19. März 1996

Erklärung vor der Bundespressekonferenz in Bonn

 

Meine Damen und Herren,

das Bundeskabinett hat heute die jüngsten gewalttätigen Ausschreitungen durch kurdische Extremisten aufs Schärfste verurteilt. Der Wortlaut der Erklärung liegt Ihnen vor. Lassen Sie mich persönlich noch hinzufügen:

Kein PKK-Mitglied darf in Deutschland weiter sein terroristisches Unwesen treiben. Wer seinen Aufenthalt in Deutschland zu schweren Straftaten nutzt, muß rasch verurteilt und aus Deutschland schnellstmöglich abgeschoben werden. Die Koalition hat sich bereits auf Verschärfungen der ausländerrechtlichen Ausweisungs- und Abschiebungsregelungen geeinigt. So wird künftig bei schwerem Landfriedensbruch eine Ausweisung des Täters zwingend sein. Diese Gesetzesarbeiten werden abgeschlossen, und zwar sehr schnell, und wir werden über die Vorlage bereits in der Kabinettsitzung am nächsten Mittwoch entscheiden.

Ich will darauf hinweisen, daß es wichtig ist, daß die Länder die bestehenden Vorschriften konsequent anwenden. Das gilt sowohl für das beschleunigte Verfahren vor Gericht als auch für den Vollzug der Ausweisung. Die Bundesländer haben hier eine ganz besondere Pflicht zum Handeln. Ich will auch heute die Gelegenheit nutzen, um die Länder aufzufordern, mit aller Härte Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen. Wir müssen dabei wegkommen von jahrelangen Strafverfahren. Vorrangiges Ziel muß es sein, terroristische Täter möglichst schnell abzuschieben.

Ich appelliere aber auch in diesem Zusammenhang an alle Kurden, daß sie sich nicht zu terroristischen gewalttätigen Aktionen in unserem Land verrühren lassen. Ich bitte sie, ihr Aufenthaltsrecht und das ihrer Familien nicht aufs Spiel zu setzen. Das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern darf nicht in Frage gestellt werden. Deswegen ist es auch wichtig, daß wir klar unterscheiden zwischen den über 2 Millionen Türken, die bei uns leben, und zwischen den über 400 000 Kurden innerhalb der türkischen Gruppe, die friedlich hier leben, die wichtige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in deutschen Unternehmen sind, die hoch geachtet werden, und den wenigen, die Terror treiben, einen Terror, den wir auf gar keinen Fall akzeptieren können.

Meine Damen und Herren, das öffentliche Bild der letzten Tage und Wochen ist von heftigen Diskussionen über den Standort Deutschland geprägt. Dabei gibt es natürlich immer wieder gegenseitige Schuldzuweisungen. Ich sehe diese Entwicklung mit Sorge, denn eine solche Debatte ist der falsche Weg, Probleme zu lösen. Sie gefährdet das nach wie vor vorhandene große Ansehen, das der Standort Deutschland nicht zuletzt im Ausland genießt. Wie groß unsere Reputation im Ausland ist, zeigt die Umfrage, die gestern von einem Schweizer Institut veröffentlicht wurde, wonach Deutschland weltweit an hervorragender vierter Stelle hinter den USA, Singapur und Japan rangiert, wobei es bemerkenswert ist, daß die schlechte Note über die Verhältnisse in Deutschland laut diesem Institut überwiegend von Befragten aus dem Manager-Bereich in Deutschland kam.

