19. November 1997

Rede auf der Generalversammlung des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) in Bonn

 

Lieber Herr Dr. Burda,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

zunächst möchte ich Ihrer Generalversammlung die herzlichen Grüße der Bundesregierung überbringen. Sie, Herr Dr. Burda, haben uns mit Ihrer Rede gleich richtig eingestimmt: VDZ - Verleger der Zukunft. Sie haben gesagt, daß die Verleger nicht jammern, und Sie haben phantastische Zahlen zur Entwicklung Ihrer Branche präsentiert. Vielleicht könnten Sie auch einmal Anzeigen schalten, die zum Beispiel die positiven Erwartungen für das nächste Jahr zeigen? Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen es begrüßen würden, wenn sie mehr Erfreuliches über unser Land lesen würden. Man braucht nicht erst in die Toskana fahren; auch hier kann man wunderbar leben, essen und trinken. Dieses Land hat Zukunft - das muß unsere Botschaft sein!

 

Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß die Zeitschriften eine Renaissance erleben. Die Tatsachen sprechen dafür, und ich wünsche mir das auch. Ich halte es für die Entwicklung unserer Republik von entscheidender Bedeutung, daß Zeitschriften eine gute Perspektive haben. Vieles von dem, was beim Übergang ins nächste Jahrhundert auf Ihrem Markt geschieht, hat mit dem Zustand unseres Landes und unserer Gesellschaft zu tun! Es geht weit über das Ökonomische hinaus.

 

Als ich 1993 bei Ihrer Generalversammlung war, stand die Gestaltung der inneren Einheit unseres Vaterlandes im Mittelpunkt. Seither sind wir bei dieser Aufgabe schon weit vorangekommen. Natürlich bleibt noch viel zu tun. Aber im Miteinander von Ost und West und bei der Angleichung der Lebensverhältnisse sind - trotz mancher Schwierigkeiten - große Fortschritte zu verzeichnen. Die ganze Wegstrecke kann man erst richtig ermessen, wenn man einen Moment innehält und überlegt, woher wir kommen: Erst vor zehn Tagen - am 9. November - haben wir uns an den Fall der Berliner Mauer erinnert, als die Freiheit plötzlich für alle Deutschen gemeinsame Wirklichkeit wurde. An diesem Tag konnte man spüren, welche Bedeutung Information und freie Meinungsäußerung haben. Natürlich haben viele Gründe dazu geführt, daß die Mauer fiel. Aber entscheidend haben auch die freie Presse und die Freiheit der Medien dazu beigetragen, daß das kommunistische Imperium zusammenbrach. Es waren die Medien, die die Idee der Freiheit transportiert und damit letztlich auch die Mauer zum Einsturz gebracht haben.

 

Ich komme gerade aus einer Besprechung mit dem neuen polnischen Außenminister. Wenn Sie den Lebensweg dieses Mannes, eines Vorkämpfers der Solidarnosc, nachvollziehen, dann begreifen Sie die Jahre nach 1980 als eine Zeit, in der das Ringen um Freiheit die Geschichte unseres Kontinents in besonderer Weise prägte. Die freie Presse, Funk und Fernsehen waren entscheidende Katalysatoren, die den Sieg der Freiheit ermöglichten. Wir sollten dieses Geschenk nicht geringachten. Die Deutsche Einheit ist ein Grund zur Dankbarkeit!

 

Die dramatischen Veränderungen in unserer Medienlandschaft und die neuen technologischen Möglichkeiten sind für mich kein Grund zur Skepsis. Ich glaube, daß die Chancen für mehr Freiheit auf der ganzen Welt in dem Maße zunehmen, in dem sich die Landschaft der Medien weiterentwickelt. Angesichts der vielfältigen neuen Angebote bei den Medien und Informationstechnologien bin ich zuversichtlich, daß Unterdrückung und Unfreiheit auf die Dauer nirgendwo Bestand haben können.

