2. Juni 1997

Rede bei der International Monetary Conference in Interlaken

 

Lieber Lord Alexander,
sehr geehrter Herr Außenminister, lieber Flavio Cotti,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

I.

 

gerade in diesen Tagen ist es für mich eine besondere Freude, hier in Interlaken bei Ihnen zu sein und mit Ihnen, hochrangigen Vertretern der größten Geschäftsbanken der Welt, zu diskutieren. Ich lade Sie herzlich ein, im Anschluß an meine einführenden Worte alle Sie interessierenden Fragen anzusprechen.

 

Bevor ich mich dem eigentlichen Thema zuwende - der europäischen Einigung - möchte ich vorweg eine Bemerkung zur aktuellen Diskussion der Neubewertung der Reserven der Deutschen Bundesbank machen. Ich stelle hier klipp und klar fest: Die Neubewertung der Bundesbankreserven ist kein Eingriff in die Unabhängigkeit der Bundesbank. Im Gegensatz zu dem, was gesagt und geschrieben wird, werden wir kein einziges Gramm Gold, keinen einzigen Dollar verkaufen. Die hervorragende internationale Reputation der Bundesbank, die mit ihrer glaubwürdigen und erfolgreichen Stabilitätspolitik verbunden ist, wird nicht in Frage gestellt. Wir wissen aus jahrzehntelanger positiver deutscher Erfahrung: Eine unabhängige Zentralbank ist ein Wert an sich. Ich selbst habe dies in meiner langjährigen politischen Tätigkeit - früher als Ministerpräsident in Mainz, dann als Oppositionsführer in Bonn und später als Bundeskanzler - immer wieder erfahren.

 

Worum geht es konkret? Mit der Gründung der Europäischen Zentralbank 1999 wird eine Neubewertung der Währungsreserven in jedem Fall erforderlich. Das Europäische Währungsinstitut hat hierfür Grundsätze entwickelt, die wir mit der Anpassung des Bundesbank-Gesetzes an den Maastricht-Vertrag anwenden müssen. Wir brauchen auf dem Weg zur Währungsunion eine gewisse Harmonisierung der Rechnungslegungsvorschriften der europäischen Zentralbanken. Dies ist Sache des Gesetzgebers. Das heißt: Deutschland wird seine - derzeit sehr niedrig bewerteten - Reserven höher bewerten. In diesem Punkt gibt es - bei aller Diskussion - keinen Meinungsunterschied zwischen Bundesbank und Bundesregierung.

 

Unterschiedliche Auffassungen bestehen darin, wann diese Neubewertung stattfinden soll. Die Bundesregierung will mit einer marktnäheren Bewertung und teilweisen Ausschüttung bereits 1997 beginnen. Damit erhält die Bundesbank die Möglichkeit, auftretende Liquiditätseffekte im Zeitablauf wieder auszugleichen. Anders als von manchen behauptet, gibt es daher keinen Grund, Inflationsgefahren heraufzubeschwören. Deutschland holt das nach, was in anderen EU-Staaten längst Normalität ist. Viele, die sich heute kritisch äußern, scheinen gar nicht zu wissen, daß die Bundesbank zur Zeit eine Unze Gold mit 92 US-Dollar bewertet, also nur mit einem Viertel des Marktwertes von rund 340 US-Dollar. Andere Zentralbanken - ob das nun in Österreich, in den Niederlanden, in Portugal oder Frankreich ist - haben marktnähere Bewertungen: Die Niederlande bewerten eine Unze Gold mit 247 US-Dollar, um nur das Beispiel eines Landes zu nennen, das aus gutem Grund als stabilitätsorientiert gilt. Es ist deshalb wichtig, daß wir die jetzige Diskussion wieder auf eine rationale Basis zurückführen.

