der nordamerikanischen Demokratien geschaffen werden. Immanuel Kant hat 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" die Staaten im Namen der Vernunft aufgefordert, einen Völkerstaat zu bilden, der zuletzt alle Völker der Erde umfassen würde. Es ist meine Überzeugung, dass die Völker Europas noch nie so. entschlossen waren, diese Worte als Maxime ihres Handelns zu bejahen.

Die Idee Europa entstand aus dem Bewusstsein des gemeinsamen geistigen Ursprungs und kulturellen Erbes. Europa ist geprägt von einer 2000jährigen christlichen Tradition, von antiker Philosophie, von Humanismus und Aufklärung und nicht zuletzt von dem großen Vermächtnis der Französischen Revolution: der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Dieses gemeinsame Erbe wollen wir in die europäische Zukunft einbringen.

III.

Der Weg dorthin mag manchem noch beschwerlich erscheinen. Und es genügt auch nicht, sich nur auf Prinzipien zu verständigen. Was wir jetzt brauchen, ist eine Politik für die Menschen, die diese Prinzipien mit Leben erfüllt. Ich begrüße in diesem Zusammenhang, dass sich eine Parlamentarische Versammlung der KSZE konstituiert hat - sie soll und muss Sprachrohr der Bürger sein.

Die gemeinsame Verantwortung aller KSZE-Mitgliedstaaten erfordert, jetzt mit Vorrang eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, wie sie die „Charta von Paris" vorgezeichnet hat. Gewiss: Das Gefühl der Bedrohung durch Krieg ist gewichen, aber Unwägbarkeiten und im einzelnen schwer einzuschätzende Risiken sind geblieben.

Die Antwort hierauf muss eine Sicherheitspolitik sein, die die gemeinsame Verantwortung aller Europäer in den Mittelpunkt stellt. Das heißt konkret: Erstens: Wir müssen die politischen Konsultationen verstetigen und ausbauen. Nur im Dialog lassen sich die anstehenden Fragen lösen. Zweitens: Wir müssen die bestehenden Institutionen ausbauen, um akute Probleme zu bewältigen und potentielle Krisen zu verhüten. Drittens: Wir müssen neue Mechanismen für die Bewältigung von Konflikten und zur Streitbeilegung schaffen. Das Konfliktverhütungszentrum muss zielbewusst gestärkt werden.

Ein Blick auf die besorgniserregende Entwicklung in Teilen Europas unterstreicht diese Notwendigkeit. Uns kann und darf es nicht gleichgültig sein, wenn irgendwo in Europa die Gefahr militärischer Gewalt droht. In den Augen der Bürger unserer Staaten stehen hier zu Recht die Wirksamkeit und die Glaubwürdigkeit des KSZE-Prozesses auf dem Prüfstand. Alte und neue Rivalitäten lassen sich nur entschärfen, wenn Vertrauen an die Stelle von Misstrauen tritt und die Einsicht wächst, dass Probleme nur miteinander, nicht gegeneinander gelöst werden können. Auch bin ich überzeugt, dass verstärkte regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit dazu beitragen kann, Konfliktpotential zu entschärfen.

Wir Deutsche haben diese Zusammenarbeit mit einer Vielzahl unserer westlichen Nachbarn erfolgreich praktiziert. Wir sind entschlossen, dieses Modell auch mit unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa zu entwickeln.

IV.

Die neue europäische Architektur muss auf den Grundlagen aufbauen, die den Wandel in ganz Europa bewirkt und vorangebracht haben. Diese sind: der KSZE-Prozess, der Europarat, die Europäische Gemeinschaft, das Atlantische Bündnis, der Rüstungskontroll- und Abrüstungsprozess. Wir wollen, dass auch diejenigen Institutionen, die unter den Bedingungen der Nachkriegszeit nicht für alle europäischen Staaten konzipiert waren, nunmehr dem größeren, einen freien Europa dienen.

Erstens: Der Europarat steht für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Er ist zugleich ein wichtiges Forum des kulturellen Dialogs. Wir wollen diese älteste europäische Staatenorganisation für ganz Europa nutzen und ihren Erfahrungsschatz in den Bau des künftigen Europa verstärkt einbringen. Die Zugehörigkeit zum Europarat bedeutet gleichzeitig Privileg und Verpflichtung. Wir unterstützen daher die Beitrittsbemühungen unserer Nachbarn aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

Zweitens: Die Europäische Gemeinschaft ist schon heute der wesentliche Stabilitätsraum in Europa. Ihr Erfolg zeigt beispielhaft, dass Stabilität auf unserem Kontinent nicht allein und vorwiegend aus militärischen Potentialen erwächst. Tatsächlich wird in dem Europa, das wir bauen wollen, der militärische Faktor immer mehr in den Hintergrund treten. Andere Elemente, wie die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, eine funktionierende Soziale Marktwirtschaft, Ökologie, kultureller Austausch und Technologie werden als unerlässliche Garanten für Stabilität immer wichtiger werden. Staaten, in denen das Recht herrscht und die den inneren Ausgleich suchen, stehen auch zum Frieden und zum Völkerrecht. In diesem Sinn wird die Europäische Gemeinschaft den Weg zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Wahrungsunion unbeirrt fortsetzen. Die Europäische Gemeinschaft wird zugleich ihre Anstrengungen verstärken, den Reformprozess in Mittel-, Ost- und Südosteuropa nach Kräften zu fördern. Die geplanten Assoziierungsabkommen sind dabei eine wesentliche Stütze. Darüber hinaus müssen die Länder, die die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen, auch die Chance eines späteren Beitritts haben. Auch der Sowjetunion hat die EG ein umfassendes Abkommen angeboten, das ihr die Möglichkeit gibt, sich auf den europäischen Markt hinzuorientieren.