 

Wir Deutschen wissen aus leidvollen historischen Erfahrungen mit zwei Diktaturen um die Bedeutung und den Wert der Meinungs- und Pressefreiheit. Ich habe das Dritte Reich noch als Kind und Schüler erlebt. Damals stand die Todesstrafe darauf, einen normalen englischen Sender zu hören. Das ist für die Menschen heute kaum mehr vorstellbar. Aber wir wissen noch sehr genau, wie gefährlich es beispielsweise war, Bücher oder Zeitschriften über die Grenze in die DDR zu bringen. Das ist nicht einmal zehn Jahre her!

 

Ich möchte hier noch einmal leidenschaftlich dafür werben, die Freiheit der Zeitschriften und Zeitungen - die Medien als Ganzes - nicht als etwas Selbstverständliches abzutun. Unsere freiheitliche Demokratie lebt davon, daß jeder Bürger jederzeit ungehinderten Zugang zu Informationen und Wissen hat. Ohne diese Möglichkeit erlahmen auch die schöpferischen, die innovativen Kräfte einer Gesellschaft. Im Blick auf die Vielfalt des Zeitschriftenangebots nimmt Deutschland heute international eine Spitzenstellung ein. Auch das ist ein Beleg für die Offenheit und Vitalität unseres demokratischen Gemeinwesens - und nicht zuletzt für die Dynamik des Standortes Deutschland.

 

Meine Damen und Herren, als Zeitschriftenverleger prägen Sie unsere Gesellschaft mit. Damit tragen Sie eine besondere Verantwortung für unser Land. Dies gilt für Zeitschriften und Zeitungen gleichermaßen. Den Zeitschriften eröffnen sich heute zunehmende Gestaltungsspielräume, zugleich stellen sich aber auch neue Herausforderungen. Die Zahl der Informationsanbieter steigt rapide an. Außerdem ändert sich auch die Art und Weise, in der viele Menschen die Medien nutzen. Die Bedeutung des Bildes tritt gegenüber dem geschriebenen Wort mehr und mehr in den Vordergrund. Das kann auch Vorteile haben: Heute begegnen mir oft junge Leute - Erstwähler -, die sagen: "Sie sind der Kanzler, und Sie waren immer der Kanzler." Das ist doch eine gute Botschaft!

 

Politische Informationen werden heute ganz anders aufbereitet als früher. Auch in vielen anderen Bereichen entstehen völlig neue Angebote. Nehmen Sie als Beispiel nur die Vielzahl der Zeitschriften zum Thema Tierschutz. Zusätzliche Angebote und neue Technologien - ob im Fernsehen oder Printbereich - verschärfen den Wettbewerb. Sie schaffen auch Möglichkeiten, die Interessen und Wünsche vieler größerer und kleinerer Gruppen zielgenauer anzusprechen. Im übrigen liegt hier ein beachtliches Potential für die Schaffung neuer, zukunftsfähiger Arbeitsplätze. Wenn sich die Zeitschriften auf diese Veränderungen einstellen, haben sie gute Chancen, ihren wichtigen Platz in der Medienlandschaft zu behaupten.

 

Das Streben nach Marktanteilen darf aber nicht dazu führen, daß die journalistische Verantwortung auf der Strecke bleibt. Die Versuchung ist sehr groß: Soll man bei dem, was gesendet, gedruckt und verbreitet wird, vor allem an die Auflage denken? Tatsächliche oder vermeintliche Sensationen verkaufen sich natürlich besser, und es gibt manche, die diese Wünsche bedenkenlos bedienen. Mit Wahrheitssuche oder seriöser Informationsvermittlung hat ein solches Verhalten nichts mehr zu tun.

 

Es ist unerträglich, wenn Würde und Privatsphäre einzelner einem schrankenlosen Voyeurismus geopfert werden. Daß neuerdings in unserem Sprachgebrauch der Begriff "Medienopfer" auftaucht, müßte uns doch alarmieren. Ich sehe allerdings - das will ich hier ganz deutlich sagen - keinen Grund für eine gesetzliche Änderung. Um es klar auszudrücken: Ich bin gegen eine Verschärfung presserechtlicher Vorschriften. Wer nach dem Gesetzgeber ruft, muß wissen, daß sich zusätzliche Vorschriften nicht mit der Forderung nach Abbau von Bürokratie vereinbaren lassen.

