2. Oktober 1984

Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse

 

Ich bedanke mich für die Einladung, hier zu sprechen. Ich habe sie gerne und selbstverständlich angenommen, nicht aus der Pflicht des Amtes, sondern aus persönlicher Neigung.

Seit fast zwei Jahrzehnten gehört der Gang durch die Buchmesse für mich zum festen Herbst-Programm. Diese Begegnung mit der Welt des literarischen Schaffens - mit Verlegern und Buchhändlern, mit Schriftstellern und ihrem Publikum - ist für mich ein immer wieder angenehmes und anregendes Erlebnis. Meine persönlichen Empfindungen bei dem Rundgang durch das Messegelände stimmen mit den Eindrücken vieler anderer Besucher gewiss überein: Mit Respekt und Bewunderung stehen wir vor der immensen schöpferischen Kraft menschlichen Geistes, die hier erfahrbar wird.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort des Dankes sagen an die Verantwortlichen der Buchmesse, an den Börsenverein des Deutschen Buchhandels, an die Autoren, Buchhändler und Verleger für ihren Beitrag zur kulturellen Vitalität unseres Landes. Meinen besonderen Glückwunsch mochte ich dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels zur Wahl des diesjährigen Friedenspreisträgers aussprechen. Noch vor wenigen Monaten bin ich mit Octavio Paz in Mexiko zu einem Gespräch zusammengetroffen, bei dem mich seine Persönlichkeit tief beeindruckt hat: seine Verbindung von literarischer Sensibilität und persönlicher Bescheidenheit, seine Fähigkeit zur Zusammenschau von vielfältigen Kulturen, sein unbedingtes Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit bei allem Einfühlungsvermögen in soziale Probleme.

Die Frankfurter Buchmesse ist Jahr für Jahr Treffpunkt von Verlegern und Buchhändlern, Autoren und Lesern; sie ist als die weltweit größte Börse ihrer Art, weit mehr als nur ein wirtschaftliches Ereignis. Die Frankfurter Buchmesse stellt die kreative Vielfalt unseres kulturellen Lebens vor. Sie regt an zu Auseinandersetzung und Kritik. Sie ist Ansporn für Reflexion und Phantasie.

Der Satz, den Karl Jaspers auf der Buchmesse im Jahr 1958 formulierte, ist nach wie vor gültig: „Unsere Verleger und Buchhändler sind hellhörig... für die Möglichkeiten des Alten und des Neuen. Sie bringen Schriften heraus, weil sie wollen, dass deren Denkungsart in der Welt sei." Sie verstehen sich nicht nur als Produzenten und Händler, sondern sie wissen um ihren kulturellen Auftrag als Vermittler zwischen Autoren und Publikum.

Auf dieser Messe spüren wir intensiver als im Alltag, wie stark wir alle auf Sprache angewiesen sind, wie viel sie uns gibt. Sie ist eines der ganz entscheidenden Elemente unserer Identität. Sprache prägt ein Volk als Ausdruck seiner geschichtlichen Bedingtheit und seiner kulturellen Eigenart.

Sprache schafft Gemeinschaft und Verständigung. Sie führt Menschen zusammen, ihr Wissen und ihr Denken, ihr Können und ihr Wollen, ihren Verstand und ihre Herzen. Im Wort vergegenwärtigen wir uns Geschichte und Erfahrungen. Es hilft uns, unser Denken zu ordnen und damit Ordnung in unsere Welt zu bringen. Und allein das Medium der Sprache eröffnet die Chance, uns die Dimension der Zukunft zu erschließen.

Aber wir wissen: Es gibt auch die Kehrseite. Sprache kann Mauern errichten, Irrtümer erzeugen, Verständnislosigkeit bewirken und Misstrauen schaffen. Das Gleichnis der babylonischen Sprachverwirrung ist eine biblische Warnung vor dieser Gefahr. Und deshalb sollten wir uns immer wieder prüfen, ob wir die Gefahren meiden und die Chancen nutzen.

