2. April 1992

Regierungserklärung in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestags zu aktuellen Fragen der deutschen Außenpolitik

 

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Gerade an dem Amt und den Aufgaben des Verteidigungsressorts werden die tiefgreifenden Veränderungen und die neuen Herausforderungen deutlich, denen sich heute die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik gegenübersieht.

Frieden und Stabilität in ganz Europa, in seiner Mitte wie an seinen Grenzen, ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für eine weiterhin stabile Entwicklung auch bei uns in Deutschland.

Bei allen Problemen, die uns im eigenen Land bedrängen, dürfen wir die Entwicklungen in der Welt nicht aus den Augen verlieren. Dabei ist es richtig, dass uns die Sicherheitslage in unserer nächsten Nachbarschaft am unmittelbarsten berührt. Dies muss auch die Prioritäten unseres Handelns bestimmen.

Wir müssen klar sehen, dass heute wesentliche Gefährdungen der europäischen Stabilität von der Peripherie herkommen. Ich denke hierbei vor allem an den Mittelmeerraum, dessen Stabilität eben nicht nur für die unmittelbaren europäischen Anrainer von Bedeutung ist. sondern dessen Entwicklung ganz Europa angeht.

In diesem Raum ist die Türkei für Europa und für das Atlantische Bündnis ein wichtiger Partner. Die von mir geführte Bundesregierung hat sich stets zur Tradition der Freundschaft zwischen dem deutschen und dem türkischen Volk bekannt. Die bei uns lebenden und arbeitenden türkischen Mitbürger sind eine wichtige Brücke zwischen unseren Völkern.

Die Bundesregierung und vor allem auch ich selbst, wir setzen uns seit vielen Jahren für eine engere Ausgestaltung der deutsch-türkischen Beziehungen ein. Wir treten insbesondere für den Ausbau des Verhältnisses zwischen der Türkei und der Europäischen Gemeinschaft auf der Grundlage der bestehenden Assoziierung ein. Dies muss auch für die Zukunft Leitlinie unserer Politik sein.

[... ] Die Türkei war in der Vergangenheit auf Grund ihrer exponierten Lage an der Südostflanke der NATO ein Eckpfeiler auch unserer Sicherheit. Heute und für die Zukunft nimmt ihre Bedeutung angesichts der Entwicklung im Süden der früheren Sowjetunion sowie in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens weiter zu. Eine demokratische und in sich gefestigte Türkei kann und muss eine stabilisierende und zukunftsweisende Rolle für das Verhältnis dieser Region zu Europa einnehmen. Vor diesem Hintergrund hat auch die Bundesregierung in erheblichem Umfang Rüstungshilfe für die Türkei wie auch zugunsten Portugals und Griechenlands geleistet. Diese Rüstungshilfe erfolgte in der Kontinuität auch der früheren Bundesregierungen und vor allem auch im Interesse der Atlantischen Allianz.

Ich weise allerdings mit Nachdruck noch einmal darauf hin: Die entsprechenden Lieferverträge sehen ausdrücklich vor, dass dieses Material ausschließlich zur Verteidigung und - dies ist entscheidend - im Rahmen des Bündnisses verwendet werden darf. Wir bestehen darauf, dass diese Vereinbarungen strikt eingehalten werden. Wir werden nicht hinnehmen, dass von uns geliefertes Material im Rahmen innerer Konflikte eingesetzt wird. Die Bundesregierung wird daher mit der türkischen Regierung darüber zu sprechen haben, wie die strikte Einhaltung dieser Vereinbarungen sichergestellt werden kann. Wir halten es im Interesse eines guten und vertrauensvollen deutsch-türkischen Verhältnisses, aber auch wegen der Beziehungen innerhalb der Atlantischen Allianz, für unerlässlich, dass wir hierbei zu einer befriedigenden Lösung kommen.

Die Türkei selbst muss sich als Teil der westlichen Wertegemeinschaft - als Mitglied der NATO, des Europarats und der KSZE - an den europäischen Standards und Verpflichtungen messen lassen. Dies gilt vor allem für die Konventionen und Dokumente über Menschen- und Minderheitenrechte.

Die Bundesregierung hat daher die von der neuen türkischen Regierung unter Ministerpräsident Demirel angekündigte Politik der Verständigung mit der Bevölkerung im Südosten des Landes ausdrücklich gewürdigt. Ministerpräsident Demirel hat dieser Tage - ich zitiere ihn - erklärt, dass er den sich zunehmend vertiefenden Beziehungen zu Deutschland besonders große Bedeutung beimesse. Ich begrüße seine Äußerung, und auch wir wünschen, dass die traditionell guten deutsch-türkischen Beziehungen erhalten bleiben.

