19. Juni 1998

Erklärung auf der Pressekonferenz zum 2. Wirtschaftstag Ost der "Gemeinsamen Initiative für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland" in Schwerin

 

Meine Damen und Herren,

wir haben vor über einem Jahr in Berlin die "Gemeinsame Initiative für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland" verabredet. Es war ein gutes und wichtiges Signal gerade für die Menschen in den neuen Ländern, daß sich die Spitzenvertreter in Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik ihrer Verantwortung für den Aufbau Ost stellen.

Heute sind wir hier in Schwerin zum Wirtschaftstag Ost zusammengekommen, um zum zweiten Mal Zwischenbilanz zu unserer Gemeinsamen Initiative zu ziehen. Ich bedauere außerordentlich das Fernbleiben der Gewerkschaften aus wahltaktischen Gründen. Ich bin mir sehr wohl bewußt - ich habe dies gerade bei einer Rede auf dem Gewerkschaftstag des DGB wieder erlebt -, welche "Sympathiewelle" mir von Teilen der Führung des Deutschen Gewerkschaftsbundes entgegengebracht wird. Dies ist für mich aber nichts Neues. Ich habe weiterhin die Absicht, die Gespräche mit den beteiligten Gewerkschaften im Rahmen der Gemeinsamen Initiative fortzusetzen. Es gehört ebenfalls zu meinen Erfahrungen, daß sie nach der Wahl auch wieder stattfinden werden.

Wir - Bundesregierung, Repräsentanten der Wirtschaft gemeinsam mit den Vertretern der Länder - haben heute vormittag nach sorgfältiger Vorbereitung ein gutes und konstruktives Gespräch geführt. Wir sind uns darüber einig, daß vieles erreicht wurde. Wir sind uns ebenso darüber im klaren, daß für uns gemeinsam noch vieles zu tun ist. Der Ihnen vorliegende Fortschrittsbericht macht dies deutlich.

Bei allen noch bestehenden Problemen müssen wir immer sehen, daß die Menschen in den neuen und alten Ländern gemeinsam eine großartige Aufbauleistung vollbracht haben. Gerade die Menschen in den neuen Ländern haben allen Grund, auf die erreichten Fortschritte stolz zu sein. Sie verdienen unseren Respekt und unsere Anerkennung.

Es ist unübersehbar, daß der Aufbau Ost vorankommt und an Schwung gewinnt. Die ostdeutsche Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren deutlich an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. Die Exportwirtschaft der neuen Länder verzeichnet derzeit Zuwachsraten von über 20 Prozent. Auch die Industrie kommt in Fahrt. Nach den bitteren und unvermeidbaren Strukturanpassungen wächst sie nunmehr mit rund 10 Prozent. Ein sehr kompetenter Beobachter der Entwicklung in den neuen Ländern, Herr Professor Pohl, der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle, hat in diesen Tagen noch einmal unterstrichen - ich zitiere ihn wörtlich -: "Hier entsteht ein dynamischer Kern der ostdeutschen Wirtschaft." Ebenso positiv ist, daß viele Menschen hier in den neuen Ländern unternehmerische Eigeninitiative zeigen und sich selbständig machen. Der Gründungssaldo war im Vorjahr mit 11000 neuen Unternehmen wie in den Jahren zuvor wieder deutlich positiv.

Natürlich weiß ich auch - das gilt im übrigen für ganz Deutschland -, daß nicht jeder, der einen Betrieb neu gründet, auch tatsächlich die schwierigen Anfangsjahre übersteht. Entscheidend und erfreulich ist aber, daß wir unter dem Strich einen Überschuß aufweisen. 522000 mittelständische Unternehmen sind in den neuen Ländern heute bereits Arbeitgeber für rund 3,2 Millionen Menschen. Diese Zahl ist sehr gut. Sie spiegelt eine hoffnungsvolle Entwicklung wider.

Wahr ist aber auch, daß sich die Zahl der Arbeitsplätze - vor allem angesichts der schlechten Baukonjunktur - nicht so entwickelt hat, wie wir alle es noch vor einem Jahr gerade auch für die neuen Länder erwartet haben. Doch es ist ebenso unübersehbar, daß der Trendwende in den alten Ländern jetzt zunehmend auch Anzeichen für eine Trendwende am Arbeitsmarkt in den neuen Ländern folgen.