 

Ich weiß, daß Sie, Herr Dr. Burda, sich um einen international verfaßten Pressekodex bemühen. Das wird immer dringlicher, da - auch in diesem Bereich - unsere nationalen Bemühungen der Ergänzung auf europäischer Ebene bedürfen. Von Ihrem Vorschlag halte ich mehr als von irgendwelchen Richtlinienentscheidungen aus Brüssel. Deswegen bin ich Ihnen für Ihre Initiative sehr dankbar. Dies ist ein guter Weg, auf dem Sie meine volle Unterstützung haben. Auch in Sachen Werbung stehe ich auf Ihrer Seite. Es ist doch recht offensichtlich, welche wirtschaftlichen Interessen in einzelnen europäischen Ländern das Verhalten bestimmen. Die Frage der Tabakwerbung ist ein gutes Beispiel dafür.

 

Die deutsche Presse verfügt mit dem Deutschen Presserat über eine Kontrollinstanz, die Fehlverhalten ahnden soll. Diese freiwillige Selbstkontrolle erwirbt ihr Ansehen durch die Bereitschaft, ihren hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Sie werden es mir nicht übel nehmen, wenn ich nach meinen persönlichen Erfahrungen Zweifel habe, ob diese Bereitschaft in jedem Fall besteht.

 

Meine Damen und Herren, die Medien sind nicht einfach eine Reflexion der Gesellschaft, sie wirken ganz entscheidend daran mit, Bewußtsein zu prägen. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert können die Medien - auch die Zeitschriften - viel zum zwingend notwendigen Umdenken in unserem Land beitragen.

 

Wenn der Begriff "Verleger der Zukunft" richtig ist, dann stehen wir heute gemeinsam vor der Aufgabe, unser wiedervereinigtes Vaterland auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Im nächsten Sommer begehen wir den 50. Geburtstag der D-Mark, im Jahr danach wird unsere Bundesrepublik Deutschland 50 Jahre alt. Das ist ein Zeitpunkt, an dem wir uns - wie im privaten Leben auch - ganz nüchtern fragen sollten: "Was ist uns in diesen 50 Jahren - mit der freiheitlichsten Verfassung in der Geschichte der Deutschen - gut gelungen?" Wir werden dann feststellen, daß vieles sehr gut gelungen ist, und darauf können wir durchaus stolz sein! Wir werden aber auch feststellen, daß wir - gerade angesichts der enormen Umbrüche in der Welt - vieles verändern müssen. Zudem ist eine völlig neue Generation herangewachsen, die ihre eigenen Ansprüche, Hoffnungen, Sehnsüchte und Visionen hat.

 

Wenn wir - um es in der Sprache des Fußballs zu sagen - im 21. Jahrhundert um die vordersten Plätze in der Weltliga mitspielen wollen, dann müssen wir alles tun, um auf neue Herausforderungen vorbereitet zu sein. Ungeachtet dessen, was im "Raumschiff Bonn" an Meinungen häufig verbreitet wird, bin ich mir sicher: Die große Mehrheit der Menschen in unserem Land hat längst begriffen, worum es geht. Der Chemiefacharbeiter bei der BASF in meiner Heimatstadt Ludwigshafen braucht keine Vorstandsanalyse, um zu erkennen, ob der Export läuft oder nicht. Wir sollten uns deshalb nicht von denen beirren lassen, die vorgeben, die Interessen ihrer Klientel zu vertreten, in Wahrheit aber gar nicht mit den Menschen sprechen.

 

Die Welt hat sich dramatisch verändert. Ich will es mit ganz wenigen Zahlen verdeutlichen: Allein zwischen 1980 und 1996 ist das Welthandelsvolumen von knapp 2000 Milliarden US-Dollar auf rund 5300 Milliarden US-Dollar gestiegen. Die grenzüberschreitenden Investitionen nehmen sogar noch schneller zu. Das Geschäft auf den internationalen Finanzmärkten explodiert geradezu: Anfang der achtziger Jahre betrug der weltweite Devisenhandel rund 60 Milliarden US-Dollar, Anfang der neunziger Jahre bereits 1,2 Billionen US-Dollar.

