2. Oktober 1990

Die Erfüllung eines geschichtlichen Auftrags

Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"

 

I.

Morgen, am 3. Oktober, vollenden wir die Einheit und Freiheit unseres Vaterlandes in einem Europa, das immer mehr zusammenwächst. So erfüllen wir den Auftrag, der in der Präambel unseres Grundgesetzes von 1949 niedergelegt ist. Der 3. Oktober wird ein Tag der Freude für alle Deutschen sein - und in diesem Sinne sollten wir ihn auch feiern. Wir Deutschen haben allen Grund dazu: In unserer Geschichte gab es - zumindest in diesem Jahrhundert - wohl kaum ein Datum, das in vergleichbarer Weise Anlass zu gemeinsamer Freude geboten hätte.

Wir gewinnen die Einheit Deutschlands in Freiheit zurück - und zwar ohne Krieg und Gewalt, ohne Blutvergießen, in vollem Einvernehmen mit unseren Nachbarn und Partnern. Wann je hatte ein Volk die Chance, Jahrzehnte der schmerzlichen Trennung auf so friedliche Weise zu überwinden?

Der 3. Oktober muss deshalb auch ein Tag der Dankbarkeit sein. Viele haben dazu beigetragen, dass die Einheit Deutschlands jetzt möglich wurde: unsere Freunde im Westen - allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und Großbritannien -, die in all den Jahrzehnten die Freiheit der Bundesrepublik Deutschland und die Sicherheit des Westteils von Berlin schützten; aber auch die Bürgerrechtsbewegung in Polen und nicht zuletzt Präsident Gorbatschow mit seiner Reformpolitik.

Denken wir vor allem auch an die Ungarn. Sie haben im September vorigen Jahres für unsere Landsleute, die aus der DDR flüchteten, in einer mutigen Entscheidung die Grenze nach Österreich geöffnet - und damit den ersten Stein aus der Mauer geschlagen. Ganz besonders aber gilt unser Dank den Männern und Frauen, die in einer friedlichen Revolution eine kommunistische Diktatur in die Knie zwangen und in der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März das Ende des SED-Regimes besiegelten. Wenn wir morgen die Einheit und Freiheit Deutschlands vollenden, so ist dies in erster Linie ihr Verdienst.

Kontinuität und Neubeginn - der 3. Oktober steht für das eine wie für das andere. Kontinuität erwächst insbesondere aus unserem Grundgesetz, das als Kern unserer freiheitlichen Ordnung in ganz Deutschland gelten wird. Wir können aufbauen auf den bewährten Grundlagen, die in der Bundesrepublik errichtet und entwickelt wurden, und wir halten fest an unserem Engagement für die europäische Einigung und in der Atlantischen Allianz.

Was also die freiheitliche Ordnung der Bundesrepublik - und ebenso ihre internationalen Bindungen - betrifft, so entsteht mit dem morgigen Tag nichts Neues. Und doch bedeutet der Tag der deutschen Einheit in vielfacher Hinsicht eine tiefe geschichtliche Zäsur. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat das Ringen um die politische Gestalt Deutschlands, um seine innere Ordnung und seinen Platz in Europa die deutsche und ganz maßgeblich auch die europäische Geschichte geprägt. Die Vollendung der Einheit und die Verpflichtung Deutschlands auf einen europäischen Auftrag: Was in der deutschen Geschichte so lange unvereinbar schien, wird jetzt auf glückliche Weise miteinander verknüpft. Mit dem Tag der deutschen Einheit erfüllt sich, was die Patrioten auf dem Hambacher Fest so leidenschaftlich forderten - und was uns die Abgeordneten der Paulskirche als feierliches Vermächtnis hinterlassen haben. Einheit und Freiheit sind in Deutschland wieder - und fortan unauflöslich - miteinander verbunden.

Und ebenso unauflöslich ist die Verankerung Deutschlands in der westlichen Wertegemeinschaft. Die Frage nach Deutschlands Platz in Europa ist damit ein für allemal beantwortet - beantwortet durch das feste Band, das die Bundesrepublik insbesondere mit den Demokratien Europas und Nordamerikas vereint. Wir verstehen dies zugleich als Ausdruck außenpolitischer Wertentscheidungen, die wir für das vereinte Deutschland bewahren und festigen wollen.

Auch für das vereinte Deutschland wird die Freundschaft mit Frankreich immer von existentieller Bedeutung bleiben, und die deutsch-amerikanische Freundschaft ist auch künftig eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass es Europa und Amerika gelingt, die politischen, ökonomischen und ökologischen Aufgaben unserer Zeit in atlantischer Partnerschaft zu meistern.

II.

Jeder soll wissen: Es wird keine deutschen Sonderwege und keine nationalistischen Alleingänge geben - und auch kein »ruheloses Reich« mehr, wie ein bekannter Buchtitel einmal lautete. Mit der Überwindung der Teilung ist gewährleistet, dass Deutschland in der Mitte Europas ein Faktor der Stabilität sein wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist der 3. Oktober auch ein europäisches, ja weltpolitisches Ereignis von historischem Rang. Auf die Menschen in ganz Deutschland kommt eine Aufgabe zu, die ohne Beispiel ist: das Zusammenfuhren zweier Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen, die von Anfang an miteinander unvereinbar waren und sich über Jahrzehnte hinweg immer weiter auseinanderentwickelt haben. Freiheitliche Demokratie und Soziale Marktwirtschaft für ganz Deutschland sollen der neue gemeinsame Weg sein.