 

Auch bei den Dollar-Reserven scheinen viele kritische Kommentatoren zu übersehen, daß die Bundesbank diese in strikter Anwendung der nationalen Rechnungslegungsregeln mit dem historisch niedrigsten Kurs von 1,36 DM je US-Dollar bewertet. Auch hier ist der Vergleich mit anderen Zentralbanken in Europa aufschlußreich. So orientieren sich beispielsweise die Zentralbanken in den Niederlanden, Frankreich, Finnland und Österreich bei ihrer Bewertung am Dollar-Marktkurs.

 

Ich bin sicher, daß die Bundesbank ihrer stabilitätspolitischen Verantwortung auch in Zukunft voll gerecht wird. So soll die Neubewertung der Goldreserven - mit einem Sicherheitsabschlag von 40 Prozent vom Marktwert - sehr vorsichtig erfolgen; dies gilt auch im Vergleich zur Bewertung in anderen europäischen Ländern. Die Bundesbank erhält im Zuge der Neubewertung ihrer Reserven eine substantielle Erhöhung ihres Grundkapitals und wird künftig über eine umfassende gesetzliche und freie Rücklage verfügen. Auch diese wichtige Tatsache wird in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion zumeist nicht erwähnt.

 

Entgegen manchen Unterstellungen werden mit dem anderen Teil der mit der Neubewertung verbundenen Auflösung stiller Reserven keine Haushaltslöcher in Deutschland gestopft. Statt dessen werden die Schulden- und Zinsbelastungen für die Zukunft zurückgeführt. Das ist letztlich auch im Sinne des Steuerzahlers, der dadurch entlastet wird. Die frei werdenden Mittel in einer Größenordnung von schätzungsweise 20 Milliarden D-Mark werden wir nämlich zur Tilgung der historischen Erblasten der DDR im Erblastentilgungsfonds einsetzen. Die Bundesbank hat diese Verwendung ausdrücklich begrüßt. Auch darüber gibt es bei uns keine Diskussion.

 

Meine Damen und Herren, gerade auch vor Ihnen, die Sie heute hier aus der ganzen Welt vertreten sind, möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen, daß seit der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 bis 1997 aus öffentlichen Haushalten für die neuen Länder netto rund 1000 Milliarden D-Mark aufgewendet worden sind. Natürlich ist die Deutsche Einheit für uns trotz aller Schwierigkeiten ein Geschenk, und wir sind all jenen dankbar, die uns dabei geholfen haben. Angesichts der historischen Dimension, die in der modernen Geschichte ohne Beispiel ist, ist es aber nicht nur legitim, den vernünftigen Weg einer maßvollen Neubewertung der Währungsreserven bereits jetzt zu gehen und nicht erst 1999. Er ist auch aus Gründen der Verteilung der historischen Lasten geboten, die das kommunistische SED-Regime uns Deutschen hinterlassen hat.

 

Ich möchte in diesem Kreis gerne noch etwas hinzufügen:

 

Ich habe damit gerechnet, daß die Entscheidung der Bundesregierung zur Neubewertung der Bundesbankreserven auf Kritik stößt. Ich wußte auch - im Gegensatz zu manchen meiner Kollegen vielleicht besser -, daß sich in diese Kritik auch so etwas wie Schadenfreude hineinmischt. Jetzt geht es uns Deutschen so ähnlich, wie es häufig einem Klassenprimus geht. Wenn dieser eine schlechte Note hat, freut sich die ganze Klasse darüber. Manche bei uns haben sich jahrelang wie ein Primus aufgeführt und unseren Partnern und Freunden in Europa mit erhobenem Zeigefinger erklärt, was sie falsch machen oder was sie ändern müssen. Und wenn wir jetzt Schwierigkeiten haben, freuen sich genauso alle anderen darüber. Wir dürfen uns darüber nicht beschweren, wir haben das selbst mit herbeigeführt, wir müssen damit leben. Ich lebe als Bundeskanzler seit vielen Jahren damit und ich habe die Absicht, dies auch in den nächsten Jahren zu tun.