 

Wir leben in Deutschland nicht in einer Nische, an der die Globalisierung vorbeigeht. Wenn wir Nummer zwei im Weltexport bleiben wollen, so müssen wir uns auf große Umwälzungen in der Welt einstellen. Auf die Dramatik des Umbruchs hat erst kürzlich die OECD hingewiesen: Heute leben über fünf Milliarden Menschen auf der Welt. Im Jahr 2020 dürften es acht Milliarden sein. 2020 - das ist nicht so weit weg: Die Kinder, die heute geboren werden, sind dann erst 22 Jahre alt. Es ist unsere Pflicht vorauszudenken. So müssen wir der nachfolgenden Generation eine intakte Umwelt hinterlassen. Das ist gerade am Vorabend der Konferenz von Kyoto aktuell. Ebenso geht es darum, daß wir uns in den Industrieländern auf den dramatischen Alterungsprozeß der Bevölkerung einstellen. Und schließlich müssen wir uns auf die Informationsgesellschaft vorbereiten, die Sie, Herr Dr. Burda, eben beschrieben haben.

 

Ich bin davon überzeugt: Wir haben eine hervorragende Ausgangsposition und alle Chancen für eine gute Zukunft. Das hat nichts mit übertriebenem Optimismus zu tun. Ich bin Realist. Wenn Sie so lange Bundeskanzler und Parteivorsitzender der CDU sind - und das noch Seite an Seite mit den Freunden von der CSU -, dann müssen Sie Realist sein. Ein reiner Optimist wäre längst weggefegt worden.

 

Als Realist weiß ich: Das Schicksal der Nation bestimmt sich auch heute noch in der Außen- und Sicherheitspolitik. An diesem Bismarckschen Satz hat sich nichts geändert. Das mag bei vielen nicht im Vordergrund des Interesses stehen. Aber es ist doch wie die Erfüllung eines Traums, daß unsere Beziehungen zu London, Paris, Washington und Moskau am Ende dieses Jahrhunderts so gut sind wie nie zuvor.

 

Ich glaube im übrigen nicht, daß die Globalisierung dem Ziel des Umweltschutzes - ich spreche lieber vom Erhalt der Schöpfung - zuwiderläuft. Wir haben heute durch die Entwicklung moderner Wissenschaft und Technologie die Chance, Hunger, Krankheit und Elend in weiten Teilen der Welt zu bekämpfen. Gerade dieser Aufgabe sollten wir uns - nach allem, was in diesem Jahrhundert in deutschem Namen geschehen ist - besonders verpflichtet fühlen. Und wenn zum Beispiel ein großes deutsches Chemieunternehmen in der Volksrepublik China oder in Indien eine Produktionsstätte baut, dort viele Ingenieure und Facharbeiter ausbildet und beschäftigt, so ist dies ein Stück praktischer, zukunftsorientierter Entwicklungshilfe.

 

Meine Damen und Herren, unsere innenpolitische Aufgabe Nummer eins ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Jeder weiß, daß dieses Thema nur in einer Gemeinschaftsanstrengung zu lösen ist, die von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsam erbracht werden muß. Diesem Ziel müssen wir vieles andere unterordnen. Die Aussage, daß man den Arbeitslosen helfen wolle, wäre sonst blanke Heuchelei. Deswegen spreche ich ganz offen an, was auf dem Weg zu diesem Ziel hinderlich ist, mag es auch scheinbar unpopulär sein.

 

Es geht darum, Investitionen zu erleichtern und unser Land attraktiver für den Zustrom von ausländischem Kapital zu machen. Das ist eine Politik, die neue Arbeitsplätze schafft und die finanzielle Grundlage für den Sozialstaat gewährleistet.

