Artikel zum 25-jährigen Bestehen des Deutschen Gewerkschaftsbundes
Der Rückblick auf 25 Jahre erfolgreicher Arbeit der Gewerkschaften ist zugleich ein Rückblick auf ein Vierteljahrhundert freiheitlicher Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik Deutschland, einer Ordnung, die gekennzeichnet ist u.a. durch Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie. Dieser Rückblick bietet uns Anlaß, eine Zwischenbilanz zu ziehen, die Fragen nach den Grundlagen freier Gewerkschaften und ihrem Verhältnis zu politischen Parteien, Staat und Gesellschaft neu zu stellen.
Die Einheitsgewerkschaft war nach 1945 ein entscheidender Fortschritt nicht nur für die deutsche Gewerkschaftsbewegung, sondern auch für Staat und Gesellschaft in Deutschland. Der historische Rückblick und der internationale Vergleich beweisen: der DGB und seine Einzelgewerkschaften haben in der Einheitsgewerkschaft ein Modell verwirklicht, das anderen Alternativen überlegen ist. Es ist weder durch eine Identität von (Arbeiter-)Partei und Gewerkschaft gekennzeichnet noch durch eine Zersplitterung in konkurrierende weltanschauliche und politische Richtungen. Das Konzept der Einheitsgewerkschaft war und ist dazu geeignet, ihren Einfluß durch Geschlossenheit und nicht ihre Ohnmacht durch Zerstrittenheit zu fördern, die Interessen der Arbeitnehmer wirksam zu vertreten und sie nicht durch eine Verfilzung mit den Interessen der Mächtigen zu verraten. CDU-Politiker der ersten Stunde wie Jakob Kaiser und Karl Arnold wurden nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen. Mit der Einheitsgewerkschaft verwirklichte sich - wie übrigens auch mit der Idee der Union als einer Volkspartei - eine neue, in die Zukunft weisende, alles andere als restaurative Idee, geboren aus den Erfahrungen des fehlgeschlagenen Versuches der ersten deutschen Demokratie.
Der DGB kann jetzt, 25 Jahre nach seiner Gründung, auf eine erfolgreiche Entwicklung zurückblicken. Dieser Erfolg fiel in eine Zeit, da es die Gewerkschaften - abgesehen von den letzten fünf Jahren - mit der CDU/CSU als führender Regierungspartei zu tun hatten. Auch wenn man im Rückblick einiges kritisch und auch selbstkritisch sehen mag: die Jahre von 1949 bis 1969 waren Jahre beträchtlicher sozialer Fortschritte. In diese Zeit fallen Gesetze zur dynamischen Rentenversicherung, zur Montanmitbestimmung, Betriebsverfassung, Mutterschutz, Kündigungsschutz, das Personalvertretungsgesetz, die Lohnfortzahlung für Arbeitnehmer, um nur an einige Wegmarken unserer Sozialpolitik zu erinnern. Die Gewerkschaften selbst haben diese Erfolge mitbewirkt. Wer behauptet, der soziale Fortschritt habe mit der SPD/FDP-Regierung erst richtig begonnen, stellt den Gewerkschaften selbst ein schlechtes Zeugnis aus. Die größeren sozialen Fortschritte - gerade für die konkrete Situation des Arbeitnehmers - haben die Gewerkschaften nicht unter einer SPD-, sondern unter einer CDU/CSU-geführten Regierung errungen. Die Entwicklung seit 1969 bestätigt diesen Sachverhalt.
Damit keine Mißverständnisse entstehen: die Feststellung dieser Tatsachen ist nicht Ausdruck unkritischer Selbstzufriedenheit der CDU; sie unterstreicht lediglich den Erfolg, den die Gewerkschaften mit einer CDU-Regierung errungen haben.