Drittens: Unverzichtbarer Sicherheitsverbund zwischen Europa und Nordamerika ist und bleibt die Nordatlantische Allianz. Das Bündnis wird der grundlegend veränderten Sicherheitslage angepasst, seine Strategie und Struktur werden gewandelt. Zugleich hat es den ehemaligen Gegnern die Hand zur Freundschaft gereicht. Wir wollen den Dialog zwischen dem Bündnis und der Sowjetunion sowie den Staaten Mittel- und Südosteuropas ausgestalten und durch ein dichtes Netz von Kontakten dauerhaftes Vertrauen schaffen. Die Stabilitätswirkungen der Allianz reichen damit über den Kreis der Mitgliedstaaten hinaus.

Viertens: Der Rüstungskontroll- und Abrüstungsprozess hat entscheidend dazu beigetragen, den Weg zum politischen Wandel in Europa zu ebnen. Es lohnt sich, einmal zurückzublicken, um sich das Ausmaß der Veränderung vor Augen zu führen: Noch vor wenigen Jahren war Europa eine waffenstarrende Region. Heute bauen wir dieses Waffenarsenal zügig ab! Ich nenne als Beispiel den INF-Vertrag. Auf seiner Grundlage sind inzwischen alle Mittelstreckenraketen beseitigt und verschrottet worden. Ich nenne den Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa. Nachdem die Kontroverse über seine Auslegung zufriedenstellend beigelegt ist, muss dieser Stützpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur nunmehr bald ratifiziert werden. Vordringliches Anliegen ist es jetzt, dass in den Folgeverhandlungen bis zum nächsten KSZE-Treffen in Helsinki eine Vereinbarung über Begrenzung und Reduzierung des Militärpersonals erreicht wird.

V.

Sie werden auch die Bilanz der wirtschaftlichen Übergänge und des sozialen Wandels in Europa ziehen und neue Perspektiven aufzeigen. Hierbei werden die Fragen von Technologie und Ökologie eine besondere Rolle spielen.

Wir in Deutschland wissen aus eigener Anschauung, dass der Übergang von einer zentralistischen Kommandowirtschaft zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialer Marktwirtschaft schwierig und langwierig ist. Die Größe der Herausforderung, die wir in den neuen Bundesländern erfahren, ist beispielhaft für das, was auch von den Staaten Mittel- und Osteuropas einschließlich der Sowjetunion zu bewältigen sein wird. Ihr Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft erfordert Mut, Geduld und eine hohe Bereitschaft zum Wandel, nicht zuletzt bei den Menschen.

Die entscheidenden Anstrengungen müssen in den betroffenen Ländern selbst unternommen werden. Es liegt aber im Interesse aller KSZE-Partner Staaten, dass die Reformstaaten Erfolg haben und dass Europa nicht durch eine Wohlstandsgrenze erneut geteilt wird. Deshalb ist zusätzlich Hilfe für die Reformstaaten - es geht um die Hilfe aller Länder des Westens - unerlässlich, um den notwendigen Wandel im Inneren abzustützen. Es wird Hilfe zu Selbsthilfe sein! Wir wissen: Dies ist eine lohnende Investition in eine friedliche und stabile Zukunft.

VI.

Meine Damen und Herren, wir alle sind uns bewusst, dass der Bau des neuen Europa Zeit braucht. Dieser Kontinent trägt an der Last seiner Geschichte, die vor allem in diesem Jahrhundert unsägliches menschliches Leid gesehen hat. Diese Geschichte lässt nur einen Schluss zu: Es darf nie mehr ein Zurück geben zu den Dämonen von gestern, zu Nationalismus und Rassismus, zu ideologischer Intoleranz, zur Androhung und zum Einsatz von Gewalt. Mein besonderer Wunsch ist es, dass von Ihren Konsultationen in Berlin eine Botschaft der Ermutigung ausgeht:

  • Wir müssen den Menschen in Europa das Gefühl und die Sicherheit geben, dass ihre Zukunft in Frieden und Freiheit gewährleistet ist.
  • Wir müssen deutlich machen, dass es in ganz Europa nur noch eine Herrschaft gibt: die des Rechts.

Wenige Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts haben wir die Chance, ein Europa zu bauen, das die Verwerfungen seiner Geschichte hinter sich lässt, das seine Einheit verwirklicht, ohne die gewachsene Vielfalt seiner Nationen und Kulturen preiszugeben. Sie werden dabei in Deutschland einen zuverlässigen Partner an Ihrer Seite finden. [...]

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 72 (22. Juni 1991).