Wir müssen fragen: Gehen wir sorgfältig genug mit unserer Sprache um ? Diese Frage müssen sich nicht nur Literaten und Politiker stellen. Aber weil es unser Beruf ist, „unser Wort zu sagen", tragen Autoren, Verleger und Politiker hier eine besondere Verantwortung. Nur eine Politik, die sich verständlich machen kann, wird überzeugen und Mehrheiten finden. Die Sprache der Politik darf sich nicht in ein begriffliches Ghetto zurückziehen. Die politische Rede muss immer auch den Reichtum menschlichen Denkens, persönlicher Erfahrung und ebenso von Gefühlen zum Ausdruck bringen. Erst dann ist sie lebensnah, begreiflich, echt.

Technokraten, so sehr sie um Präzision der Sprache und Sicherheit des Ausdrucks bemüht sein mögen, verlieren leicht den Blick fürs Ganze. Schon die Vielzahl von Fachsprachen mit eigener Begrifflichkeit zeigt, dass keine von ihnen die Wirklichkeit ganz abbildet.

Auch die Sprache der Politik kennt Fluchtbewegungen: Es gibt die Flucht in hektischen Wortreichtum, um nichts mitzuteilen. Es gibt die Flucht in politische Sprachspiele. Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert. Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf. „Friedenskampf", „gewaltfreier Widerstand", „Ziviler Ungehorsam" sind Beispiele absichtsvoll gewählter Mehrdeutigkeit. Aussage und Dementi sind bewusst miteinander verwoben.

Die Ausuferung politischer Schlüsselbegriffe macht sie beliebig handhabbar, macht es möglich, mit ihnen sowohl prinzipiellen Widerspruch wie auch die Illusion von Übereinstimmung in Worte zu fassen. Auch unter dem Einfluss von Ideologien und im Bemühen, Ängsten drängend Ausdruck zu geben, wird unsere Sprache aus dem Lot gebracht.

Laufen wir dabei nicht Gefahr, dass durch eine solche „Arbeit der Zuspitzung" die Angst schließlich wirklicher wird, als die Wirklichkeit beängstigend ist? So könnten wir eines Tages sprachlos sein, wenn alle starken Worte unserer Sprache durch maßlosen Gebrauch abgewertet sind und wir zugleich erkennen müssten, dass wir keine Chance mehr haben, mit leisen Worten gehört und mit Zwischentönen verstanden zu werden.

Hannah Arendt hat in ihrem Buch „Macht und Gewalt" den Zusammenhang zwischen Sprache und Wirklichkeit beschrieben: „Der Unfähigkeit, Unterschiede zu hören, entspricht die Unfähigkeit, die Wirklichkeiten zu sehen."

Aber unsere Sprachkultur hat nicht nur an schlechtem Umgang mit der Sprache selbst zu leiden. Es gibt auch noch andere alarmierende Signale: Man kann es doch nur als ein Armutszeugnis bezeichnen, wenn Hochschulen Deutschkurse für Deutsche anbieten müssen, weil Studenten inzwischen selbst erkannt haben, dass ihnen die Fähigkeit fehlt, sich in ihrer eigenen Muttersprache schriftlich oder mündlich einwandfrei auszudrücken. Es darf keinen Analphabetismus in neuem Gewande bei uns geben.

Oder: Bei den notwendigen finanziellen Einsparungen sind die Haushalte der öffentlichen Büchereien nur allzu oft nicht nur an erster Stelle, sondern bis hin zu Eingriffen in die Substanz zusammengestrichen worden. Ein Volk, das mit Recht stolz ist auf seine großen Dichter und das auch mit Recht stolz ist auf das hohe Ansehen seiner Literatur im Ausland, darf seine eigenen Bibliotheken nicht veröden lassen.

Verleger, Buchhändler und Autoren sind gegenwärtig in Sorge um den Bestand der privatwirtschaftlichen Preisbindung auf unserem Buchmarkt. Dieses Instrument hat sich bewahrt. Würde ihm die Wirkung genommen, dann hätte das gute, das anspruchsvolle - auch das wissenschaftliche -Buch kaum eine Wettbewerbschance gegen Erzeugnisse, die ohne Preisbindung als Konsumware im Discount vertrieben werden könnten. Die Bundesregierung ist deshalb daran interessiert, dass dieses kulturstaatliche Element unserer Wirtschaftsordnung unbeeinträchtigt bleibt.