 

Im übrigen möchte ich die heutige Gelegenheit auch nutzen, um an Deutschlands umfangreiche Leistungen für die mittel-, ost- und südosteuropäischen Länder sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu erinnern. Wir leisten nicht deshalb soviel, weil wir moralisch höher stehen als andere, sondern weil wir gerade als Land in der Mitte Europas ein elementares Interesse daran haben, daß diese Länder auf dem Weg zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft erfolgreich sind. Ich spreche hier wohlgemerkt nicht nur von den erheblichen Zahlungen, die wir an Rußland in direktem Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands geleistet haben.

 

Die deutschen Transferzahlungen an die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie an die Nachfolgestaaten der Sowjetunion belaufen sich seit 1989 bis heute auf eine Größenordnung von insgesamt immerhin 180 Milliarden D-Mark. Pro Kopf der Bevölkerung hat die Bundesrepublik Deutschland allein für die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion - nach einer Übersicht der kanadischen Regierung - rund 386 US-Dollar aufgebracht, gefolgt von Kanada mit 74 US-Dollar, Frankreich mit 46 US-Dollar, Italien mit 44 US-Dollar sowie den USA und Japan mit 41 beziehungsweise zehn US-Dollar.

 

Diese erheblichen finanziellen Leistungen Deutschlands seit 1989 spiegeln sich natürlich in entsprechenden Belastungen unserer öffentlichen Haushalte wider. Dank einer überaus soliden Haushaltspolitik ist es uns gelungen, den Anstieg der Verschuldung gleichwohl in vertretbaren Grenzen zu halten. Ich führe dies alles nicht an, um uns zu rühmen. Wir Deutschen haben mehr als alle anderen in Europa Veranlassung, angesichts dessen, was insbesondere in der Zeit der NS-Diktatur in deutschem Namen geschehen ist, in diesem Sinne zu wirken. Ich lege jedoch gerade in diesem Kreis internationaler Bankenvertreter Wert auf die Tatsache, daß diese Zahlen nicht als geheime Kommandosache behandelt werden, sondern daß sie gelegentlich einmal zur Kenntnis genommen werden.

 

II.

 

Lieber Lord Alexander, meine Damen und Herren, Ihre Konferenz findet in einer Zeit entscheidender Weichenstellungen statt - bei uns in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt. Die Themen, die Sie in diesen Tagen hier in Interlaken diskutieren, spiegeln die zentralen aktuellen Herausforderungen wider. Wenige Jahre vor dem Beginn eines neuen Jahrhunderts und zugleich eines neuen Jahrtausends befinden wir uns in einer dramatischen Übergangszeit mit tiefgreifenden Veränderungen in der ganzen Welt.

 

Das Thema, das heute im Vordergrund meiner Rede steht, ist - ich habe es bereits erwähnt - der Bau des Hauses Europa. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger des vereinten Europas. Ich sage dies insbesondere auch mit Blick auf die historische Rede von Winston Churchill, die er im September 1946 in Zürich - nicht weit von hier - gehalten hat. Angeführt von Konrad Adenauer haben wir Deutschen, besonders wir jungen - ich selbst war damals 16 Jahre alt -, den wunderbaren Ausspruch Churchills aufgenommen: Wir bauen die Vereinigten Staaten von Europa. Früher habe ich diese Bezeichnung regelmäßig verwandt. Ich habe jedoch im Laufe der Zeit erkennen müssen, daß sie in dieser Form falsch ist. Sie hat bei Teilen der Öffentlichkeit, auch bei uns in Deutschland, die Assoziation hervorgerufen, daß wir so etwas wie die Vereinigten Staaten von Amerika auf europäischem Boden schaffen wollten. Genau das wird dieses Haus Europa nicht sein.

 

Wir alle werden unsere nationale Identität behalten. Wir werden Italiener, Franzosen, Deutsche, Niederländer, Belgier, Finnen bleiben, um nur einige zu nennen, oder auch - mit Blick in die Zukunft - Polen, Ungarn oder Tschechen, um einmal die drei wichtigsten Beitrittskandidaten für die Europäische Union zu nennen.