Die Arbeitslosigkeit mit jetzt über 4,3 Millionen Arbeitslosen ist die zentrale Herausforderung für die deutsche Innenpolitik. Sie ist eine Aufforderung an Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik zum Handeln. Diese Frage, das persönliche Schicksal der von Arbeitslosigkeit Betroffenen, darf niemanden gleichgültig lassen. Deswegen gibt es hier eine gemeinsame Verantwortung von Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik. Im Januar haben wir uns im "Bündnis für Arbeit und Standortsicherung" ein Ziel gesetzt: Wir wollen die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 halbieren. Ich weiß, daß dies ein sehr ehrgeiziges Ziel ist, denn es bedeutet einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um rund 2 Millionen. Aber ich weiß aus meiner Erfahrung, daß ohne ehrgeizige Ziele nichts zu erreichen ist, und ich weiß vor allem, daß wir ein vergleichbares Ziel schon einmal erreicht haben. Nach meiner Wahl zum Bundeskanzler Ende 1982 ist es gelungen, in der alten Bundesrepublik zwischen 1983 bis zum Beginn der neunziger Jahre über 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.

Diese hohe Arbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Schicksal. Es gibt vor allem nicht den geringsten Grund, den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands an die Wand zu malen, es sei denn, man will das aus wahltaktischen Gründen tun. Wie die Öffentlichkeit gerade vor Wahlen irregeführt werden soll. zeigt zum Beispiel das Thema Renten. Wochenlang wurde behauptet, die Renten würden in diesem Jahr gekürzt.

Tatsache ist aber: Die Renten werden in diesem Jahr - wenn auch bescheiden - erhöht, und zwar um 0,46 Prozent im Westen und um 0,56 Prozent im Osten. Diese Rentenanpassung ist kein willkürlicher Akt oder in das Belieben von Politikern gestellt. Es wird vielmehr nach der - gemeinsam mit der SPD beschlossenen - Rentenformel angepaßt. Das heißt: Steigen die Nettolöhne, dann steigen auch die Renten. An diesem klaren und verläßlichen Maßstab für die Rentner halten wir fest.

Die meisten Experten im In- und Ausland rechnen mit einer schnelleren Gangart der Konjunktur im weiteren Verlauf dieses Jahres. Eine der wichtigsten Erfahrungen für mich ist indes, daß eine Belebung der Konjunktur nicht automatisch zu einem entsprechenden Rückgang der Arbeitslosigkeit führt. Wir müssen und werden deshalb die strukturellen Verbesserungen am Standort Deutschland weiter vorantreiben - im Interesse der Arbeitsplätze hierzulande.

Es gibt keinen Grund, den Standort Deutschland schlecht zu reden. Deutschland hat unbestreitbare Stärken: Wir haben eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur - mit leistungsfähigen großen ebenso wie kleinen und mittleren Unternehmen. Wir haben eine hohe Qualifikation der Arbeitnehmer. Wir haben eine gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur. Wir haben wirtschaftliche und soziale Stabilität, um die uns manche in Europa beneiden.

Zum Bild Deutschlands gehören auch folgende Meldungen aus diesen Tagen: Wir haben 1995 mit 93 Milliarden DM den höchsten Überschuß im deutschen Außenhandel seit 1990 gehabt. Wir haben in weiten Teilen der Branchen 1995 glänzende Geschäftsergebnisse, insbesondere in der deutschen Chemieindustrie, aber auch zum Beispiel bei Siemens, VEBA, Mercedes-Benz, BMW, RWE und VIAG. Wir haben eine Inflationsrate von VAProzent und damit praktisch überhaupt keine Inflation. Die langfristigen Zinsen liegen mit zirka 6 1/2 Prozent auf niedrigem Niveau.

Zu den wichtigen positiven Ergebnissen unserer Politik zähle ich, daß allen Jugendlichen, die dies wollen, ein Ausbildungsplatz angeboten werden konnte. Damit hängt eine andere gute Nachricht zusammen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist hierzulande mit 8 Prozent erheblich niedriger als in fast allen anderen Ländern der Europäischen Union. Der EU-Durchschnitt liegt bei fast 21 Prozent, in Frankreich sind es 27 Prozent, in Spanien fast 42 Prozent Im übrigen bin ich froh, daß es jetzt nach langer Diskussion das "Meister-BAfÖG" gibt Damit erleichtern wir den Weg zum Meister oder Techniker und den Schritt in die Selbständigkeit, also auch zu neuen Arbeitsplätzen.