Eine letzte Bemerkung zu aktuellen Problemen: Der Buchmarkt steht zweifellos mit der Visualisierung unseres Lebens vor großen neuen Herausforderungen. Ich bin fest überzeugt, dass das Buch auch in der Zeit der bewegten Bilder, des Fernsehens und der Video-Filme seine Zukunft hat. Ein Unterricht zum Beispiel, der nur noch aus Filmen, Dias und Diskussionen bestünde, würde dem Bildungsauftrag der Schule nicht gerecht.

Ohnehin meinen ja manche zeitkritische Beobachter, dass Sprachlosigkeit die eigentliche Gefahr des modernen Menschen sei. Siegfried Lenz hat in seinem Roman „Der Verlust" das ergreifende Schicksal des Fremdenführers Ulrich Martens gezeichnet. Durch seine ausdrucksstarke Schilderung vermittelt Martens den Besuchern seiner Stadt ein Erlebnis voller Farbe und Wärme. Doch dann verliert er seine Sprache, und damit zerbricht sein Verhältnis zur Welt. Der Verlust der Sprache wird zum Verlust der Welt, ja zum Verlust geistigen Lebens.

Aber Sprachlosigkeit ist gewiss nicht die einzige Ursache für eine Ermüdung geistiger Vitalität. Denn es trifft wohl zu, dass viele literarische Beiträge des letzten Jahrzehnts durchaus sprachmächtig ein Lebensgefühl der Entfremdung, des Identitätsverlustes, ja der Sinnlosigkeit vermittelt haben. Dichter und Schriftsteller standen dabei keineswegs allein. Pessimismus, wenn nicht sogar Resignation war auch weitgehend der Grundtenor in den zivilisationskritischen Stimmen „zur geistigen Situation der Zeit".

Haben also wirklich jene recht behalten, die meinten, der modernen Industriegesellschaft müssten die Individualität des Menschen, seine Freiheit und Ausdruckskraft zum Opfer fallen? Ich habe diese Skepsis nie geteilt, und ich fühle mich bestärkt durch positive Entwicklungen in vielen Bereichen unserer Gesellschaft, zum Beispiel in der Rückbesinnung auf Familie, Nachbarschaft, Heimat, Vaterland - kurzum auf Bindungen, in denen Menschen Geborgenheit finden. Und wir haben ja in den letzten Jahren hier in Frankfurt gesehen, dass sich auch im literarischen Schaffen dieses Lebensgefühl eines neuen Selbstbewusstseins und einer neuen Zuversicht widerspiegelt. Literatur war und ist stets auch ein Seismograph für die seelische Befindlichkeit unserer Gesellschaft.

Wie anders ist das außerordentliche Interesse zu erklären, das die historische Literatur in unserem Land seit geraumer Zeit findet? Wie anders ist auch die Anteilnahme zu erklären, die Gedenktage und historische Zeugnisse in Museen und Ausstellungen erfahren? Dieses Interesse an Geschichte ist zugleich Ausdruck für den Wunsch nach Vertrautheit mit der Gegenwart. Es ist der Wunsch, zu wissen, woher wir kommen - und damit auch zu wissen, wer wir sind und wohin wir gehen. Selbstbewusstsein ist ohne Herkunftsbewusstsein nicht möglich.

Wolf Jobst Siedler hat recht, wenn er schreibt: „Alles Nachsinnen über den verworrenen Gang der Geschichte geschieht um der Gegenwart willen." Um der Gegenwart willen muss die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte immer auch dazu beitragen, die Entwicklung und den Wert unserer Demokratie im Bewusstsein der jungen Generation zu verankern.

