19. Juni 1997

Rede vor dem Chicago Council on Foreign Relations in Chicago

 

Herr Gouverneur,
lieber John Bryan,
lieber John Rielly,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

ich bedanke mich für dieses freundliche Willkommen und gratulierte dem Chicago Council sehr herzlich zu seinem 75. Geburtstag.

 

Die Arbeit, die im Chicago Council geleistet wird - die Beschäftigung mit den großen außenpolitischen Fragen -, ist ein wichtiger Brückenschlag Ihres Landes in die Welt. Ich weiß, die Beschäftigung mit der Außenpolitik findet nicht immer die ihr gebührende Anerkennung. Das ist bei Ihnen nicht viel anders als bei uns zu Hause: Es sind vor allem die tägliche Arbeit, der Alltag, die Probleme im eigenen Land, die die Menschen in Anspruch nehmen. Außenpolitischen Problemen wird dabei leider oft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Diejenigen, die in den vergangenen 75 Jahren im Council mitgearbeitet haben und die ihm geholfen haben - auch mit großzügigen Spenden, die sicherlich auch heute dringend gebraucht werden -, haben gegen solche Tendenzen ein gutes Zeichen gesetzt. Der Chicago Council ist für mich vor allem auch mit einem Namen verbunden: Für Ihre Arbeit, Ihr Engagement danke ich Ihnen, lieber John Rielly, sehr herzlich!

 

Wie wichtig bei allen innenpolitischen Herausforderungen der Blick auf die Außenpolitik und auf die internationalen Beziehungen insgesamt ist, läßt sich leicht verdeutlichen. Vergegenwärtigen Sie sich bitte einmal folgendes: Als ich hier zum letztenmal vor elf Jahren sprach, war die Welt noch eine völlig andere. Wenn ich Ihnen damals gesagt hätte, ich würde eines Tages hierher kommen, um anschließend gemeinsam mit dem demokratisch gewählten Präsidenten Rußlands an einem Weltwirtschaftsgipfel teilzunehmen - und das auch noch als Kanzler des wiedervereinten Deutschlands -, dann hätten Sie mich wohl für verrückt erklärt.

 

Die Veränderungen, die wir in den letzten Jahren erlebt haben und immer noch erleben, hat wohl keiner von uns erwarten können. Und doch sind sie eingetreten. Genau diese Erfahrung ist ein wesentlicher Grund dafür, sich einen wachen, offenen Blick für die Entwicklungen in der Welt zu bewahren. Darum ist auch die Arbeit des Council so wichtig.

 

Wir sind in dieser Dekade Zeugen historischer Erfolge der westlichen Wertegemeinschaft geworden: des Zusammenbruchs des kommunistischen Imperiums im Osten Deutschlands und Europas, des Falls der Mauer in Berlin, der Deutschen Einheit. Wenn ich daran zurückdenke, erfüllt mich eine große Dankbarkeit. Wir Deutschen haben dieses Geschenk der Geschichte vor allem auch der Hilfe und der Unterstützung der Amerikaner zu verdanken. Ich hatte vor zwei Wochen in Washington die Gelegenheit - anläßlich der Feierstunde für George C. Marshall -, Ihrem Land hierfür Dank zu sagen.

 

Viele mögen heute glauben, daß Dankbarkeit aus der Mode gekommen sei. Einer unserer großen Theologen und Philosophen - Romano Guardini - hat einmal das Wort geprägt: Dankbarkeit ist die Erinnerung des Herzens. Und ich kann mich noch sehr gut an das, was war, erinnern: 1947 war ich 17 Jahre alt. Wir Deutschen waren damals dem Verhungern nah, es war eine der bittersten Zeiten in der Geschichte unseres Volkes. Auch die geistig-moralische Not war nach den vielen Schandtaten, die in deutschem Namen durch die Nazi-Barbarei begangen wurden, für uns Deutsche erdrückend. Sechs Monate vor der Verkündung des Marshall-Plans, an Weihnachten 1946, gab es die höchste Zahl an Selbstmorden in der deutschen Geschichte.

 

In dieser Situation, als der Horizont dunkel und ohne Licht war, setzte Präsident Truman ein Zeichen der Hoffnung. Er spürte, wie wichtig dies für die Europäer und vor allem auch für uns Deutsche war. In George Marshall - seinem kongenialen Außenminister - fand er einen Partner, der dieses Signal der Hoffnung in konkrete Politik geformt hat. Dabei sollten wir uns auch mit Dankbarkeit an die großartige Arbeit Senator Vandenbergs erinnern, der damals bei der republikanischen Senatsmehrheit erfolgreich für die Zustimmung zum Marshall-Plan geworben hat.