 

Es stimmt nicht, daß wir für diesen Bereich zu wenig Geld ausgeben; heute ist es bereits ein Drittel unseres Bruttoinlandsproduktes. Das ist - auch im europäischen Vergleich - eine stolze Zahl. Damit sind wir an der Grenze des Möglichen angelangt. Es ist eine berechtigte Frage, ob das Geld immer bei denen ankommt, die unsere Solidarität wirklich brauchen. Mißbrauch müssen wir entschlossen bekämpfen - das gilt natürlich genauso für das Hinterziehen von Steuern und den Subventionsbetrug! Sozialleistungen müssen wir stärker auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. Das heißt, wir brauchen den Umbau unseres Sozialstaates. Was wir darunter verstehen, haben wir zum Beispiel mit der Einführung der Pflegeversicherung deutlich gemacht: 1,6 Millionen Menschen haben den Nutzen davon.

 

In den vergangenen Jahren hat die Bundesregierung wesentliche Reformen durchgesetzt, um mehr wirtschaftliche Dynamik und mehr Arbeitsplätze in Deutschland möglich zu machen. Vieles mußten wir gegen erhebliche Widerstände durchsetzen. Ich nenne hier besonders die Änderung der gesetzlichen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Denken Sie nur an die schrillen Töne bei Demonstrationen am 1. Mai des vergangenen Jahres. Aber wahr ist doch, daß es nach unserer Entscheidung zu vernünftigen Tarifverträgen gekommen ist.

 

Ich bekenne hier ganz offen: Ich hätte dieses Gesetz lieber vermieden. Ich habe damals in den entscheidenden Gesprächen immer wieder betont, daß dies eigentlich eine Sache der Tarifpartner ist. Aber nachdem sich zeigte, daß es anders nicht geht, haben wir die Neuregelung durchgesetzt. Damit ist übrigens eine Gesundheitswelle über unser Land hereingebrochen: Der Krankenstand ist dramatisch zurückgegangen. Natürlich hat auch die Sorge um den Arbeitsplatz dabei eine Rolle gespielt. Aber ich frage mich schon, warum wir erst Gesetze brauchen, um vernünftig zu werden.

 

Ich weiß, im Rahmen der Reformdebatte gibt es Fragen, die Sie ganz unmittelbar berühren. Mir ist bewußt, daß die Verlage auf das flexible Instrument der 610-Mark-Jobs nicht verzichten können. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß diese Beschäftigungsform in den letzten Jahren dramatisch zugenommen hat. Deshalb müssen wir Fehlentwicklungen entgegenwirken, ohne das Kind gleich mit dem Bade auszuschütten.

 

Meine Damen und Herren, zu den notwendigen Veränderungen zugunsten des Standorts Deutschland gehört ganz wesentlich die Steuerreform. Daß dieses Thema parteipolitisch heftig umstritten ist, ist ganz normal. Aber daß wir uns einigen müssen, steht außer Frage. Die Steuerreform ist längst keine parteipolitische Frage mehr. Sie ist eine Frage der Zukunftsfähigkeit unseres Landes geworden.

 

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß unsere Nachbarn inzwischen günstigere steuerliche Rahmenbedingungen bieten. So verschickt beispielsweise die Landesregierung von Vorarlberg Prospekte, in denen sie Betriebe aus Deutschland auffordert, ihren Firmensitz in diese Region zu verlegen, weil das Montafon ein schönes Urlaubsgebiet ist und die Steuersätze dort erheblich günstiger sind als bei uns. Die Niederländer machen es ganz ähnlich. Ich bin ihnen deshalb nicht böse, denn sie nehmen ihren Wettbewerbsvorteil in der Marktwirtschaft wahr. Aber wir müssen doch daraus die Konsequenzen ziehen. Die Frage stellt sich, warum sozialdemokratische Regierungschefs in anderen Ländern zu Steuersenkungen bereit sind, die von der Mehrheit im Bundesrat bei uns blockiert werden.