Es steht außer Zweifel: Ohne den Beitrag der Gewerkschaften wären Staat und Gesellschaft nicht das, was sie heute sind; hätten wir nicht jenes Maß an sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Stabilität und sozialem Frieden, auf das wir alle gemeinsam stolz sein können - wenngleich nicht zu übersehen ist, daß dieses Kapital in den letzten Monaten und Jahren mehr und mehr schwindet. Bei aller Gegensätzlichkeit der Interessen verband in den vergangenen 25 Jahren ein Bewußtsein der Gemeinsamkeit und der Partnerschaft die streitenden Sozialparteien. Dieses Bewußtsein war stärker als alle sozialen und politischen Gegensätze. Diese soziale Partnerschaft allein verhinderte, daß aus Gegensätzen Feindschaft, aus Tarifauseinandersetzungen Klassenkampf wurde, der die Gesellschaft gesprengt hätte. Auch deshalb wurde Bonn nicht Weimar.
Freie Gewerkschaften gibt es nur in einer freien Wirtschaftsordnung, so wie eine freie Wirtschaftsordnung auch freie Unternehmer voraussetzt. Die Qualität der Gewerkschaften ist abhängig von der Qualität der Wirtschaftsordnung. Als autonome Verbände tragen sie bei zur Entwicklung und Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft, insbesondere zur Einlösung ihres sozialen Anspruches. Es ist das gute Recht der Gewerkschaften, an der Formulierung des Gemeinwohls in Staat und Gesellschaft mitzuwirken.
Man sollte sich selbst den Zugang zu den Problemen, die wir gemeinsam bewältigen müssen, nicht durch Zerrbilder verbauen: wir leben heute in der Bundesrepublik Deutschland weder in einem kapitalistischen System noch in einem Gewerkschaftsstaat.
In unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist die Freiheit der Unternehmer begrenzt: durch Rechte und Märkte, durch Gesetze, Wettbewerb und Tarifverträge, durch Sozialpolitik, Mitbestimmung und Betriebsverfassung.
Es ist hier nicht der Ort, die Soziale Marktwirtschaft erneut als die freiheitlichste Wirtschaftsordnung zu begründen. Sie ist eine Wirtschaftsordnung im Dienste der Gesellschaft. Die Wirtschaft ist für die Gesellschaft da - und nicht umgekehrt. Die Soziale Marktwirtschaft geht davon aus, daß der Markt nicht automatisch alle sozialen Probleme löst: ein ausschließlich marktrationales Kalkül kann soziale Probleme, externe Kosten verursachen, deren Lösung der Markt selbst nicht anbietet. Die Soziale Marktwirtschaft verabsolutiert nicht das Marktsystem. „Sozial" ist nicht nur ein schmückendes Beiwort, sondern ein integrierender Bestandteil dieser ordnungspolitischen Konzeption.
Die Soziale Marktwirtschaft hat sich bewährt. Wenn wir an ihr festhalten, dann nicht primär aus ökonomischen Gründen höherer Effizienz, sondern weil sie eine sozial gerechtere und demokratischere Wirtschaftsordnung ist als jede bekannte Alternative. Allerdings: Wir müssen in Zukunft ihre Prinzipien konsequenter anwenden als wir - und ich schließe hier die CDU/CSU ausdrücklich ein - dies in der Vergangenheit bisweilen getan haben, auch dann, wenn wir damit jene angeblichen Repräsentanten der Marktwirtschaft treffen, die sich zu ihr vorwiegend in Feierstunden, nicht aber in der täglichen Praxis bekennen. Die Soziale Marktwirtschaft ist mit einer Vermachtung der Märkte, mit Monopolbindungen jeglicher Art nicht vereinbar. Die Konzentration in der Wirtschaft und die multinationalen Konzerne stellen uns vor neue, bisher noch nicht befriedigend gelöste Probleme. Die Fusionskontrolle war ein Schritt in die richtige Richtung. Wirksame Machtkontrolle ist eine ständige politische Aufgabe.
Die Offenheit der Märkte, die Freiheitlichkeit unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist heute von verschiedenen Seiten bedroht. Wer die Gefahr sieht und ihr entgegenwirken will, daß die Soziale Marktwirtschaft in ein kapitalistisches System des 19. Jahrhunderts umschlagen könnte, wenn man sie sich selbst überläßt, der muß rechtzeitig über jene Gefahren nachdenken, die sich aus Forderungen und Entwicklungen ergeben, die am Ende zu einer Konzentration von Macht in den Händen organisierter Gruppen dann führt, wenn diese ihre Autonomie überdehnen und ihre Kompetenzen überschreiten.
