19. September 1996

Rede vor dem Mexikanischen Senat

 

Herr Präsident des Senats,

meine sehr verehrten Damen und Herren Senatoren,

Exzellenzen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

zunächst möchte ich mich bei Ihnen, Herr Präsident des Senats, sehr herzlich für die freundliche Einladung bedanken. In Ihren freundlichen Worten der Begrüßung habe ich die große Freundschaft verspürt, die unsere Völker miteinander verbindet.

Ich habe hohen Respekt vor Ihrer föderalen Kammer, war ich doch selbst sieben Jahre lang Ministerpräsident - Sie würden sagen: Gouverneur - des deutschen Bundeslandes Rheinland-Pfalz und Mitglied des Bundesrats. Auch wenn wir in Deutschland keinen Senat haben, sondern eine Kammer aus Regierungsvertretern der Bundesländer - den Bundesrat -, so war ich doch damals gleichsam ein Kollege von Ihnen.

Sie haben in Ihrer Ansprache auf die großen Reformen hingewiesen, die hier im Lande stattfinden. Zu diesen Reformen gehört auch die Entwicklung und Weiterentwicklung der föderalen Strukturen in Ihrem Land. Die föderale Struktur, wie wir sie in Deutschland aufgebaut und verwirklicht haben, ist für unser Land ein großes Glück geworden. Auch beim Aufbau des vereinten Europas lassen wir uns von föderalen Grundsätzen und Überzeugungen leiten.

Meine Damen und Herren, ich überbringe Ihnen und allen Bürgerinnen und Bürgern der Vereinigten Mexikanischen Staaten herzliche Grüße aus dem wiedervereinten Deutschland, vom befreundeten deutschen Volk. Ich nehme die Gelegenheit wahr, um noch einmal zu sagen, wie dankbar wir dafür sind, daß Sie uns in den Jahren der deutschen Teilung, in den Jahren, als die Mauer Berlin, Deutschland und Europa teilte, zur Seite standen - für die Freiheit und die Selbstbestimmung der Völker, mit Ihrer Sympathie und Freundschaft. Wir haben sehr genau gespürt, wie uns Deutschen in dieser Zeit auch hier aus Mexiko in einer großartigen Art und Weise Unterstützung zuteil wurde.

Die Beziehungen zwischen unseren Ländern waren und sind ausgezeichnet. Aber auch das, was sich sehr gut entwickelt hat, kann noch verbessert werden. Wir stehen gegenwärtig - nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums - weltweit in einem dramatischen Umgestaltungsprozeß: bei uns in Europa, in Deutschland, in Mittel-, Ost- und Südosteuropa und nicht zuletzt auch in vielen anderen Teilen der Welt. Das gilt auch für Lateinamerika und in hohem Maße auch für Ihr Land und für die Beziehungen zu Ihren Nachbarn.

Meine Damen und Herren, ich bin nicht hierhergekommen, um große Visionen zu entwickeln, von denen die Menschen nichts haben. Es geht um Arbeit und Brot. Es geht um Arbeitsplätze. Es geht um soziale Stabilität. Es ist eine wichtige Aufgabe der Politik, den Menschen Hoffnung zu geben. Deswegen brauchen wir eine verstärkte Zusammenarbeit und eine neue Qualität unserer Beziehungen.

Präsident Zedillo und ich haben eben in guten und sehr intensiven Gesprächen zahlreiche Punkte miteinander vereinbart. Wir wollen gemeinsam eine Reihe von Vorhaben, nicht zuletzt im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, verwirklichen. Präsident Zedillo hat meine Einladung für einen Besuch in Deutschland in der zweiten Jahreshälfte des kommenden Jahres angenommen. Wir werden bis dahin nach Kräften versuchen, das, was wir jetzt vereinbart haben, mit Leben zu erfüllen und umzusetzen.

Meine Damen und Herren, die ausgezeichneten Beziehungen zwischen Mexiko und Deutschland haben eine lange Tradition. Die ersten Deutschen kamen bereits im 16. Jahrhundert nach Mexiko. Sie haben sich an der Entwicklung Ihres Landes aktiv beteiligt und auf vielen Gebieten Hervorragendes geleistet.

In der Geschichte der deutsch-mexikanischen Beziehungen darf der Name Alexander von Humboldts nicht fehlen. Vor bald 200 Jahren veröffentlichte er seine Forschungsergebnisse nach Reisen durch Mexiko und den lateinamerikanischen Kontinent. Seitdem hat Ihr Land mit seiner reichen Geschichte, Kultur und herrlichen Landschaft die Deutschen fasziniert. Für uns Deutsche verbindet sich seither mit Mexiko Sympathie, Menschlichkeit und Fröhlichkeit des Herzens. Bei meinem ersten offiziellen Besuch vor zwölf Jahren habe ich den Zauber dieses Landes und die tiefe Freundschaft, die das deutsche und das mexikanische Volk verbindet, selbst unmittelbar erlebt.