 

Meine Damen und Herren, wir befinden uns mitten im Bau des Hauses Europa. Wir bauen ein Haus Europa, in dem die europäischen Völker, die dies wollen und können, unabhängig von ihrer Größe ihren Platz finden. Ein entscheidendes Prinzip muß dabei die Qualität und nicht die Quantität sein. Die europäische Einigung ist letztlich eine Frage von Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert. Sie ist keine fixe Idee von mir persönlich, sondern vielmehr die Lehre aus der leidvollen Erfahrung gemeinsamer europäischer Geschichte.

 

Zur Politik der europäischen Integration gibt es keine verantwortbare Alternative. Dies unterstreichen auch die Worte des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand, die dieser wenige Monate vor seinem Tod an die Abgeordneten des europäischen Parlaments in Straßburg gerichtet hat: "Der Nationalismus, das ist der Krieg!" Er hatte Recht. Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts kann die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht bewältigen. In diesem Sinne wollen wir die Geschichte nicht vergessen, die Erfahrung bewahren und in dieser Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Enkeln handeln. Das heißt: Wir müssen den Bau des Hauses Europa konsequent fortsetzen.

 

Die europäische Einigung ist die wirksamste Versicherung gegen einen Rückfall in den unheilvollen Chauvinismus des vergangenen Jahrhunderts. Und jene, die heute sagen, daß dies alles doch überhaupt nicht mehr denkbar sei, möchte ich an dieser Stelle noch einmal an den 1925 geschlossenen Vertrag von Locarno erinnern. Dieser Vertrag war der erste große Versuch, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs dauerhaften Frieden in Europa zu schaffen. Für diesen Vertrag haben Gustav Stresemann und Aristide Briand zu Recht den Friedensnobelpreis bekommen. In jenen Tagen hätte auch niemand mehr daran gedacht, daß es jemals wieder Krieg in Europa geben würde. Acht Jahre später kam Hitler, weitere sechs Jahre danach brach der Zweite Weltkrieg aus.

 

Natürlich wiederholt Geschichte sich nicht so einfach. Aber sie mahnt zur Wachsamkeit. Wer hätte es - um ein aktuelles Beispiel zu nennen - vor zehn Jahren für möglich gehalten, daß ein so furchtbarer Krieg im ehemaligen Jugoslawien - mitten in Europa - ausbrechen würde? Frieden und Freiheit müssen jeden Tag aufs neue gesichert werden. Deswegen trete ich leidenschaftlich für den Bau des Hauses Europa ein.

 

III.

 

Meine Damen und Herren, die Politik der europäischen Einigung ist die größte Erfolgsgeschichte unseres Kontinents. In diesen Tagen drängen sich die Erinnerungen förmlich auf. In drei Tagen, am 5. Juni, habe ich die Ehre, in Washington am Festakt anläßlich des 50. Jahrestages der Verkündung des Marshall-Planes die Festrede zu halten. Am Morgen des gleichen Tages werde ich auf dem Nationalfriedhof in Arlington sprechen können, wenn die amerikanische Armee am Grab von George C. Marshall eine Gedenkveranstaltung abhält. Was der Marshall-Plan für die Menschen in Deutschland und Europa bedeutete, habe ich als 17jähriger selbst erfahren. In dieser Situation, als wir halb verhungert waren, hätten wir niemals geglaubt, daß Europa einmal das werden kann, was es heute ist.