Wir alle verfolgen mit großer Sorge die Eskalation der Gewalt im Südosten der Türkei. Wir alle sind über die unschuldigen Opfer unter der Zivilbevölkerung zutiefst erschüttert. Wir haben stets bekräftigt, dass Gewalt kein Mittel der Politik sein kann, weder nach außen noch im Innern. Die Bundesregierung verurteilt und bekämpft jegliche Art von Terrorismus auf das nachdrücklichste. Auch der Türkei bestreitet niemand das Recht, sich gegen terroristische Handlungen auf rechtsstaatliche Art und Weise zur Wehr zu setzen.

Die Bundesregierung weist mit Nachdruck Unterstellungen von türkischer Seite zurück, dass in Deutschland die PKK unterstützt werde. Wir werden und wollen auf keinen Fall zulassen, dass innertürkische Konflikte auf deutschem Boden ausgetragen werden.

Für die Entwicklung einer stabilen friedlichen Ordnung in Europa hat das deutsch-polnische Verhältnis eine Schlüsselfunktion.

Der soeben abgeschlossene Besuch von Präsident Walesa hat dies erneut unterstrichen. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass dauerhafter Friede auf unserem Kontinent nur gewährleistet ist, wenn Deutsche und Polen in guter Nachbarschaft, ja, in Vertrauen und Freundschaft zusammenleben.

Wir sind jetzt dabei, das deutsch-polnische Verhältnis zukunftsweisend zu gestalten: Das deutsch-polnische Vertragswerk ist am 16. Januar 1992 in Kraft getreten. Die Vereinbarungen über die deutsche Minderheit sind beispielhaft in Europa. Es ist offenkundig, dass sich ihre Lage inzwischen wesentlich verbessert hat. Wir sind selbstverständlich nachhaltig um weitere Fortschritte bemüht.

Die Deutsch-Polnische Regierungskommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit hat vor wenigen Tagen weitreichende Verbesserungen der Situation an der deutsch-polnischen Grenze, das heißt, mehr Übergänge und schnellere Abwicklung, beschlossen.

Auch der Deutsch-Polnische Umweltrat hat seine Arbeit begonnen.

Das Deutsch-Polnische Jugendwerk, auf das ich persönlich besondere Hoffnung setze, wird noch in diesem Jahr seine Tätigkeit aufnehmen.

Präsident Walesa hat in den Gesprächen mit mir bekräftigt, dass die Festigung der Demokratie und der konsequente Übergang zur Sozialen Marktwirtschaft für ihn vorrangige politische Ziele auf dem Weg Polens nach Europa sind. Ich habe unsere Bereitschaft erklärt, Polen auf diesem Weg tatkräftig zu unterstützen. Das Assoziierungsabkommen zwischen Polen und der Europäischen Gemeinschaft und der Beitritt Polens zum Europarat sind erste wichtige Schritte.

Ich habe dem polnischen Präsidenten versichert, dass sich die Bundesrepublik Deutschland, wenn insbesondere die wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt sind, nachdrücklich für den Beitritt Polens zur künftigen Europäischen Union einsetzen wird.

Deutsche und Polen haben aus den leidvollen Kapiteln der Geschichte gelernt. Deshalb sollten wir heute unsere Kräfte zusammenfuhren, um gemeinsam eine friedliche Zukunft zu bauen; denn wir stehen ja auch gemeinsam in der Verantwortung für kommende Generationen.

Europa - und unser eigenes Land, Deutschland, in seiner Mitte - durchlebt eine Zeit des tiefen Umbruchs. Was Jahrzehnte unumstößlich schien, wie die Konfrontation zwischen Ost und West, wie die Teilung unseres Vaterlands, wurde in einer kurzen Zeitspanne weggefegt. Alte Vorurteile, Klischees und Feindbilder landeten dort, wo sie hingehören: auf dem Abfallhaufen der Geschichte.

Der Wandel eröffnet nunmehr allen Völkern in Europa die großartige Chance, ihr Schicksal und ihre Zukunft in eigener Verantwortung zu gestalten.

Wir Deutschen haben unsere historische Chance genutzt: Deutschland hat in Frieden und Freiheit und im Einvernehmen mit all seinen Nachbarn und Partnern seine Einheit wiedergefunden.

Ich verstehe natürlich die Sorgen vieler Menschen, dass der Wandel neue, ungewohnte Probleme und auch Unwägbarkeiten mit sich bringt. Wir wissen vor allem aus unserer deutschen Erfahrung, wie schwer die Völker in Mittel-, Ost- und Südosteuropa unter der verheerenden Hinterlassenschaft des kommunistischen Zwangssystems leiden. Gerade wir in Deutschland wissen, was es bedeutet, den Schutt einer über vierzigjährigen Fehlentwicklung beseitigen zu müssen.

Unsere Nachbarn, die Reformstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, und die Nachfolgerepubliken der Sowjetunion brauchen einen neuen Halt. Wir Deutsche wollen gemeinsam mit unseren Freunden und Verbündeten dazu beitragen, dass sie diesen Halt erfahren. Ihre neugewonnene Freiheit soll Grundlage einer neuen, einer dauerhaften Stabilität auf unserem Kontinent werden.