Diejenigen, die paritätische Mitbestimmung und kollektive Vermögensbildung durch zentrale Fonds ausschließlich als Mittel zu einseitiger Verteilung von Macht in der Gesellschaft einsetzen wollen, die Planung und Steuerung der Investitionen durch gesamtwirtschaftliche Mitbestimmung und Investitionslenkung erstreben, provozieren die berechtigte Frage, ob diese Anhäufung von Kompetenzen in einer Hand noch mit den verfassungsrechtlichen Garantien der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie, mit dem ausgewogenen Kontrollsystem der Sozialen Marktwirtschaft und dem erforderlichen Gleichgewicht gesellschaftlicher Gruppen in Einklang zu bringen ist.
Jede autonome Gruppe in der Gesellschaft, auch die Gewerkschaften, ist immer wieder gefordert, ihren Autonomieanspruch und die ihr gegebenen oder von ihr beanspruchten Kompetenzen zu legitimieren. Jeder Träger von Macht in dieser Gesellschaft muß sich der kritischen Diskussion stellen. Aufgabe der Regierung und der Parteien ist es, darauf zu achten, daß autonome Gruppen ihre Kompetenzen nicht überschreiten, sich selbst nicht von jeglichen Kontrollen freisetzen und in der Handhabung der eigenen Marktchancen nicht das Gleichgewicht der Kräfte zerstören und das Gemeinwohl gefährden.
Wer die genannten Forderungen unterstützt, muß sich fragen lassen, ob die tatsächlichen Folgen dieser Vorschläge nicht im Widerspruch stehen werden zu dem Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit und mehr Freiheit für den einzelnen Arbeitnehmer, das das Motiv für diese Forderungen ist. Die gute Absicht allein ist in der Politik noch kein Garant dafür, daß die angestrebten Ziele auch tatsächlich erreicht werden. Eine Politik ist nach ihren Ergebnissen, nicht nach ihren Absichten zu beurteilen: das gilt für Regierung, Parteien und Verbände in gleicher Weise.
Über viele Punkte kann und muß man diskutieren, aber die kumulative Wirkung und vor allem die unbeabsichtigten Neben- und Folgewirkungen der genannten Vorschläge könnten eine Entwicklung einleiten, die nicht nur zum Ende der Sozialen Marktwirtschaft führt, sondern durch ihre Machtkonzentration auch die demokratische Qualität unserer Gesellschaft reduziert und nicht zuletzt den Gewerkschaften selbst schadet. Diese können ihren Auftrag also nur in einer marktwirtschaftlich verfaßten Ordnung erfüllen.
Gewerkschaften sind als Organisation zur Vertretung der Arbeitnehmerinteressen notwendiger Bestandteil des Systems zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Macht und Gegenmacht, checks und balances, Kontrolle jeder Machtausübung in Staat und Gesellschaft, kennzeichnen Demokratie. So ist das Prinzip der Gegenmacht ein originäres demokratisches Prinzip. Opposition gegen die Mächtigen ist aber nur solange glaubwürdig, solange man selbst nicht allmächtig ist. Gewerkschaftliche Übermacht zerstört die Grundlagen ihrer eigenen Macht. In einem „Gewerkschaftsstaat" wären Gewerkschaften allmächtig - und funktionslos.