Von April auf Mai ist die Zahl der Arbeitslosen in den neuen Ländern um 97000 zurückgegangen. Dies war der stärkste Rückgang der Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung in einem Mai. Ein gutes Signal ist auch, daß im April die Beschäftigtenzahl im Verarbeitenden Gewerbe und im Bergbau erstmals seit 1991 wieder gestiegen ist. Insgesamt ist mit all diesen positiven Entwicklungen unsere Erwartung gut begründet, daß die Zahl der Arbeitslosen in den neuen Ländern Ende 1998 um rund 100000 niedriger sein wird als Ende 1997.

Bei alledem ist unbestritten, daß der Strukturwandel in den neuen Ländern noch nicht abgeschlossen und die Arbeitslosigkeit noch immer viel zu hoch ist. Wir müssen gemeinsam noch viel tun, um auf diesem Weg voranzukommen. Die Menschen in den neuen Ländern brauchen weiterhin jede notwendige Unterstützung. Für mich ist wichtig, daß für die deutsche Politik der Satz Verbindlichkeit hat: Der Aufbau Ost hat absolute Priorität.

Ich bedauere sehr, daß unter den deutschen Spitzenpolitikern außer mir niemand diesen Satz in dieser Deutlichkeit ausspricht. Ich weiß auch, daß diese Aussage von manchen in den alten Ländern entweder offen oder hinter vorgehaltener Hand in Frage gestellt wird. Über Solidarität gibt es zum Teil sehr unterschiedliche Meinungen. Ich habe diese Position nie verstanden. Wir haben vor fast neun Jahren gemeinsam gesagt: Wir sind ein Volk. Die Menschen in den neuen Ländern haben dies auf Straßen und Plätzen gerufen. Sie haben damit - auch mit Hilfe und Unterstützung unserer Freunde und Partner in der Welt - die Deutsche Einheit durchgesetzt.

Jeder muß begreifen, daß unser Volk eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wir haben gemeinsam den von Deutschen begonnenen Zweiten Weltkrieg überstanden und müssen gemeinsam auch seine Konsequenzen tragen. Über vier Jahrzehnte hatten wir Deutschen in den alten und den neuen Ländern unterschiedliche Lebensläufe. Die Menschen in der früheren DDR und den heutigen neuen Ländern haben dabei die Last und die Folgen des Zweiten Weltkriegs stärker zu spüren bekommen als jene, die - wie ich - in den alten Ländern aufgewachsen sind.

Deswegen stehe ich nachdrücklich dafür ein, daß das Prinzip "Aufbau Ost hat Priorität" in Deutschland fortgesetzt wird. Es ist für mich persönlich verbindlich. Wir werden dies auch bei den Beratungen zum Entwurf des Bundeshaushalts 1999 in einigen Wochen wieder deutlich machen. Die Bundesregierung hat ihre Anstrengungen für den Aufbau Ost in den letzten Wochen zusätzlich intensiviert. Ich nenne ein paar Beispiele:

Bis zum Jahr 2005 werden wir in den neuen Ländern die modernste Verkehrsinfrastruktur Europas geschaffen haben. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für private Investitionen und Arbeitsplätze. Ich freue mich, Ihnen für diesen Bereich heute eine weitere Maßnahme mitteilen zu können: Wir stellen aus dem Bundeshaushalt für Investitionen im Verkehrsbereich in den neuen Ländern jetzt zusätzlich 52 Millionen D-Mark zur Verfügung.

Was außerdem ganz wichtig ist: Das Geld ist ab sofort abrufbar. Damit können zügig viele kleinere Investitionen begonnen und unmittelbar beschäftigungswirksam werden. Dies ist übrigens einer der Punkte, der in den alten Ländern der Bundesrepublik nicht gänzlich unumstritten ist. Auch dort gibt es natürlich viele Wünsche in dieser Richtung. Gleichwohl ist es richtig, zusätzliche Mittel für die neuen Länder zur Verfügung zu stellen.