 

Der Marshall-Plan hat reiche Früchte getragen. Stalin konnte ihn zwar für die von ihm unterdrückten Länder im Osten Europas verhindern, aber letztlich hat die Idee der Freiheit doch gesiegt. Wir Deutschen werden übrigens nie vergessen, daß vor fünfzig Jahren, nicht zuletzt auch aus Ihrem Staat, Herr Gouverneur, Hilfe kam. Viele der Amerikaner, die hier lebten, haben ihre Bindungen an die alte Heimat nicht vergessen und uns in jenen Tagen beigestanden. In vielen deutschen Familien, auch in meiner Heimatstadt, sind damals die Lebensmittelpakete angekommen. Sie waren eine unschätzbare Hilfe und haben als Zeichen der Mitmenschlichkeit ihren Empfängern neue Hoffnung und Lebensmut geschenkt.

 

Wir Deutschen werden ebensowenig vergessen, was das amerikanische Volk auch später für uns getan hat. Dazu gehört, daß bei uns in Deutschland Millionen amerikanischer Soldaten mit ihren Familien oder oft allein - fern der Heimat - unsere Freiheit zur Zeit des Kalten Krieges verteidigt haben. Mit ihrer Hilfe wurden Frieden und Freiheit diesseits des Eisernen Vorhangs tagtäglich gesichert und bewahrt.

 

In den Jahren 1989/90 dann hatten manche meiner europäischen Kollegen zunächst Probleme mit dem Gedanken an ein vereintes Deutschland. In jenem Augenblick haben uns die Amerikaner wiederum geholfen - allen voran George Bush, den ich hier ausdrücklich und dankbar erwähnen möchte. Ohne ihre Hilfe - und das Mittun von Michail Gorbatschow - wäre die Deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Wir haben das Geschenk der Einheit erhalten ohne Krieg, ohne Blutvergießen und mit der Zustimmung all unserer Nachbarn. So etwas hat es in der Geschichte noch nie gegeben. Dafür bin ich besonders dankbar.

 

Was in den zurückliegenden Jahrzehnten galt, gilt auch für das 21. Jahrhundert, das in wenigen Jahren beginnt: Europa braucht Amerika, aber Amerika braucht auch Europa. Gewiß gilt es, die Entwicklungen in anderen Regionen der Welt nicht zu vernachlässigen. Das gilt insbesondere auch für uns in Europa. Zugleich ist es aber wichtig, das transatlantische Netzwerk zu verstärken. Wir brauchen uns gegenseitig auch in Zukunft - heute vielleicht in einer anderen Weise als noch vor ein paar Jahren, weil die unmittelbare militärische Bedrohung durch den Warschauer Pakt nicht mehr existiert. Unsere Beziehung ruht aber auch weiterhin auf drei festen Säulen: erstens den gemeinsamen Werten, die uns politisch wie geistig-moralisch zusammenschließen; zweitens auf unseren gemeinsamen Interessen und drittens auf unserer gemeinsamen Arbeit an einer freiheitlichen Weltwirtschaftsordnung.

 

Meine Damen und Herren, im deutsch-amerikanischen Verhältnis zeichnen sich Veränderungen ab. Unmittelbar nach dem Krieg wußten wir mehr übereinander als heute. Viele Deutsche waren damals nach Amerika gegangen, ohne ihre alte Heimat - trotz schlimmer Erfahrungen - völlig zu vergessen. Sie nahmen an der Entwicklung in Deutschland lebhaften Anteil. So war es damals fast selbstverständlich, daß in der amerikanischen Politik viele waren, die die deutsche Situation und die europäischen Verhältnisse sehr genau kannten. Wenn man nach Washington kam, war es nicht ungewöhnlich, daß man auf Gesprächspartner traf, die über fundierte Deutschlandkenntnisse verfügten.

 

In unseren beiden Ländern sind neue Generationen herangewachsen. Zwei Drittel der heute lebenden Deutschen sind nach Hitler geboren und aufgewachsen. Sie wissen von Krieg und Nachkriegszeit nur aus der Erinnerung und aus den Erzählungen von Älteren, aus der Literatur oder aus Filmen. Deswegen müssen wir jetzt - das habe ich mit Präsident Clinton auch so verabredet - dafür sorgen, daß vor allem junge Menschen unserer beiden Länder wieder mehr über- und vor allem voneinander erfahren.