Die Gewerkschaften stehen gegenwärtig vor einer grundsätzlichen Entscheidung. Sie müssen entscheiden, was sie wollen - für sich selbst wie für diesen Staat und diese Gesellschaft:
- eine sozial gebundene Marktwirtschaft in der liberal-pluralistischen Gesellschaft, in der sie, als Anwalt der Arbeitnehmer - und speziell ihrer Interessen als Betriebsangehörige - mit allen rechtlichen Mitteln für mehr soziale Gerechtigkeit und Sicherheit kämpfen;
- eine syndikalistische Gesellschaftsordnung, in der sie den Staat in die Gesellschaft hinein auflösen und selbst hoheitliche Funktionen übernehmen: Gewerkschaften als Staatsersatz, antipluralistischer Syndikalismus als Ende einer freien und offenen Gesellschaft;
- oder aber eine „sozialistische" Gesellschaftsordnung, die Gewerkschaften allenfalls als Transmissionsriemen von „oben" nach „unten", als Vertretung der Interessen der Mächtigen gegenüber den Ohnmächtigen braucht, sie aber ansonsten funktionslos macht.
Dies sind die Alternativen. In der Nachkriegszeit haben sich die Gewerkschaften eindeutig für die erste Alternative entschieden. Ein Teil der jüngeren Generation nimmt, so scheint es, unter dem Einfluß des Neomarxismus der Neuen Linken Abschied von den Erfolgsmustern der Vergangenheit. Sie verrät im nachhinein ihren eigenen Anteil am Erfolg der letzten 25 Jahre. Die Gewerkschaften waren es nämlich nicht zuletzt, die die Soziale Marktwirtschaft funktionsfähig gemacht haben.
Für die zweite und dritte Möglichkeit hält die Theorie des Sozialismus eine Rechtfertigung bereit, die sie aus dem geistigen Arsenal der Identitätstheorie der Demokratie entlehnt - aus der sich übrigens zu allen Zeiten auch autoritäre bis reaktionäre Denker und Politiker bedient haben. Das Argument ist einfach: die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft - 80 % etwa ist die gängige Zahl - sind Arbeitnehmer. Ihre Interessen als Arbeitnehmer sind im Grunde alle die gleichen, sie sind identisch. Gewerkschaften und ihre Funktionäre erkennen und vertreten lediglich diese Interessen der Arbeitnehmer. Sie üben ihre Macht selbstlos im Interesse (fast) aller aus. In ihren Händen ist Macht nicht länger Herrschaft über Menschen, die kontrolliert werden müßte. So wie der Identitätstheorie der Demokratie zufolge Regierende nicht eigentlich Macht ausüben, sondern nur den „Willen des Volkes" vollstrecken, so erkennen und verwirklichen Gewerkschaften - und ihre Funktionäre - gleichsam automatisch den Willen und die Interessen der Arbeitnehmer. Anders formuliert: es gibt „gute" und es gibt „böse" Macht. Letztere wird im eigennützigen Interesse etwa der „Kapitalisten" ausgeübt, erstere im Interesse aller.
Diese Theorie liefert ein bequemes Selbstverständnis für alle, die die Macht haben. Sie legitimiert deren Herrschaftsanspruch und schützt ihn vor Kritik und Kontrolle. Diese Theorie definiert das Machtproblem hinweg - sie löst es nicht. Dem Grundgesetz liegt deshalb ein anderes Demokratieverständnis zugrunde. Dieses Demokratieverständnis ist gekennzeichnet durch die Idee der Kontrolle jeder Art von Macht durch Gewaltenteilung, Dezentralisation und Wettbewerb: nur kontrollierte Macht gilt als legitime Macht. Für die Gewerkschaften bedeutet dies: auch ihre Macht muß einer wirksamen Kontrolle unterliegen - und zwar einer externen Kontrolle durch den Markt der Wirtschaft und der Verbände und einer internen Kontrolle durch ihre Mitglieder. Gewerkschaften müssen heute wie andere Verbände und „Mächte" unserer Gesellschaft bestehen von der Frage nach der Demokratie, die sie in ihren eigenen Reihen verwirklichen und die sie in Staat und Gesellschaft ermöglichen.
Die Satzung des DGB stellt fest, daß der Bund und die in ihm vereinigten Gewerkschaften demokratisch aufgebaut sind. Politische Parteien wissen freilich um die Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit. Die innerparteiliche Demokratie ist in keiner der Parteien bisher völlig verwirklicht. Ihnen steht es deshalb nicht an, Lehrmeister für andere zu sein. Doch dies darf kein Alibi für die Gewerkschaften sein. Sie könnten ihre Glaubwürdigkeit wie alle anderen Organiationen der Gesellschaft durch eine Demokratisierung der Gewerkschaften erhöhen.