Seit dieser Zeit hat es in der Welt Veränderungen säkularer Art gegeben. 1984 ahnte ich noch nicht, daß mein geteiltes Vaterland sechs Jahre später in Frieden und mit Zustimmung aller seiner Nachbarn wiedervereint werden würde. Heute leben die Deutschen in gemeinsamer Freiheit in einem Staat zusammen. Wir sind - wie es unser Grundgesetz formuliert - "von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Mein Vaterland blickt auf die längste Friedensperiode seiner jüngsten Geschichte zurück. Um diesen Frieden zu erhalten, wollen wir das vereinte Europa bauen und alles tun, damit dies ein Haus des Friedens ist.

Wir Deutschen brauchen das Haus Europa mehr als alle anderen. Wir wissen, daß der Friede und die Freiheit unseres Landes und unseres Kontinents auf Dauer nur in einem engen Zusammenschluß der europäischen Völker zu sichern sind. Wir wollen ein stabiles, ein starkes Europa bauen, aber keine "Festung Europa". Wir wollen dieses Europa doch nicht bauen, um die inneren Grenzen abzubauen, nur um dann äußere Grenzen aufzubauen. Wir wollen ein offenes Europa. "Offen" heißt für mich auch, daß wir mit Lateinamerika und Mexiko möglichst enge Beziehungen haben. Dem trägt auch das nach meinem Auftrag ausgearbeitete Lateinamerikakonzept der Bundesregierung von 1995 Rechnung.

Meine Damen und Herren, die Jahre 1989/90 waren nicht nur in Deutschland eine Zeitenwende. Kommunistische Regime mitsamt ihren Unterdrückungsapparaten fielen zusammen wie Kartenhäuser. In Mittel- und Osteuropa traten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ihren Siegeszug an. Die mächtige Sowjetunion, einst eine Supermacht, brach in sich zusammen. In Rußland kam es zu freien Wahlen, und erstmals in der Geschichte jenes Landes wurde sein Staatsoberhaupt vom Volk bestimmt. Wir wünschen dieser großen Nation Erfolg auf ihrem Weg zum demokratischen Rechtsstaat und zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung.

Mit Anteilnahme und großer Sympathie haben wir Deutschen auch den Triumph der Demokratie sowie den Prozeß der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung in nahezu ganz Lateinamerika verfolgt. Zentralamerika war in den 80er Jahren noch von schweren Konflikten in einigen Ländern geprägt. Heute gilt die Region als Modell einer erfolgreich verlaufenen Befriedung und Demokratisierung. Dazu haben Mexiko und die Europäische Union im Rahmen des "San-José-Dialogs" einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Der seit 1990 regelmäßig geführte Meinungsaustausch mit den Staaten der RIO-Gruppe ist für uns ein weiteres wichtiges Forum des Dialogs. Gemeinsam haben wir einen umfassenden Katalog von Werten und Prinzipien festgeschrieben und ein breites Spektrum von Feldern der Zusammenarbeit festgelegt. All dies gibt Anlaß zu Hoffnung und Zuversicht. Wir alle sollten mehr über solche Erfolge sprechen. Nur durch Dialog und Zusammenarbeit werden wir die Zukunft gewinnen.

Die großen Aufgaben und Herausforderungen unserer Zeit wie etwa Arbeitslosigkeit und Armut, aber auch der internationalen Kriminalität lassen sich nicht mehr im nationalen Alleingang lösen. Ich denke auch an den Umweltschutz, an die Bewahrung der uns anvertrauten Schöpfung. Ich weiß, daß dies nicht die erste Sorge von Menschen ist, die um ihr tägliches Brot bangen. Aber wir müssen stets auch an die nachfolgenden Generationen denken. Wir müssen heute handeln, um das Morgen zu sichern. Der Schatz der Natur, die Schöpfung, ist uns und unserer Generation nur leihweise überlassen. Wir tragen gegenüber unseren Nachkommen auch eine moralische Verantwortung für die Schöpfung.

Auch und vor allem die zunehmende Globalisierung der Märkte, der immer schärfer werdende Standortwettbewerb zwischen Ländern und Regionen um Investoren und Arbeitsplätze erfordern abgestimmte Lösungen. Die Integration Europas war und ist für den europäischen Kontinent die einzig mögliche Antwort für eine gute und sichere Zukunft. Schon bisher hat sie den Staaten Europas Wachstum und Wohlstand gebracht. Mit der NAFTA hat Mexiko einen historischen Schritt getan. Ich kann Sie nur ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Die NAFTA ist eine gute Antwort Mexikos auf die Globalisierung der Märkte und Internationalisierung der Produktion. Ihr Land nimmt mit seiner Mitgliedschaft eine Brückenfunktion zwischen Nord- und Südamerika wahr. Mexikos Mitgliedschaft in der APEC verbindet Ihr Land mit einer anderen großen Wachstumsregion in der Welt. Im globalen Rahmen muß es um Kooperation, nicht um Konfrontation gehen.