 

Ich möchte noch ein Datum nennen: Am 25. März dieses Jahres war es 40 Jahre her, daß die Römischen Verträge unterzeichnet worden sind. Beides - der Marshall-Plan ebenso wie die Römischen Verträge - waren bedeutsame Marksteine auf dem Weg zu einem stabilen, geeinten Europa. Wegbereiter waren große Europäer wie Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer ebenso wie Persönlichkeiten jenseits des Atlantiks - wie George C. Marshall und Harry S. Truman. Winston Churchill und seine berühmte Rede, in der er sich am 19. September 1946 - also nur eineinhalb Jahre nach der deutschen Kapitulation und dem Ende des Zweiten Weltkrieges - für ein vereintes Europa ausgesprochen hat, habe ich schon erwähnt. Sie alle wurden in ihrer Zeit als Visionäre beschrieben. Die Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses bis heute macht deutlich: Die Vision ist Gegenwart geworden, die Visionäre von damals haben sich als die großen Realisten der Geschichte erwiesen. In diesem Geiste müssen wir engagierte Wegbereiter der Integration bleiben und den europäischen Einigungsprozeß weiter vorantreiben.

 

Ich sage dies auch deswegen, weil wir in Sachen Europa oft soviel Kleinmut erleben. Ohne daß ich die Probleme verleugnen möchte, die es im zusammenwachsenden Europa natürlich gibt, halte ich mir immer das in den vergangenen Jahren Erreichte vor Augen. Vor über zehn Jahren habe ich mich noch mit der von mir geschätzten britischen Kollegin Margaret Thatcher über die Stationierung von Kurzstreckenraketen - den sogenannten Lance-Raketen - auseinandergesetzt, heute wissen viele Menschen in Deutschland gar nicht mehr, was die Lance-Rakete genau bedeutete. Mehr denn je zuvor beschäftigen wir uns heute mit Werken des Friedens, etwa mit dem Aufbau und der Festigung von Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft in Mittel-, Ost- und Südosteuropa oder damit, wie wir wichtige Fragen der Ökonomie in Einklang mit der Schöpfung lösen können. Wir tun dies vor dem Hintergrund einer zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft, die unser Leben in vielfacher Weise berührt und neue große Herausforderungen mit sich bringt.

 

Unser Ziel ist es, ein vereintes, demokratisches und handlungsfähiges Europa zu schaffen, das auf dem Prinzip Einheit in Vielfalt basiert, und die Partnerschaft mit Nordamerika zu festigen. 1997 ist ein Schlüsseljahr für die europäisch-transatlantische Sicherheit und die europäische Einigung. Am 8./9. Juli findet der NATO-Gipfel in Madrid statt. Im Vorfeld des Gipfels haben wir in diesen Tagen schon einen großen Erfolg erzielt. Die vor einigen Tagen, am 27. Mai, in Paris unterzeichnete Grundsatzakte zwischen der NATO und Rußland ist ein grundlegender, weitreichender Schritt für die dauerhafte Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit in Europa. Wir haben damit die Möglichkeit, die NATO nach außen zu öffnen, ohne neue Gräben aufzureißen.

 

In 14 Tagen - am 16./17. Juni - werden wir auf dem Europäischen Rat in Amsterdam die Entscheidung über den Maastricht-II-Vertrag treffen. Ich bin zuversichtlich, daß wir in Amsterdam zu einem guten Abschluß kommen, damit wir - wie geplant - mit den ersten Ländern aus Mittel- und Osteuropa sechs Monate nach Ende der Regierungskonferenz Beitrittsverhandlungen aufnehmen können, das heißt Anfang 1998. Ein wichtiger Punkt in Amsterdam werden auch die Vorbereitungen zur dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sein. Dies alles macht deutlich: Jetzt kommt für uns in verschiedener Hinsicht in Europa die Stunde der Wahrheit. Jetzt müssen wir klar sagen: Hier stehen wir und das wollen wir.