Natürlich haben die Gewerkschaften eine Funktion für die Gesellschaft, die einem Perfektionismus interner Demokratisierung Grenzen setzt. Nur: es waren gerade „linke" Sozialwissenschaftler, die den Glauben an den absoluten Widerspruch zwischen Demokratie und Effizienz widerlegten. Offenheit, Pluralität und kritische Diskussion sind im übrigen kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen der Stärke und Vitalität freier Gewerkschaften. Die Grundlage ihrer Macht liegt nirgendwo anders als in dem engen Kontakt zu ihren Mitgliedern, in der tatsächlichen Vertretung der Arbeitnehmerinteressen. Stärke und Dynamik freier Gewerkschaften liegen in der Zustimmung ihrer Mitglieder begründet.
In der letzten Zeit mehren sich in der Diskussion die Zeichen für eine gewisse Entfremdung der Mitglieder von den Gewerkschaften. Die Ergebnisse der jüngsten Sozialwahlen und des im Auftrag der DGB von INFAS erstellten Gewerkschaftsbarometers 1973 belegen diese Tatsachen. Andere Untersuchungen kommen zu dem gleichen Ergebnis. Wer starke Gewerkschaften will, dem kann diese Entwicklung nicht gleichgültig sein.
Pluralismus und Offenheit in Gewerkschaften ist die Konsequenz der Idee der Einheitsgewerkschaft - und Alternative für einen Pluralismus zwischen Gewerkschaften. Die Einheitsgewerkschaft läßt sich nur dann theoretisch begründen und praktisch ertragen, wenn sie die politische und weltanschauliche Vielfalt der Gesellschaft in sich wiederholt anerkennt.
Dazu gehört u.a. ein wirksamer Minderheitenschutz in den Gewerkschaften. Dieser Minderheitenschutz hat eine doppelte Dimension. So widerspricht es zum einen dem Gebot der Solidarität, wenn mächtige Organisationen Vorteile für die vielen auf Kosten der wenigen am Rande der Gesellschaft - und der Gewerkschaft - durchsetzen: der Frauen, der älteren Arbeitnehmer und Rentner, der Gastarbeiter usw. Hier zeichnen sich neue Konfliktlinien in unserer Gesellschaft ab, die sich mit dem industriellen Konflikt des 19. Jahrhunderts zwischen „Kapital" und „Arbeit" nicht einfach decken. Vor diesen neuen Interessen- und Konfliktlagen dürfen Gewerkschaften ihre Augen nicht verschließen.
Minderheitenschutz hat ferner noch eine andere, konkrete Bedeutung. Jeder weiß, wie schwer es die Vertreter der Sozialausschüsse der CDA in den Gewerkschaften haben. Ihre Leistung und ihr Einsatz für die Arbeitnehmer werden vielfach nicht als selbstverständlich und gleichberechtigt anerkannt. Auch hier geht es um die demokratische Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften. Die Rechte dieser Minderheiten werden nicht schon durch einige personelle Konzessionen geschützt, denen man ihre dekorative Bedeutung oft nur zu leicht ansieht.
Die Qualität einer Demokratie erweist sich daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Niemand weiß dies besser als die Gewerkschaften, deren Geschichte lange Jahre die Geschichte einer Minderheit und eines Kampfes um die Durchsetzung ihrer Rechte war. Aufgrund ihrer geschichtlichen Erfahrung sollten sie besonders sensibel für die Situation von Minderheiten sein. Die CDU und die Sozialausschüsse wollen keine Privilegien. Sie verwechseln Minderheitenschutz nicht mit einer Art „Naturschutz". Wir wissen: Einfluß setzt Engagement im DGB voraus. Daran hat es bisher sicher auch da und dort in der CDU gefehlt. Das wird sich ändern.