 

Von jungen Leuten und von Schülern werde ich oft gefragt, was das Amt des Bundeskanzlers eigentlich für ein Beruf sei, mit welchen anderen Berufen ich meine Tätigkeit vergleichen könne. Die meisten sind sehr erstaunt, wenn ich ihnen sage: Der beste Vergleich, der mir einfällt, ist der mit dem Försterberuf. Ein Förster pflanzt Bäume und hegt und pflegt den Wald. Er weiß dabei, daß er die Zeit nicht mehr erleben wird, in der diese Bäume groß sein und Früchte tragen werden. Er gestaltet für künftige Generationen. Dies muß auch ein Politiker tun. Daß er dabei nicht vergessen sollte, die nächste Wahl zu gewinnen, versteht sich von selbst; wenn man allerdings nur noch darauf aus ist, die nächste Wahl zu gewinnen, dann verliert man die Fähigkeit, auch für die nächsten Generationen mitzudenken und zu gestalten.

 

Wir müssen jetzt viele junge Bäume pflanzen - in Deutschland und Amerika, an Universitäten, auch mit Hilfe des Council -, damit junge Amerikaner nach Deutschland kommen und junge Deutsche nach Amerika gehen; damit sie Land und Leute kennenlernen und etwas von der Weltoffenheit und der geistigen Freiheit dieses großartigen Landes kennenlernen.

 

Meine Damen und Herren, wir stehen weltweit vor großen Veränderungen. Neue regionale Zusammenschlüsse haben sich gebildet. Völker rücken zusammen: hier bei Ihnen in der NAFTA, im MERCOSUR Lateinamerikas, in Teilen Asiens - und bei uns mit dem Bau des Hauses Europa.

 

Die Vereinigung Europas geht voran. Mag sein, daß dies zuweilen langsam geschieht, mitunter scheint es sogar Stillstand zu geben. Wer dies kritisch vermerkt, hat sicher recht. Aber man muß auch versuchen, dabei fair zu sein. Die Europäer haben sich in der Europäischen Union auf einen Weg begeben, den vor fünfzig Jahren noch niemand für möglich gehalten hätte. Wir bauen jetzt ein gemeinsames Haus, in dem die europäischen Völker, die dies wollen, ihren Platz finden. Das Wichtigste daran aber ist, daß dieses Gebäude eine feste Hausordnung hat. Sie sorgt dafür, daß Streitigkeiten - die es immer geben wird - nie mehr auf der Straße - sprich: kriegerisch - ausgetragen werden.

 

François Mitterand hat in seiner letzten Rede vor dem Europäischen Parlament kurz vor seinem Tod ausgerufen: "Der Nationalismus, das ist der Krieg!" Das wollen wir nie wieder. Wir wollen, daß amerikanische Mütter nie wieder ihre Söhne in einen Krieg nach Europa schicken müssen. Wir wollen, daß sie ihre Söhne nach Europa schicken, damit sie die Menschen dort kennenlernen, damit sie dort studieren oder arbeiten. Das muß das Ziel sein! Frieden in Freiheit ist die wichtigste Voraussetzung für unser aller Zukunft.

 

Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Woche den Vertrag von Amsterdam beschlossen. Drei Dinge sind aus amerikanischer Sicht dabei vor allem wichtig: Sechs Monate nach Abschluß des Vertrages werden die Verhandlungen über die Erweiterung der Europäischen Union aufgenommen werden. Die Erweiterung ist ein Prozeß - Verhandlungen, Ratifikation in den Parlamenten, möglicherweise Volksabstimmungen in den einzelnen Ländern -, der Jahre dauern wird. Wichtig ist jedoch, daß die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas, daß beispielsweise die Polen, die Tschechen und die Ungarn bald Teil der Europäischen Union sein werden und daß sie, wie Václav Havel es gesagt hat, nach dem Ende der kommunistischen Zwangsherrschaft endlich ganz "nach Europa heimkehren" können.