Ich weiß natürlich ebenso um die Schwachstellen des Standortes Deutschland. Deshalb ist es so wichtig, das gemeinsam von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften am 23. Januar 1996 vereinbarte "Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" durch konkretes Handeln rasch voranzubringen. Ich erwarte, daß jeder seinen Beitrag leistet - Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften und Politik. Entscheidend für die weitere Entwicklung ist der Ausgang der jetzt begonnenen Lohnrunde.

Die anstehenden Tarifverhandlungen - Chemie, Bau, öffentlicher Dienst - sind eine erste Gelegenheit, der Beschäftigung wirklich Vorrang einzuräumen. Und im öffentlichen Dienst muß deutlich werden, welch hohes Gut die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist. Es liegt mir fern, in die Tarifautonomie einzugreifen. Ich gehe aber davon aus, daß jeder, der einen Tarifvertrag unterschreibt, nicht nur an die Einkommensinteressen der bereits Beschäftigten denkt, sondern ebenso an jene, die Arbeit suchen. Dies gebietet die Solidarität mit den Arbeitslosen. Aus gesamtstaatlicher Verantwortung sage ich: Ich glaube nicht, daß die jetzt genannten Zahlen diesem Solidaritäts-Anspruch gerecht werden. Ich fordere beide Tarifparteien auf, im Geiste des vereinbarten Bündnisses zu verhandeln.

Die gegenwärtige Auseinandersetzung der Tarifpartner in der Überstundenfrage zeigt für mich, wie wichtig es ist, das Instrument der Arbeitszeitkonten viel intensiver zu nutzen. So kann Arbeit flexibler organisiert und können Überstunden auf ein vertretbares Maß reduziert werden. Beides hilft Unternehmen, Beschäftigten und Arbeitslosen. Und angesichts der prekären Situation in der Bauwirtschaft würde ich es sehr begrüßen," wenn die Tarifpartner sich rasch auf die notwendigen Regelungen verständigen, damit das Entsendegesetz endlich wirksam werden kann.

Mit dem Ziel einer Senkung der Lohnzusatzkosten haben die Tarifparteien im Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung zum Beispiel auch Gespräche zur Verringerung betrieblicher Fehlzeiten vereinbart. Deren Ergebnisse erwarte ich mit Interesse.

Die Bundesregierung handelt entschlossen. Sie setzt das "Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" unverzüglich um. Schon eine Woche nach der Vereinbarung mit Wirtschaft und Gewerkschaften im Januar hat die Bundesregierung das "50-Punkte-Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze" beschlossen. Am 8. Februar 1996 haben wir es bereits im Parlament diskutiert. Für das Umsetzen haben wir uns kurze Fristen gesetzt - vornehmlich die Zeitspanne bis zur Vorlage des Bundeshaushalts '97 im Juli diesen Jahres.

Das Bundeskabinett hat heute eine erste Umsetzungsbilanz des Aktionsprogramms entgegengenommen. Der Bundesminister für Wirtschaft wird hierüber morgen ausführlich berichten. Fest steht: Wir werden das Aktionsprogramm zur Standortverbesserung Punkt für Punkt abarbeiten. Die Bundesregierung denkt bei den notwendigen Entscheidungen nicht daran, jene aus den Augen zu verlieren, die auf die Hilfe der Gesellschaft angewiesen sind. Ich halte auch nichts davon, alles in Frage zu stellen, was die soziale Stabilität und die Menschlichkeit unserer Gesellschaft ausmacht. Wir bauen den Sozialstaat nicht ab, sondern um. Hierzu gehört, den Mißbrauch von Sozialleistungen zu bekämpfen. Genau so wichtig ist aber, den um sich greifenden Steuerbetrug aufzudecken und gegen den Subventionsschwindel anzugehen.