 

Morgen und übermorgen werde ich am Beschäftigungsgipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs in Luxemburg teilnehmen. Wir werden dort - davon bin ich überzeugt - zu guten Lösungen kommen. Man wird mir dort aber auch sagen: "Ihr Deutschen müßt endlich eure Steuerreform durchsetzen!" Das ist ja auch richtig. Wir brauchen mehr Investitionen und Innovationen in Deutschland. Wir müssen der Erosion der Steuerbasis entgegenwirken. Wir müssen dafür sorgen, daß wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Ich bin sicher: Die Steuerreform kommt - leider Gottes wohl erst nach der Bundestagswahl. Dadurch verlieren wir wertvolle Zeit. Im Bundestagswahlkampf wird dies ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung sein. Sie brauchen in diesem Zusammenhang keine neuen Umfragen in Auftrag zu geben, meine Damen und Herren, Sie können meiner Kompetenz trauen: Die Bürger sind in ihrer Mehrheit für die Steuerreform. Wer sie vertritt, gewinnt die Wahl. Das ist doch ganz in Ordnung!

 

Die Debatte, die wir uns in Deutschland in der Rentenfrage leisten, ist für mich völlig unverständlich. Denn dieses Thema hat einen dramatischen Hintergrund. Die demographische Entwicklung hat nichts mit Politik zu tun, sondern vor allem mit der freien Entscheidung der Deutschen, weniger Kinder zu haben.

 

In meiner Studentenzeit haben wir noch gelernt, daß es eine Bevölkerungspyramide gibt. Jetzt steht diese Pyramide auf dem Kopf. In Deutschland gibt es heute mehr als drei Millionen über 80jährige Bürgerinnen und Bürger. Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt: Bei Männern beträgt sie derzeit 74, bei Frauen 80 Jahre. Hinzu kommt, daß die Deutschen im Schnitt mit 59 Jahren in den Ruhestand gehen und Akademiker häufig erst mit 29 Jahren die Universität verlassen. Das bedeutet, daß in vielen Fällen etwa 45 Jahren Ausbildung und Ruhestand nur etwa 30 Jahre Erwerbstätigkeit gegenüberstehen. Diese Rechnung kann nicht aufgehen, und daraus müssen wir Konsequenzen ziehen. Deshalb hat die Bundesregierung mit der Rentenstrukturreform ein Konzept vorgelegt, das notwendige Veränderungen vornimmt.

 

Bei allem, was wir im Bereich der Alterssicherung tun, müssen wir behutsam vorgehen. Es geht nicht um theoretische Modelle, sondern um Entscheidungen, die ganz konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben. Rente - das ist für Millionen Menschen die Gegenleistung für ihr Arbeitsleben. Wir sollten auch berücksichtigen, daß die heutigen Rentner in ihrem Leben mehr gelitten haben als irgendeine Generation zuvor - und sie haben unsere Republik nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut. Auf der anderen Seite stehen die jungen Menschen. Sie erwarten zu Recht eine Antwort auf die Frage, wie ihre Rente im Jahr 2050 aussehen wird.

 

Jetzt geht es darum zu verhindern, daß der Beitragssatz in der Rentenversicherung auf 21 Prozent steigt. Wir müssen über alle vernünftigen Maßnahmen sprechen, die geeignet sind, dies zu vermeiden. Es gibt viele Gründe für den Anstieg des Beitragssatzes. Der erste Grund ist die gemeinsam beschlossene Übernahme unseres Rentensystems für die Menschen in den neuen Bundesländern. Ich stehe auch heute dazu, daß ich diesen Beschluß mit herbeigeführt habe. Das Rentenüberleitungsgesetz von 1992 war ein selbstverständlicher Akt der Solidarität und ein wichtiger Beitrag zur inneren Einheit unseres Landes. Für die Rentenversicherung bedeutet dies allein in diesem Jahr einen Transfer von West nach Ost in Höhe von 17 Milliarden D-Mark.

 

Nach wie vor wird auch die Möglichkeit zur Frühverrentung ausgiebig genutzt. Es waren Arbeitgeber und Gewerkschaften, die die Vertrauensschutzregelung im Gesetz zur Förderung des gleitenden Übergangs in den Ruhestand vehement gefordert haben. Wenn Sie heute in deutsche Großbetriebe gehen, dann werden Sie dort - bis auf die Vorstände - kaum jemanden finden, der 60 Jahre oder älter ist. In diesem Jahr haben wir voraussichtlich 240000 Frühverrentungen gegenüber 224000 im Jahr zuvor. Dies entspricht zusätzlichen Rentenausgaben von circa 5,4 Milliarden D-Mark.