Als demokratischer Rechts- und Sozialstaat hat die Bundesrepublik Deutschland das Vertrauen der überwältigenden Mehrheit der Bürger erworben. Aber die Stabilität unserer freiheitlichen, dem sozialen Ausgleich verpflichteten Gesellschaft ist nichts Selbstverständliches. Sie ist erwachsen aus einer wechselvollen Geschichte und vor allem auch aus den Erfahrungen der Weimarer Zeit und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Es ist unser Auftrag, die geschichtlichen und ethischen Grundlagen unserer politischen Kultur an die junge Generation weiterzugeben. Die jungen Menschen brauchen diesen festen Boden unter ihren Füßen, um die Zukunft sicher gestalten zu können. Die junge Generation sollte auch wieder mehr über das geteilte Deutschland lernen und über die Grundlagen, auf denen die Einheit der Nation steht und fortbesteht.

Die wechselvolle Geschichte hat es uns Deutschen zweifellos schwergemacht, unsere Identität eindeutig zu erfahren. Helmuth Plessner hat uns als „verspätete Nation" definiert, als die ewig Zuspätgekommenen. Er hat uns die Kultivierung eines nationalen Gedächtnis Verlustes unterstellt. Aber trifft diese Beobachtung wirklich zu?

Ich begrüße es nachdrücklich, dass die Wissenschaft dabei ist, die Geschichte der deutschen Nation, auch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, umfassend darzustellen. Ich werte es als ein positives Zeichen, dass sich in wachsender Zahl renommierte Autoren der Frage nach unserem Nationalbewusstsein, nach Vaterland und Patriotismus stellen. Das intensive Nachdenken über Deutschland, das in der Bundesrepublik wie in der DDR festzustellen ist, zeigt uns und unseren Nachbarn: Geschichte und Sprache, Kunst und Kultur sind als Quellen der Nation nicht versiegt. Die Versuche sind natürlich unübersehbar, die Geschichte für parteiliche Zwecke in Anspruch zu nehmen. Unverkennbar ist die DDR bestrebt, aus der deutschen Nationalgeschichte Geltung und Ansehen zu schöpfen. Aber gerade das Luther-Jubiläum hat gezeigt, dass die autonome Bewegungskraft eines solchen Gedenkens stärker ist als der politische Versuch einer geistigen Disziplinierung.

Wir im freien Teil unseres Väterlandes stellen uns der ganzen Geschichte, mit ihren glanzvollen und mit ihren schrecklichen Kapiteln. Auschwitz und Treblinka, Buchenwald und Dachau lassen uns nicht los; und wir können diese quälende Erinnerung auch nicht verdrängen. Aber ebenso gehören zur Geschichte und zum Bild der Deutschen der Mut der Geschwister Scholl mit der „Weißen Rose" und der Aufstand des Gewissens, den die Männer und Frauen des 20.Juli um Graf Stauffenberg gewagt haben. In diesem Jahrhundert ist es gerade auch die gemeinsame Erfahrung von Hochmut und Schuld, von Elend und Leid, die alle Deutschen aneinander bindet.

Wir Deutsche haben die Lektion dieser historischen Erfahrungen gelernt: Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen und wir müssen Europa einigen, um auch für Deutschland die Einheit in Freiheit zu vollenden. Die Idee Europa ist zugleich unsere Absage an Nationalismus, zugleich unsere Absage an Alleingänge und Sonderwege.

Zur geistigen Dimension der deutschen Frage gehört, dass die Deutschen ihre Lage, ihre Geschichte und die historische Chance begreifen, die in der Bindung an die freiheitliche Demokratie liegt. Angesichts der überragenden Bedeutung Europas für unser Land müssen wir allerdings die kritische Frage stellen, ob wir an der Weiterentwicklung der europäischen Idee mit dem notwendigen geistigen Engagement arbeiten. Gibt es die intellektuelle Spannung, die große Literatur zum Thema Europa, die uns in ihren Bann schlägt?

Auf einem Kontinent der Bruderkriege entstand ein Raum des Friedens und des Rechts, der Freiheit und eines gemeinsamen Wertebewusstseins. Ich frage mich manchmal, weshalb dieses nicht nur politisch, sondern auch menschlich bewegende Ereignis das literarische Schaffen so wenig beflügelt hat.