 

Die Ostgrenze Deutschlands - das ist die Grenze zwischen Deutschland und Polen, die Oder-Neiße-Linie - darf auf Dauer nicht die Ostgrenze der Europäischen Union bleiben. Wir wollen, daß das möglich wird, was Konrad Adenauer zu Beginn seiner Amtszeit 1949 zum vorrangigen Ziel deutscher Außenpolitik erklärt hat: Verständigung und Aussöhnung besonders mit Frankreich, Israel und Polen. Jetzt wollen wir das, was mit unserem westlichen Nachbarn Frankreich möglich war, auch mit unserem östlichen Nachbarn Polen schaffen. Dies ist um so wichtiger, als die deutsch-polnische Geschichte und Grenze mit bitteren Erfahrungen auf beiden Seiten verbunden ist. Aus diesen Erfahrungen ist eine entscheidende Lehre zu ziehen: Wir müssen dafür sorgen, daß es nie wieder Grenzprobleme in Europa gibt. Wer an Grenzen rührt, der gefährdet den Frieden. Wir müssen Grenzen durchlässig machen - so wie zwischen Deutschland und Frankreich. Das ist und bleibt das Ziel unserer Politik. Deswegen wollen wir, daß Polen schnell Teil der Europäischen Union wird.

 

Meine Damen und Herren, das berühmte Wort Winston Churchills von den Vereinigten Staaten von Europa ruft - so schön es auch ist - immer wieder Mißverständnisse hervor. Die Verhältnisse und Traditionen in Europa sind eben sehr vielfältig. Wir bleiben auch in der Europäischen Union unseren jeweiligen Identitäten treu. Wir bleiben Franzosen, Italiener oder Deutsche. Wir wollen die Einheit in Vielfalt auf der Grundlage der kulturellen und historischen Gemeinsamkeiten, die die Europäer seit vielen Jahrhunderten miteinander verbinden.

 

Zu dieser Einheit gehört auch die Wirtschafts- und Währungsunion mit einer gemeinsamen Währung - dem Euro. Meine Botschaft lautet: Der Euro wird zum vorgesehenen Zeitpunkt kommen. Wie viele Staaten der Europäischen Union in der ersten Phase dabei sein werden, kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist auch momentan nicht von Bedeutung. Im Gegenteil: Jeder von uns sollte erst einmal seine eigenen Hausaufgaben machen. Im Frühjahr nächsten Jahres werden wir dann - auf der Grundlage der vereinbarten Konvergenzkriterien - zu Entscheidungen kommen.

 

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen weiteren Punkt unterstreichen: Europa ist für mich in der Wirtschafts- und Handelspolitik nicht als eine Festung vorstellbar. Ich bin strikt dagegen, Grenzen innerhalb der Europäischen Union zu beseitigen, um sie dann an den Außengrenzen zu verstärken. Wir sind leidenschaftliche Anhänger eines freien Welthandels. Wir wollen und werden unseren Beitrag dazu leisten, daß sich in diesem Sinne die Möglichkeiten von Handel und Zusammenarbeit noch weiter verbessern.

 

Gerade für die Exportnation Deutschland ist dies von existentieller Bedeutung. Wir sind nach den Amerikanern weltweit die Nummer zwei unter den Exportnationen. Wir wissen, daß der frische Wind des Wettbewerbs eine Volkswirtschaft gesund hält. Einer meiner politischen Ziehväter, Ludwig Erhard, hat uns jungen Leuten damals gesagt: Reißt die Fenster und die Türen auf für die Wirtschaft. Wenn man alles zumacht, dann ist es zwar warm, aber auch stickig - und man schläft ein. Das gilt auch heute.

 

Meine Damen und Herren, wir stehen heute in Europa am Ende dieses Jahrhunderts vor Chancen, wie wir sie nie zuvor hatten. Ich sage das einmal bezogen auf die Deutschen, insbesondere die jungen Deutschen: Junge Männer in Deutschland, die ihren Wehrdienst leisten, können dies zum erstenmal in der Geschichte in der Gewißheit tun, daß sie nach menschlichem Ermessen nie in einen Krieg ziehen müssen. Daß dies so ist, dazu leistet die Atlantische Allianz auch heute einen wichtigen Beitrag: Vor ein paar Tagen haben wir in Paris eine neue Form der Zusammenarbeit mit Rußland vereinbart. In ein paar Tagen, Anfang Juli in Madrid, werden wir in der NATO die Aufnahme von drei Ländern - nämlich Polen, Ungarn und Tschechien -, vielleicht auch von weiteren Ländern, besprechen. Auch dies gehört zu den Entwicklungen, die noch vor elf Jahren niemand im Traum für möglich gehalten hätte!

 

Meine Damen und Herren, wenn in drei Jahren die Glocken zur Neujahrsnacht des Jahres 2000 läuten, dann beginnt für uns ein Jahrhundert der großen Chancen. Es liegt an uns, sie zu nutzen.

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 63. 30. Juli 1997.