Dies liegt in unserem ureigenen Interesse. Denn gerade für uns Deutsche gilt, dass wir eben nicht abgeschottet auf einer Insel leben, sondern im Herzen Europas, und dass wir ganz unmittelbar und mehr als andere von dem berührt werden, was in unserer Nachbarschaft geschieht. Politische Instabilität, wirtschaftliche Not, sozialer Unfrieden, ja, revolutionäre Entwicklungen bei unseren östlichen Nachbarn würden direkt auch auf die innere Situation Deutschlands zurückwirken.

Indem wir den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas helfen, helfen wir uns selbst. Man kann diesen Satz nicht oft genug und nicht laut genug auch in der deutschen Öffentlichkeit sagen. Indem wir Brände löschen, verhüten wir, dass die Funken auf andere Teile Europas überspringen. Ich erinnere nur an die Konflikte im bisherigen Jugoslawien oder im Kaukasus. Indem wir Menschen in Not helfen, bieten wir ihnen Zukunftsperspektiven für sich und für ihre Kinder in der angestammten Heimat.

So verständlich es ist, dass Menschen, die in wirtschaftlicher Not sind, zu uns kommen wollen, so wahr ist auch, dass wir die Probleme vieler Länder der Welt nicht auf dem dicht besiedelten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lösen können. Gerade deshalb unterstreiche ich auch unsere Pflicht und unser ureigenstes Interesse, diesen Menschen in ihrer eigenen Heimat zu helfen, damit sie dort ihre Zukunft finden.

Angesichts der steigenden Zahl von Asylbewerbern in der jüngsten Zeit will ich hier noch einmal die Gelegenheit nutzen und an alle politisch Verantwortlichen, an alle demokratischen Parteien appellieren, dass wir möglichst rasch zu einer endgültigen, auch den europäischen Anforderungen genügenden Regelung in der Asylfrage kommen.

Eine friedliche und stabile Entwicklung auf unserem ganzen Kontinent, das ist der Schlüssel für eine Zukunft in Frieden und Freiheit auch für Deutschland. Bei unserer Politik der Stabilisierung verlassen wir uns auf bewährte Grundlagen. Die Werte der Freiheit und der Selbstbestimmung, für die die Völker Europas - und insbesondere auch unsere Landsleute in den neuen Bundesländern im Jahre 1989 so mutig eingetreten sind, sind und bleiben unsere Richtschnur. Wir setzen auf die schöpferische Kraft der Menschen; denn sie sind der entscheidende Motor für jeden Fortschritt.

Was jetzt gefragt ist, ist Solidarität. Es kann dabei nur darum gehen, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Auch kann Deutschland diese Last nicht allein tragen. Wir haben [... ] aus guten Gründen in der Vergangenheit, in den letzten Jahren schon mehr geleistet als viele andere, und jeder weiß: Wir sind an der Obergrenze unserer Möglichkeiten angelangt.

Ich begrüße aus diesem Grund ausdrücklich die jüngste Erklärung von Präsident Bush, und ich wünsche mir, dass alle unsere westlichen Partner und Freunde in diesem Sinne auch an der Vorbereitung der G7-Konferenz in München im Sommer dieses Jahres mitwirken. Ich denke dabei nicht nur an die G7, aber vor allem auch an diese.

Alle - die europäischen Partner in der G 7, die nordamerikanischen Partner und nicht zuletzt unsere japanischen Freunde - sollten nicht vergessen, dass jede Investition in die Nachfolgerepubliken der ehemaligen Sowjetunion, die zum Rechtsstaat, zur Demokratie, zu sozialer Sicherheit und wirtschaftlichem Aufschwung beiträgt, eine Investition in eine friedliche Zukunft unserer Welt bedeutet. Das ist unsere Politik! Wir in Deutschland können zu einer solchen stabilen Entwicklung auf unserem Kontinent um so besser einen Beitrag leisten, wenn wir dabei unsere eigenen Pflichten erfüllen und verlässliche Partner bleiben.

Dabei ist nicht nur die Politik gefordert, sondern gefordert sind alle Verantwortlichen in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und in vielen anderen Bereichen. Solidität und Stabilität müssen auch innenpolitisch oberste Priorität haben.

Wir wollen das vereinte Europa schaffen. Unser Land, in dem jeder dritte Arbeitnehmer für den Export arbeitet, verdankt einen ganz entscheidenden Teil seines Wohlstands der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft und einem freien Welthandel.

Aber wir dürfen nicht zulassen, dass dieses sich jetzt einigende Europa ausschließlich auf seine wirtschaftliche Dimension verkürzt wird. Unser Ziel ist die politische Einigung Europas in diesem Jahrzehnt, denn damit ziehen wir zugleich die Lehren aus der leidvollen Geschichte dieses Jahrhunderts und dienen vor allem auch deutschen Interessen. Auf diesem Weg darf es kein Zurück mehr geben, denn nur gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern in einem sich einigenden Europa werden auch die Deutschen Zukunft gewinnen.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 35 (3. April 1992).