Im Rückblick auf die Währungs- und Wirtschaftsreform vom 20. Juni 1948 und auf den Wahlkampf zum ersten Deutschen Bundestag 1949 ist daran zu erinnern, dass von der heute praktisch allgemeinen Zustimmung zur Sozialen Marktwirtschaft damals noch keine Rede sein konnte. Im Gegenteil: Dem Wahlerfolg Konrad Adenauers und Ludwig Erhards gingen leidenschaftliche Debatten mit Befürwortern einer Planwirtschaft voraus. Doch gerade in jener grundlegenden Neuorientierung und Umstrukturierung lag der Schlüssel zum beispiellosen Aufschwung der fünfziger und sechziger Jahre. Es entfalteten sich zahllose Initiativen, mit denen die Menschen ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nahmen.

Zur schnellen Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft trug neben der für jedermann spürbaren Dynamik von Einkommen, Investitionen und Beschäftigung sicher auch die Tatsache bei, dass die planwirtschaftliche Wirklichkeit im anderen Teil Deutschlands ein mehr und mehr abschreckendes und die Menschen lähmendes Bild bot. In der Bundesrepublik schufen dagegen zur gleichen Zeit Berufs-, Gewerbe- und Vertragsfreiheit sowie Eigentumsschutz, Tarifautonomie und Wettbewerb die Voraussetzungen für einen durchgreifenden wirtschaftlichen Erfolg bei zunehmender sozialer Sicherheit.

III.

So ist in den vergangenen vierzig Jahren ein bedrückendes Gefälle zwischen den elf bestehenden und den fünf neuen Ländern in Deutschland entstanden. Dieses Gefälle kommt nicht nur in unterschiedlichen Lebensbedingungen - etwa im Zustand der Wohnungen und bei der Ausstattung mit Telefonen, Kraftfahrzeugen oder Haushaltsgeräten - zum Ausdruck, sondern vor allem auch im Stadtbild, im Zustand von Straßen, öffentlichen Verkehrs- und Versorgungsnetzen, von Krankenhäusern und Altenheimen oder in der schlimmen Situation von Natur und Umwelt zwischen Elbe und Oder.

Auf Bürger, Wirtschaft, Staat und Politik in Deutschland kommen jetzt gewaltige Aufgaben zu. Umweltschäden, mangelnde Infrastruktur und fehlende Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen in der DDR stehen für das, was zu bewältigen ist. Damit sind natürlich erhebliche Kosten verbunden. Doch dürfen uns die Kosten von heute - sosehr sie auch ins Gewicht fallen mögen - nicht den Blick auf die Vorteile von morgen verstellen. Denn diesen Kosten stehen zunehmend auch die Erträge der Einheit gegenüber. Und diese Erträge sind mehr als nur der Abbau der bisherigen teilungsbedingten Aufwendungen. Zu den Erträgen gehören beispielsweise nachhaltige Impulse für Wachstum und Beschäftigung in den elf bestehenden Ländern durch die Lieferung von Maschinen und Konsumgütern in die neuen Bundesländer. Entsprechend steigende Unternehmenserträge und zusätzliche Steuereinnahmen sind schon heute nicht zu übersehen. Und auf längere Sicht ergeben sich für uns und unsere Partner in Ost und West im zusammenwachsenden Europa weitere wirtschaftliche Vorteile.

Nicht zu vergessen ist auch, dass die fünf neuen Länder - bei aller Hilfe, die heute notwendig ist, nach und nach in der Lage sein werden, notwendige Investitionen für die eigene Zukunft aus eigener Kraft zu finanzieren - eine Erfahrung, die auch die Bundesrepublik Deutschland mit den Marshallplan-Geldern gemacht hat.

Kosten, Erträge und Perspektiven - dies ist ein unauflöslicher Gesamtzusammenhang. Und dazu gehören selbstverständlich auch immaterielle Vorteile, die nicht in Mark und Pfennig messbar sind: vor allem der Zugewinn an persönlicher und politischer Freiheit. Die Entwicklung der vergangenen Wochen und Monate zeigt im übrigen: Es sind schon vielfältige Aktivitäten in Gang gekommen - mehr, als die vorläufig noch unzureichenden Statistiken wiedergeben. So sind in diesem Jahr bereits knapp 170000 Betriebe gegründet worden.

Natürlich hat der Übergang von der Kommandowirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft auch andere Seiten. Viele Menschen machen die bittere Erfahrung, dass ihre Betriebe unter Marktbedingungen nicht mehr wettbewerbsfähig sind, ja dass selbst mancher einstige »Vorzeigebetrieb« des SED-Staats scheitert. Zuvor verdeckte Arbeitslosigkeit tritt jetzt offen zutage, in zahlreichen Betrieben muss kurzgearbeitet werden. In vielen Familien wächst die Sorge um Arbeitsplatz und Alltagsbewältigung. Diese Durststrecke ist unvermeidbar, und die wenigsten Menschen haben etwas anderes erwartet. Die schlimmen Folgen von über vier Jahrzehnten sozialistischer Misswirtschaft lassen sich nicht über Nacht beheben.