Beim Umbau des Sozialstaates müssen wir berücksichtigen, wie dramatisch sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahren verändert hat So müssen wir im Blick auf künftige Generationen die Tatsache sehen, daß wir das Land mit den ältesten Studenten und den jüngsten Rentnern sind. Diese Rechnung kann doch nicht aufgehen, wenn ein Akademiker erst mit durchschnittlich 29 Jahren in das Berufsleben eintritt und bereits mit 60 Jahren wieder in Rente oder Pension geht. Dann war er von durchschnittlich 73 Lebensjahren gerade einmal 31 Jahre berufstätig. Das bedeutet ein Verhältnis von rund 40 Prozent Arbeit zu 60 Prozent Nichterwerbstätigkeit Es ist doch jedem einsichtig: Bei steigender Lebenserwartung kann und muß auch die Lebensarbeitszeit schrittweise verlängert werden.

Wir müssen durch kürzere Ausbildungszeiten einen früheren Berufseintritt erreichen und auch das tatsächliche Renteneintrittsalter wieder an die gesetzliche Altersgrenze von 65 Jahren heranführen. Wir müssen das auch tun, weil m diesen Jahren bis 2000 ein wirklich europäischer Arbeitsmarkt entsteht und weil es völlig indiskutabel für mich ist, daß junge Deutsche im Regelfall um vier Jahre später auf den Arbeitsmarkt kommen - etwa junge Akademiker - als ihre französischen, englischen, spanischen oder italienischen Kollegen.

Um nur einmal deutlich zu machen, um welche Größenordnung es dabei geht: Gelänge es uns, das tatsächliche Renteneintrittsalter um ein Jahr hinauszuschieben, dann würde dies eine Beitragssenkung um fast 2 Beitragspunkte ermöglichen. Die Bundesregierung wird auch in Zukunft das Fundament unseres Sozialstaates sichern, indem sie alle vertretbaren Einsparmöglichkeiten nutzt.

Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist und bleibt gemeinsame Pflicht von Wirtschaft, Tarifpartnern und Politik. Zum Bereich der Politik gehören die Bundesregierung und die sie tragende parlamentarische Mehrheit, aber eben auch die parlamentarische Opposition sowie die Länder und Gemeinden.

Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat haben in gesamtstaatlicher Verantwortung zu handeln. Mit gesamtstaatlicher Verantwortung hat es aber nichts zu tun, wenn die SPD die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat systematisch für eine Verzögerungs- und Blockadepolitik mißbraucht - und zwar bei Gesetzen, durch die die öffentlichen Haushalte entlastet, die Lohnzusatzkosten gedämpft oder bürokratische Hemmnisse abgebaut werden sollen.

Allein in der Bundesratssitzung am l. März sind alle Gesetzesvorhaben der Bundesregierung oder der Koalition, die - im Sinne der Standortverbesserung - einem dieser Ziele dienen, verzögert oder blockiert worden: sei es durch Ablehnung, sei es durch Anrufung des Vermittlungsausschusses, sei es durch eine Anzahl von Änderungsanträgen.

Ich will nur diese Beispiele nennen: Es wurden abgelehnt die Novellierung des Asylbewerberleistungsgesetzes und die Novellierung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes. Im Vermittlungsausschuß war es die Arbeitslosenhilfe als ein wichtiges Reformgesetz. Es gab umfängliche Änderungsanträge beim Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, beim Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung von emissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, bei der Novelle zur Verwaltungsgerichtsordnung und der 18. BAfÖG-Novelle. Ich könnte die Beispiele fortsetzen - ich will es nicht tun. Ich will nur heute noch einmal von dieser Stelle aus auch an die Mehrheit des Bundesrates appellieren, vor allem, wenn jetzt in einigen Tagen die Landtagswahlen vorbei sind, daß es möglich sein muß - und das ist das Angebot der Bundesregierung -, in vernünftigen Gesprächen jetzt mit möglichst wenig Zeitverzug die notwendigen Gesetze herbeizuführen.

Bundesregierung und Koalition sind und bleiben handlungsfähig. Wir haben einen klaren Wählerauftrag zur Zukunftsgestaltung unseres Landes. Diesen Auftrag werden wir erfüllen.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 24. 21. März 1996.