Gewerkschaften müssen in ihrer inneren Verfassung der Vielfalt der Gesellschaft entsprechen, und sie müssen diese Vielfalt in ihrem Verhalten und in ihrem Selbstverständnis leben.
Gewerkschaften repräsentieren die Arbeitnehmer nur in einem wichtigen Bereich. Ihre Mitglieder gehen nicht mit all ihren Bindungen und Loyalitäten völlig in den Gewerkschaften auf. Es ist ein Zeichen der Freiheit des Menschen, sich zur Wahrnehmung unterschiedlicher Interessen in verschiedenen Verbänden zu organisieren und zwischen diesen wählen zu können. Jeder Arbeitnehmer hat eine Fülle unterschiedlicher Interessen - als Lohnempfänger, Betriebsangehöriger, Verbraucher, Steuerzahler, Mitglied einer Kirche und Partei usw. usf. Seine Freiheit wird dadurch gewährleistet, daß sich Herrschaft in eine Vielzahl von Kompetenzen und Zuständigkeiten aufteilt, von denen keine eine Allkompetenz beanspruchen darf. Angesichts dieser Tatsache ist es unvorstellbar, daß eine Organisation für 80 % der Bevölkerung - und noch dazu für sämtliche Interessen und Lebensbereiche (von § 218 über Hochschulpolitik bis hin zur Ostpolitik) sprechen will. Dieser Alleinvertretungsanspruch muß die Einheitsgewerkschaft sprengen. Er verurteilt sie zur Ohnmacht: alles zu wollen heißt: nichts zu wollen. Dieser Anspruch auf Allkompetenz muß außerdem zu einer gewerkschaftlichen Omnipotenz führen, die mit der Idee der Demokratie nicht vereinbar ist.
Der Auftrag der Gewerkschaften ist nicht unbegrenzt. Dieser Auftrag kann ihnen gewiß nicht autoritär von außen zugewiesen werden. Niemand will die Gewerkschaften auf Tarifmaschinerien verkürzen. Auch dürfen und können sie die Interessen, die sie wahrnehmen, nicht nur rein materiell definieren. Dies zuzugestehen bedeutet jedoch nicht, eine Allzuständigkeit der Gewerkschaften zu rechtfertigen. Die Stärke der Gewerkschaften beruht in der weisen Selbstbeschränkung ihrer Aufgaben. Nur so verhindern sie auch, daß die Mitglieder ihre Ablehnung parteipolitischer Äußerungen einiger Funktionäre auf die Gewerkschaften selbst übertragen - und sich von ihnen abwenden.
Dieser umfassende Anspruch auf ein politisches Mandat läuft quer zu den Prinzipien der Demokratie. In einer Demokratie unterscheiden sich die Aufgaben und die Legitimation von Parteien und Verbänden grundsätzlich. Verbände vertreten Interessen, Parteien und Regierungen müssen unterschiedliche Interessen zum Ausgleich bringen. Verbände repräsentieren den Menschen in seiner Rolle als Interessenten. Parteien, Abgeordnete, Parlamente, Regierungen repräsentieren den Menschen als politischen Bürger mit einer Fülle unterschiedlicher, z.T. auch widersprüchlicher Interessen, die es zum Ausgleich zu bringen, zu integrieren gilt. Das politische Mandat kommt in einer Demokratie nur den demokratischen, legitimierten Organen - Regierung und Parlament - und davon abgeleitet den politischen Parteien zu.
Parteien erbringen für die Demokratie eine andere Funktion als Verbände. Sie schaffen die Voraussetzung dafür, daß der Bürger zwischen politischen Alternativen frei wählen kann. Der Einzelne muß in der Lage sein, diese Alternative als solche zu erkennen und frei zwischen ihnen zu wählen. Dies ist nicht mehr der Fall, wenn die Gewerkschaften ihre parteipolitische Unabhängigkeit aufgeben, wenn sie ihre Autorität als Gewerkschaften dazu mißbrauchen, ihre Mitglieder einseitig so zu beeinflussen, daß es für diese nur noch eine vernünftige Möglichkeit der politischen Wahl gibt. Wenn sie dies tun, gefährden sie die Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb.