 

Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung, des Euros. Ich weiß, daß es in Europa Kräfte gibt, die meinen, es genüge, wenn Europa eine gehobene Freihandelszone sei. Ich sage dagegen ganz klar und entschieden, daß ich vor dem Hintergrund unserer Geschichte nicht glaube, daß dies ausreicht. Wir brauchen eine feste Bindung - selbstverständlich bei klarer Anerkennung der nationalen Identitäten und sonstiger Besonderheiten. Niemand will einen europäischen Zentralstaat. Im Gegenteil: Wir wollen Subsidiarität im besten Sinne des Wortes. Wir wollen, daß vor Ort entschieden wird, was vor Ort am besten entschieden werden kann. Es ist meine feste Überzeugung, daß wir dafür ein angemessenes europäisches Gewicht brauchen - nicht zuletzt auch im internationalen Währungssystem.

 

Natürlich gibt es gegenwärtig Diskussionen, vor allem darüber, wer an der Währungsunion teilnehmen wird und wer nicht. Meine Position ist hier sehr einfach: Auf dem Weg zur Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion muß mit Blick auf die Maastricht-Kriterien jeder von uns seine Hausaufgaben erledigen, ohne dauernd auf die anderen zu schauen oder über andere zu reden - schon gar nicht mit erhobenem Zeigefinger. Ich sage dies bewußt auch für Deutschland. Die Entscheidung über die Teilnehmerstaaten wird im Frühjahr 1998 auf der Basis der dann vorliegenden Ist-Daten von 1997 getroffen. Wir haben uns auf einen Zeitplan und auf Kriterien verpflichtet. Diejenigen, die jetzt für eine Verschiebung dieses Zeitplans eintreten, sollten sich einmal überlegen, welche Folgen eine Verschiebung für die Wechselkurse und insbesondere die europäischen Währungen im Verhältnis zum Dollar hätte - und was dies zum Beispiel für ein Exportland wie die Bundesrepublik Deutschland bedeuten würde.

 

Ich möchte die heutige Veranstaltung und die Anwesenheit vieler ausländischer Gäste auch nutzen, um noch einmal darzulegen, weshalb das Einhalten der Stabilitätskriterien für uns Deutsche von so entscheidender Bedeutung ist. Die Stabilitätskriterien haben auch etwas mit Vertrauen zu tun. Gerade für uns Deutsche ist die Aufgabe der D-Mark und die Einführung des Euros eine schwierige Frage. Die Deutschen sind dabei nicht stringenter als andere, aber sie haben ihre besondere historische Erfahrung. Dies wird jeder verstehen, der die deutsche Geschichte in diesem Jahrhundert und die Geschichte der D-Mark kennt.

 

Millionen Deutsche haben in diesem Jahrhundert zweimal den Verfall ihrer Währung erlebt und alle Ersparnisse verloren. Millionen Deutsche haben vor dem Ersten Weltkrieg dem Kaiser vertraut und ihr Vermögen verloren. In der sicheren Erwartung, daß der Kaiser die Kriegsanleihen zurückbezahlen werde, hat auch mein Großvater seine knappen Ersparnisse in diese Anleihen investiert. Wir wissen, was damals passierte. In der Weimarer Republik gab es wirtschaftlich nur wenige gute Jahre, dann kam die große Inflation. Danach kamen Hitler, der Zweite Weltkrieg, das Ende der Nazi-Zeit und der Zusammenbruch bedeuten auch eine schwere moralische Krise. In dieser Zeit, im Sommer 1948, ist dann die D-Mark eingeführt worden. Für die Deutschen ist sie ein Symbol geworden. Die D-Mark gab es vor der Bundesflagge, vor unserer Nationalhymne und vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland.

 

Unser historischer Hintergrund macht deutlich, daß, wenn wir Deutschen in Fragen der Stabilität unserer Währung eine so entschiedene Position vertreten, wir dies nicht tun, um andere zu ärgern, sondern in der Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen. Deswegen werde ich alles tun, damit wir in Deutschland sowohl den Zeitpunkt als auch die Kriterien für die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung einhalten. Dies ist auch einer der entscheidenden Gründe, warum ich mich entschlossen habe, bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr wieder zu kandidieren.

 

IV.