Wir unterstützen Unternehmen und Existenzgründer in Ostdeutschland. Es geht vor allem darum, den Zugang zu Wagniskapital weiter zu verbessern und Liquidität gerade für junge Unternehmer und Unternehmen zu sichern. Ich begrüße das neue Kreditprogramm der Deutschen Ausgleichsbank, das heute für Unternehmen in den neuen Ländern bekanntgegeben wird. Es soll kleineren Betrieben helfen, die wegen Zahlungsverzögerungen ihrer Auftraggeber in Schwierigkeiten geraten.

Die mangelnde Zahlungsmoral und das Verschleppen von Zahlungsverpflichtungen war auch in unserem Gespräch heute vormittag ein wichtiger Punkt. Dies bringt gerade neu gegründete Unternehmen im Mittelstand und im Handwerk in große Schwierigkeiten. Hier sind wir alle gemeinsam gefordert, die Situation zu verbessern. Wir können nicht erwarten, daß Männer und Frauen etwas Neues beginnen und den Sprung in die Selbständigkeit wagen, wenn sie zugleich damit rechnen müssen, daß ihnen - bildlich gesprochen - die Luft zum Atmen ausgeht, weil ihre Leistungen nicht rechtzeitig bezahlt werden - wie es vernünftig und moralisch begründet wäre.

Wir haben heute ebenfalls über die Lehrstellensituation in den neuen Ländern gesprochen. Wir haben das ganz klare Ziel, hier alles zu tun, damit jeder, der es möchte und kann - beides gehört zusammen -, seine Chance bekommt. Natürlich kann nicht jeder eine Lehrstelle in seinem Traumberuf erwarten. Voraussetzung ist auch die Bereitschaft der jungen Menschen, etwas lernen zu wollen und die mit einer Lehre verbundenen Pflichten ernst zu nehmen. Gelten muß außerdem, daß Ausbildung Vorrang vor Übernahme hat. Wenn wir all dies beherzigen, haben wir eine gute Chance, den jungen Menschen in den neuen Ländern - ebenso wie in den alten Ländern - mit einer qualifizierten Ausbildung eine Perspektive zu geben.

Die Bundesregierung hat in diesem Sinne gemeinsam mit den neuen Ländern auch 1998 eine Lehrstelleninitiative Ost verabredet. Damit werden 17500 zusätzliche Lehrstellen für Jugendliche bereitgestellt. Das sind 2500 mehr als im Vorjahr. Wir stärken damit unser duales System der Berufsausbildung. Es hat sich bewährt.

Dies ist erst in den letzten Tagen wieder auf dem EU-Gipfel in Cardiff deutlich geworden. Wir haben dort auch über die Arbeitsmarktprobleme in unseren Ländern gesprochen. Im wichtigen Bereich der Jugendarbeitslosigkeit liegt Deutschland mit rund 10 Prozent deutlich unter dem EU-Durchschnitt von rund 20 Prozent. Wir verdanken dies vor allem unserem dualen Berufsausbildungssystem.

Ebenfalls wichtig für die Menschen in den neuen Ländern ist, daß die Bundesregierung das Sonderwohngeld Ost über 1998 hinaus um weitere zwei Jahre verlängern wird, und zwar gegenüber den ursprünglichen Plänen erheblich verbessert. Dafür habe ich mich auch ganz persönlich engagiert. Herr Ministerpräsident Seite und Herr Minister Linde, ich hoffe, daß der Bundesrat die Wichtigkeit dieser Frage erkennt und zustimmt, damit ein zügiges Verfahren gewährleistet ist.

Die genannten Beispiele machen deutlich, daß die Bundesregierung zu ihrem Wort steht, das Notwendige für den Aufbau Ost zu tun. Ich sehe mit großer Freude und Anerkennung, daß auch die Wirtschaft diese Bereitschaft zeigt. Ich hoffe, daß sich nach dem bestimmten Datum im Herbst auch die Gewerkschaften wieder in diese Pflicht begeben.

Unser Ziel muß bleiben, Arbeitsplätze in den neuen Ländern zu schaffen. Wir müssen den Menschen, die hier leben, Mut machen, die Zukunft in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Die neuen Länder werden zu den modernsten Standorten in Europa gehören. Nach meiner festen Überzeugung haben sie eine große Zukunft. Ich sage dies nicht zuletzt im Hinblick auf die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union um unsere Nachbarländer in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 52. 16. Juli 1998.