Für den freien Welthandel waren der erfolgreiche Abschluß der Uruguay-Runde des GATT und die Schaffung der Welthandelsorganisation ein großer Erfolg. Ihn gilt es zu bewahren. Ohne freien Welthandel werden wir keine sichere Zukunft haben. Aus diesem Grund sollte kein Land, und sei es noch so groß, einseitig Regeln aufstellen, die in die Teilnahme anderer am internationalen Handel eingreifen.

Meine Damen und Herren, es liegt auf der Hand, daß der Handel Mexikos mit seinem nördlichen Nachbarn von der Wachstumsdynamik profitiert. Doch die Europäische Union, ein Binnenmarkt von 370 Millionen Menschen, ist ebenfalls ein wichtiger Partner. Mexiko ist nach Brasilien unser zweitwichtigster Wirtschaftspartner in Lateinamerika. Über 500 deutsche Unternehmen sind in Mexiko ansässig. Ein Unternehmen wie Siemens hat gerade seine 100-Jahr-Feier begangen. Volkswagen in Puebla, das ich morgen besuchen werde, produziert schon seit 1954 in Mexiko. Wenn zu diesen großen Unternehmen noch weitere, auch mittelständische, Unternehmen kämen, wäre dies zum größten Vorteil unserer beiden Volkswirtschaften.

Ich versichere Ihnen: Die deutsche Wirtschaft hat großes Vertrauen in die weitere wirtschaftliche Entwicklung Mexikos. Die deutschen Unternehmen haben Ihrem Land auch in schwierigen Zeiten die Treue gehalten. Die ungebrochene Investitionstätigkeit der deutschen Industrie bestätigt das Vertrauen in Ihr Land auf eindrucksvolle Weise.

Meine Damen und Herren, unsere guten Beziehungen finden nicht nur in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einen festen Halt. Der Frieden und die Zukunftsentwicklung hängen nicht nur von ökonomischen Daten allein ab. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Deswegen ist es wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, daß es über die wichtigen ökonomischen Grunddaten hinaus wichtig ist, die Menschen nicht nur mit ihrem Verstand, sondern auch mit ihren Herzen und ihren Gefühlen zueinander zu bringen. Deswegen ist es wichtig, auch die kulturellen Beziehungen, die auch etwas mit Respekt und Achtung vor dem anderen zu tun haben, zu pflegen.

Unsere kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen haben sich in den letzten Jahren erfreulich entwickelt. Das Goethe-Institut hier in Mexiko-Stadt besteht seit 30 Jahren. In drei deutschen Schulen begegnen sich junge Deutsche und Mexikaner - hier, in Guadalajara und in Puebla, wo ich morgen mit dem Gouverneur die Grundsteinlegung für einen neuen Schulbau vornehmen werde. Die deutsche Schule in Mexiko-Stadt, das "Colegio Aleman Alexander von Humboldt" ist mit ihren 3000 Schülern die größte deutsche Auslandsschule weltweit - 80 Prozent der Schüler sind übrigens Mexikaner.

Meine Damen und Herren, Mexiko ist für uns ein beeindruckendes Beispiel einer gelungenen Synthese aus einer im eigenen Boden wurzelnden Kultur und einer modernen Industriegesellschaft. Mexikanische Malerei und Literatur erfreuen sich in Deutschland großer Beliebtheit. Ich denke an Diego Rivera und Frida Kahlo, an Carlos Fuentes und an Octavio Paz, der 1984 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Seine Worte bei der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche kommen mir in den Sinn, wenn ich an unsere beiden Länder denke. Er sagte damals:

Der einfachste und wesentlichste Ausdruck der Demokratie ist der Dialog, und der Dialog öffnet die Türen des Friedens. Nur wenn wir die Demokratie verteidigen, wird es uns möglich sein, den Frieden zu bewahren ...Der Dialog ist nur eine der Formen, vielleicht die höchste, der kosmischen Harmonie.

Ich empfinde diese Worte von Octavio Paz auch als eine Botschaft an unsere beiden Völker. Wir haben beide große Chancen für die Zukunft, und wir wollen beide uns leiten lassen von der Vision einer Welt, die frei ist von Furcht und Not. Wer sollte nach den Erfahrungen dieses Jahrhunderts optimistischer sein als wir, die wir heute in einer Zeit großer Chancen leben.

Es lebe Mexiko, es lebe die deutsch-mexikanische Freundschaft.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 80. 11. Oktober 1996.