Der geistige Raum gemeinsamer Lebens- und Werte-Erfahrung ist doch die eigentliche Substanz unseres Kontinents. Wer, wie ich, viele Stunden in den Marathon-Sitzungen der europäischen Gremien verbringen muss, der muss sich an die Impressionen erinnert fühlen, die Gottfried Benn 1947 in seiner „Berliner Novelle" wiedergegeben hat: Europa wird vom Gehirn gehalten, vom Denken, aber der Erdteil zittert, das Denken hat seine Sprünge.

Diese Sprünge sind zu ertragen, wenn wir jetzt neue Kraft zur europäischen Gestaltung aufbringen. Denn das Bewusstsein, Deutsche und Europäer zugleich zu sein, prägt unser Selbstverständnis. Gemeinsame ethische Prinzipien und moralische Überzeugungen bilden das entscheidende Fundament einer Europäischen Union ebenso wie unseres demokratischen Staates.

Jede freiheitliche Gesellschaft muss offen sein für neue Herausforderungen, für Kritik und Kontroverse. Aber das pluralistische Gemeinwesen braucht für seinen inneren Zusammenhalt mehr als einen pragmatischen Interessenausgleich. Es braucht die Orientierung an verpflichtenden Grundwerten.

Ich weiß, dass meine Forderung an die Politik, sie müsse auch - und gemeinsam mit anderen bewegenden Kräften - zu einer geistig-moralischen Erneuerung beitragen, viel Aufmerksamkeit und auch Widerspruch gefunden hat, vielleicht auch deshalb, weil ich damit in Zweifel gezogen habe, dass es einen prinzipiellen Gegensatz zwischen „Geist und Macht" geben muss. Der Politiker, der gestalten und eben nicht nur verwalten, der die Welt ein Stück verbessern will, braucht einen Wertmaßstab.

Selbstverständlich hat Politik dabei kein Monopol auf geistige Führung und schon gar kein Monopol auf die Formulierung von Werten und ethischen Prinzipien. Um ein Wort Robert Musils aufzugreifen: „Der Wirklichkeitssinn der Politiker braucht die Auseinandersetzung mit dem Möglichkeitssinn der Intellektuellen."

Die Auseinandersetzung zwischen Geist und Macht kann und muss schöpferisch sein. Und darum geht es mir. Denn aus dieser schöpferischen Spannung erwachsen die geistigen und politischen Perspektiven, die uns humane Antworten auf die großen Fragen der Zukunft erlauben - im Wissen um die geschichtliche Herkunft, im Wissen um die Anziehungskraft und die Gefährdung von Freiheit und Demokratie, im Wissen um die Pflicht zum Frieden und zur internationalen Solidarität.

Dieses Bewusstsein der eigenen Perspektive wie der eigenen Geschichte verspricht allerdings nur die Chance zur Identität, mehr nicht. Ob wir diese Chance ignorieren, arrogant verdrängen oder aber annehmen: Das ist letztlich eine Frage unserer historischen Mündigkeit.

Auf geradezu dramatische Weise hebt sich eines der sicher am meisten beachteten Bücher dieser Messe von manchem wehleidigen Kulturpessimismus ab, der in vielen Ländern der westlichen Welt anzutreffen ist. Ich spreche von den Briefen, die Vaclav Havel 1982 aus dem Gefängnis an seine Frau schrieb. Ich möchte schließen mit einigen Sätzen aus einem dieser Briefe: „Hielte ich mich für das, was diese Welt aus mir macht -nämlich das Schräubchen des gigantischen Maschinensatzes, der menschlichen Identität beraubt -, dann kann ich nicht viel tun... Wenn ich jedoch daran denke, was jeder von uns ursprünglich ist,... nämlich ein mündiges menschliches Wesen, verantwortungsfähig der Welt und für die Welt, dann kann ich selbstverständlich viel tun... Auf den Einwand, dass es keinen Sinn hat, antworte ich ganz einfach: ,Doch, es hat einen Sinn!'"

Quelle: Bulletin, hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 114, 5. Oktober 1984, S. 1013-1016.