 

Wir müssen jetzt gemeinsam nach Wegen suchen, dem Anstieg des Beitragssatzes im kommenden Jahr entgegenzuwirken. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß wir uns im Vermittlungsausschuß doch noch einigen werden. Die letzte mögliche Sitzung des Vermittlungsausschusses zu diesem Thema wird Anfang Februar sein - knapp vier Wochen vor der Landtagswahl in Niedersachsen. Dann kommt die Stunde der Wahrheit, in der große Sprüche nicht mehr weiterhelfen. Dann muß klar Position bezogen werden. Diesem Augenblick sehe ich mit großem Interesse entgegen.

 

Meine Damen und Herren, die entscheidende Veränderung muß in den Köpfen der Menschen stattfinden. So brauchen wir in unserer Gesellschaft eine positivere Einstellung zu Selbständigkeit und Innovation. Die Gründung neuer Betriebe ist der Schlüssel zu neuen Arbeitsplätzen.

 

Wenn wir Ernst machen wollen mit dem "Schlanken Staat", dann müssen wir den Öffentlichen Dienst auf seine hoheitlichen Aufgaben zurückführen. Wir müssen auch die Privatisierung - wie zum Beispiel bei Post, Bahn und Lufthansa geschehen - fortführen. Das heißt, im Öffentlichen Dienst werden wir keine große Zahl neuer Stellen schaffen können. Ähnliches gilt für die Großunternehmen, die sich im internationalen Wettbewerb angesichts zunehmender Globalisierung behaupten müssen. Deshalb muß die Bereitschaft, sich selbständig zu machen, in unserem Land wieder selbstverständlich werden. Die Zahl der Neugründungen hat zwar in den letzten Jahren wieder zugenommen, aber die mentale Situation läßt noch sehr zu wünschen übrig.

 

Wenn Jürgen Rüttgers ausgerechnet hat, daß 40 Prozent der Studenten an deutschen Hochschulen in den Öffentlichen Dienst streben, dann zeigt dies: Wir haben in Deutschland ein Klima, das junge Leute zu wenig ermutigt, einen Betrieb zu gründen. Aber mit Vollkaskomentalität gewinnt man keine Zukunft. Wir brauchen jetzt junge Leute, die sagen: "Ich wage etwas." Und ich wünsche mir, daß sie dabei ausreichende Unterstützung erfahren. Wenn ein junger Mensch - voller Ideen - den Willen und das Zeug dazu hat, etwas neu aufzubauen, dann wird die Kammer ihn natürlich offiziell unterstützen. Wenn aber derjenige, der diese junge Frau oder diesen jungen Mann berät, ein Gesicht macht, das einem jede Hoffnung nimmt, so ist der Ausgang des Vorhabens schon absehbar. Und wenn es schließlich in der Filiale einer deutschen Großbank um einen Kredit geht, dann brauche ich Ihnen nicht zu sagen, meine Damen und Herren, was dort an Sicherheiten verlangt wird.

 

Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß in unserem Land eine Welle von Betriebsübergaben bevorsteht. Bis zu 700000 Mittelständler, darunter etwa 200000 Handwerker, suchen in den nächsten zehn Jahren einen Nachfolger für ihren Betrieb. Darin liegen ungeheure Chancen für leistungsbereite und selbstbewußte junge Menschen.

 

Wir müssen sie unterstützen, motivieren und ihnen helfen. Ohne Leistungseliten hat unser Land keine Zukunft. Wir leben von solchen Männern und Frauen, die etwas wagen und gewinnen. In der Landschaft deutscher Zeitschriften und Zeitungen finden Sie Dutzende solcher Beispiele.

 

Meine Damen und Herren, der Schlüssel für die Zukunft liegt nicht im Materiellen. Ob wir die Zukunft gewinnen, ist ganz wesentlich eine Frage der geistigen Verfassung unseres Landes. Ohne die Werte, von denen Sie gesprochen haben, Herr Dr. Burda, wird unser Land keine Zukunft haben. Es gibt viele Leute, die das ganz selbstverständlich so empfinden.