 

Meine Damen und Herren, zum Abschluß möchte ich noch ein paar Bemerkungen darüber machen, was wir in Deutschland selbst erledigen müssen: Wir befinden uns mitten in einem notwendigen Umstellungsprozeß. Ich sage dies nicht als Anklage gegen andere, wie etwa Unternehmer oder Gewerkschaften, denn an den Fehlentwicklungen der Vergangenheit waren wir alle beteiligt. Deutschland ist nach den USA zweitgrößte Exportnation der Welt, was vor allem auch auf einer gewaltigen Leistung der Gründergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg beruht. Auf dieser Position haben wir uns zu lange ausgeruht. Klar ist: Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher, sondern müssen in vielen Bereichen grundlegend umdenken. Leistung muß sich wieder mehr lohnen, und die Eigenverantwortung des einzelnen muß wieder gestärkt werden.

 

Konkrete Ansatzpunkte unserer Politik sind die Steuerreform, die Rentenreform ebenso wie die Gesundheitsreform. Die Notwendigkeit von Reformen im sozialen Sicherungssystem ergibt sich auch vor dem Hintergrund des demographischen Wandels in unserem Land. Die Menschen in unserem Land werden - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung - immer älter. Zur Jahrtausendwende - in weniger als drei Jahren - werden wir in Deutschland drei Millionen Menschen haben, die 80 Jahre und älter sind. Hinzu kommt, daß junge Hochschulabgänger in Deutschland vielfach erst mit 30 Jahren in den Beruf starten und im Durchschnitt dann mit 60 Jahren in Rente gehen. Diese Rechnung kann nicht aufgehen! Wir müssen unseren Sozialstaat den veränderten Verhältnissen anpassen. Das heißt nicht Abbau des Sozialstaats, sondern Umbau.

 

Wir werden unsere Herausforderungen erfolgreich bestehen. Ich bin auf diesem Weg notwendiger Veränderungen und Reformen voller Optimismus. Die Deutschen von heute sind nicht schlechter, nicht weniger begabt oder weniger tüchtig als die Generation, die in den 40er und 50er Jahren in der Verantwortung stand. Natürlich ist auch wahr, daß die erheblichen Transferleistungen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung uns zusätzlich belasten. Trotz der Probleme, vor denen wir gegenwärtig stehen, haben wir Deutschen aber Grund zu realistischer Zuversicht. Die Konjunktur in Deutschland belebt sich wieder, der Aufschwung steht auf einem soliden Fundament. Gleichwohl müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Arbeitslosigkeit in unserem Land mit über vier Millionen Arbeitslosen nach wie vor inakzeptabel hoch ist. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bleibt unser schwierigstes und wichtigstes innenpolitisches Thema. Dazu gehört auch, daß wir den Mißbrauch durch Trittbrettfahrer, die soziale Leistungen in Anspruch nehmen statt zu arbeiten, noch weiter eindämmen müssen.

 

Meine Damen und Herren, Sie haben hier keinen Mann vor sich, der wegen anstehender Schwierigkeiten resigniert. Im Gegenteil: Bei allen Problemen haben die Europäer und die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert mehr Chancen als je zuvor. Der Rückblick auf vergangene Jahrzehnte läßt die gewaltige Wegstrecke ermessen, die wir auf dem Weg zum vereinten Europa zurückgelegt haben. Die Erfolge der Vergangenheit begründen Mut und Zuversicht für die Zukunft. Ich wehre mich leidenschaftlich gegen jede Form des Kulturpessimismus ebenso wie gegen Zweckoptimismus. Beides ist unehrlich, beides ist nicht zukunftsführend. Bei allen Schwierigkeiten bin ich der festen Überzeugung, daß wir, wenn wir nur wollen, eine gute Zukunft vor uns haben. Für Frieden und Freiheit in der Welt können wir heute mehr tun als viele Jahre zuvor. In diesem Sinne möchte ich auch Sie einladen, sich in Ihrem Bereich für eine gute Zukunft einzusetzen!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 54. 25. Juni 1997.