Politische Parteien und Regierungen müssen den Anspruch des Ganzen im Interesse aller notfalls gegen den Anspruch mächtiger Organisationen zur Geltung bringen. In einer offenen Gesellschaft kann das Gemeinwohl nicht ohne Einzel- und Gruppeninteressen auskommen. Aber das Gesamtinteresse ist nicht die Addition von Einzelinteressen.
Eine demokratische Regierung muß mit Autorität die Sozialbindung einer jeden Grundlage von Macht, auch der Macht mächtiger Verbände, einfordern können. Dies ist nicht der Ruf nach einem „Gewerkschaftsgesetz" - das die CDU ablehnt -, sondern Ausdruck der Erkenntnis, daß nur so Demokratie nicht nur im kleinen, in gesellschaftlichen Teilbereichen, sondern auch im großen und ganzen, nämlich in Staat und Gesellschaft, möglich bleibt.
Die demokratische und soziale Entwicklung der Bundesrepublik, gekennzeichnet durch weniger Spannungen und Gegensätze als jene in anderen Ländern Europas, wäre ohne den Beitrag starker Gewerkschaften und starker Arbeitgeberverbände nicht möglich gewesen. Wir haben allen Grund, an den Grundlagen dieser Entwicklung, die wir anerkennen, auch in Zukunft bei uns festzuhalten und sie darüber hinaus auch im europäischen Rahmen zur Geltung zu bringen. Die - wenn auch nur mühsam - wachsende Einigung Europas stellt auch an die Gewerkschaften neue Aufgaben; sie erfordert von ihnen eine noch stärkere supranationale Zusammenarbeit. Dabei kann es selbstverständlich nur eine Solidarität mit demokratischen Gewerkschaften geben.
Die deutschen Gewerkschaften können, 25 Jahre nach ihrer Gründung als Einheitsgewerkschaft, auf eine erfolgreiche Geschichte zurückblicken. Sie befinden sich jetzt in einer Situation, die eine Klärung ihres Selbstverständnisses erfordert. Noch vor einigen Jahren zeigten Umfragen, daß das öffentliche Ansehen, auf das die Gewerkschaften um ihrer Aufgabe willen angewiesen sind, stetig im Steigen begriffen war. Diese Tendenz hat sich in jüngster Zeit umgekehrt. Jetzt wächst die Angst der Bürger vor der Übermacht mächtiger Organisationen, auch der Gewerkschaften. Das sollte allen um die Entwicklung unserer Demokratie Besorgten zu denken geben.
Die CDU will keine Konfrontation mit den Gewerkschaften. Sie will eine faire Zusammenarbeit. Diese liegt im Interesse beider Seiten. Der DGB verliert seinen Einfluß, er bringt sich selbst um mögliche Erfolge, wenn er sich einseitig an eine Partei bindet. Die CDU hatte nur Erfolg und wird Erfolg haben dank der Unterstützung vieler Arbeitnehmer.
Gewerkschaften wie CDU stehen vor der Herausforderung, gesellschaftlichen Wandel in Freiheit zu ermöglichen. Die Gewerkschaften selbst können sich diesem Wandel nicht entziehen: sie werden sich - wie andere Organisationen und Verbände auch - ändern müssen. Nur dann können sie den gesellschaftlichen Wandel aktiv beeinflussen.
Den künftigen Kurs des DGB zu steuern, ist Aufgabe der Mitglieder selbst. Die Arbeitnehmer und Mitglieder, die der CDU angehören, müssen und werden sich verstärkt an dieser Aufgabe beteiligen. Nur dann können die Gewerkschaften auch in Zukunft den Wandel der Gesellschaft in Richtung mehr Freiheit und mehr soziale Gerechtigkeit für den einzelnen Arbeitnehmer steuern.
Quelle: Gewerkschaftliche Monatshefte 1974, S. 621-629. Abgedruckt in: Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Hg. von Horst Teltschik. Bonn 1978, S. 59-68.