 

Es gibt ermutigende Signale, daß das menschliche Miteinander in unserem Land nach wie vor zählt. Denken wir nur an die Welle der Hilfsbereitschaft, die wir im vergangenen Sommer in den Tagen und Wochen der Flutkatastrophe an der Oder erlebt haben. In kurzer Zeit haben die Deutschen über 100 Millionen D-Mark gespendet. Wenn für gute Zwecke gesammelt wird, sind die Deutschen übrigens mit ihrem Spendenaufkommen immer ganz vorn mit dabei. Darüber wird viel zu selten berichtet. Auch bei den Kirchen ist das Spendenaufkommen stets sehr hoch, obwohl die Schafe dort - öfter als bei jedem Schäfer - mehrmals im Jahr geschoren werden.

 

Am Oderbruch konnten wir erleben, daß Pflichtgefühl in Deutschland kein leeres Wort ist. Die Soldaten und die anderen Helfer haben sich dort bis an den Rand der Erschöpfung für andere eingesetzt. Sie sind ein Vorbild für Werte und Tugenden, auf die wir nicht verzichten können. Ich habe es immer für Unsinn gehalten, den jungen Menschen in unserem Land eine "Null-Bock-Mentalität" zu unterstellen. Die Ereignisse am Oderbruch haben mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß bei uns eine junge Generation heranwächst, die bereit ist, zu helfen und tatkräftig anzupacken.

 

Auch im Ausland ist dies sehr wohl wahrgenommen worden. Ich bin darauf von ausländischen Besuchern häufig angesprochen worden. Wir Deutschen sind in der Lage, wenn wir nur wollen, die Zukunft zu meistern. Auf diese Weise sollten wir aufbrechen in das neue Jahrhundert. Dabei geht es nicht mehr allein um Deutschland, sondern auch um Europa. Der Außenminister Polens hat mir vorhin gesagt: "Wir setzen auf die Deutschen als unseren wichtigsten Partner und Freund beim Beitritt in die Europäische Union."

 

Meine Damen und Herren, wir sind auf gutem Wege, das gemeinsame Haus Europa zu errichten. Dabei hat es in den letzten Jahren erfreuliche Fortschritte gegeben: Zum Beispiel haben wir vor gut zwei Jahren das deutsch-niederländische Korps in Dienst gestellt. Im nächsten Jahr wechselt dort der Kommandeur. Anstelle eines Niederländers, dessen Amtszeit abgelaufen ist, wird dann ein Deutscher das Kommando führen. Begreifen wir eigentlich, was es heißt, daß am Ende dieses Jahrhunderts die Landstreitkräfte unseres Nachbarlandes Niederlande im Rahmen dieses Korps von einem deutschen General befehligt werden?

 

François Mitterrand hat in seiner letzten, großen Rede vor dem Europäischen Parlament - kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt und ein paar Wochen vor seinem Tod - den Abgeordneten zugerufen: "Nationalismus, das ist der Krieg." Das heißt nicht, daß heute Krieg droht, sondern es ist ein Hinweis darauf, daß dieses Europa mehr ist als die Summe von ökonomischen und sozialen Daten. Zu dem Europa, das wir bauen, gehört ganz wesentlich auch sein kulturelles Erbe, der Geist der Vermählung von humanistischen Ideen und christlichen Überzeugungen. Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes findet nur noch in vergilbten Büchern statt, aber nicht in unserer Zeit.

 

Meine Damen und Herren, wir haben alle Chancen für eine gute Zukunft, wenn wir es nur wollen. Als Verleger möchte ich Sie dazu einladen, den Aufbruch in die Zukunft mit zu gestalten. Natürlich gibt es immer wieder Meinungsverschiedenheiten. Aber über den Streit dürfen wir die Perspektive nicht vergessen: Was können wir tun im Blick auf die nächste Generation, für die Zukunft unserer Kinder? Was werden sie im Jahr 2050 über uns sagen, über den jetzigen Bundeskanzler, die Politiker und die Verleger? Ich wünsche uns, daß sie von uns sagen werden: "Die haben die Zeichen der Zeit erkannt und das Richtige getan."

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 97. 5. Dezember 1997.