Doch jeder, der jetzt von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit betroffen ist, hat Anspruch auf die Solidarität der Gemeinschaft. Das bewährte System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland bietet dafür Gewähr. Jeder einzelne muss jedoch an einer neuen Perspektive für sich und andere mitarbeiten. Konkret gehört dazu etwa die Bereitschaft zur Weiterqualifizierung und auch zur beruflichen Neuorientierung.

Die Bundesregierung hat ihrerseits Vorsorge dafür getroffen, dass Hilfe zur Selbsthilfe in vielfältiger Form zur Verfügung steht: etwa für private Investoren, für die Erneuerung des vernachlässigten Wohnungsbestandes, für den Ausbau der desolaten Infrastruktur und für Existenzgründer. Und von morgen an werden Beauftragte der ersten gesamtdeutschen Regierung in Berlin und in den fünf neuen Ländern dafür verantwortlich sein, dass bereitstehende Hilfen ihre Adressaten erreichen, dass der Verwaltungsvollzug sichergestellt wird und dass der Informationsfluss zwischen Bundesregierung und Gebietskörperschaften bis hin zu den Kommunen möglichst rasch und reibungslos funktioniert. Allerdings sind bei diesen schwierigen Aufgaben auch die bestehenden Bundesländer sowie Städte und Gemeinden gefordert.

Zur Sozialen Marktwirtschaft gehört auch die Bereitschaft von Arbeitnehmern und Unternehmern, von Gewerkschaften, Verbänden, Kirchen, Wissenschaft, Verwaltung und Politik, mit Blick für das Ganze verantwortlich zu handeln. Das ist heute in den neuen Bundesländern nicht anders als damals in den ersten Jahren der alten Bundesrepublik. Nur mit Unternehmungsgeist, Fleiß und Solidarität lassen sich Wohlstand, sozialer Fortschritt und Einheit in Freiheit verwirklichen.

Das alles ist schwierig genug. Doch die noch größere Herausforderung liegt nach meiner Überzeugung in der Überwindung der schwerwiegenden seelischen und geistigen Folgen, die vier Jahrzehnte kommunistischer Diktatur im Leben der Menschen hinterlassen haben. Selbstverleugnung, Anpassung und die Angst, sich und andere durch unbedachte Äußerungen zu gefährden - dies alles sind schreckliche Erfahrungen, die Menschen dort jahrzehntelang machen mussten und die sich von außen schwer beurteilen lassen. Reiner Kunze hat mit erschütternder Eindringlichkeit die ausweglose Lage beschrieben, in der sich junge Menschen unter der kommunistischen Diktatur befanden. Vor diesem Erfahrungshintergrund müssen wir im Westen gerade vor denjenigen Landsleuten großen Respekt haben, die ihren unbeugsamen Freiheitswillen dennoch bekundeten und dafür Schlimmes erdulden mussten.

Seit der friedlichen Revolution in der DDR ist der geistige Klammergriff der kommunistischen Ideologie beseitigt. Aber die verheerenden Schäden, die diese Ideologie gerade im geistigen und kulturellen Leben angerichtet hat, werden noch nachwirken. Vor allem dort, wo junge Menschen prägende Einflüsse erfahren, gilt es, die Trümmerstücke ideologischen Denkens beiseite zu räumen. Ich denke zum Beispiel an die Schulen und Hochschulen, wo weiterhin viele tätig sind, die dort der kommunistischen Partei und ihrer Ideologie dienten. Wie sollen sie eigentlich heute bei jungen Menschen das Wertebewusstsein schärfen, vor allem den Sinn für den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung?

Ich nenne auch den Bereich der Medien, von Kunst und Literatur. Können die ehemaligen Zensoren und Sprachrohre der Willkürherrschaft heute als glaubwürdige Botschafter von Meinungsfreiheit, von pluralistischer Vielfalt und Toleranz auftreten? Hier ist zumindest Wachsamkeit angezeigt. Überall müssen noch alte Verkrustungen aufgebrochen werden, und jeder von uns ist aufgerufen, die geistige Auseinandersetzung zu führen.

Vierzig Jahre Diktatur haben gleichzeitig zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft in der ehemaligen DDR geführt. Wir können keine Nachsicht üben gegenüber jenen, die im Dienste einer menschenverachtenden Ideologie die Menschenrechte mit Füßen traten. Wer große Schuld auf sich geladen hat, der muss bestraft werden. Gegenüber anderen, die zur Umkehr ernsthaft bereit sind, müssen wir die Kraft zur Versöhnung haben. Sonst können die tiefen Wunden nicht heilen, die in vierzig Jahren Diktatur geschlagen wurden. Wir sind ein Volk. Der aufrichtige Umgang auch mit diesem Kapitel unserer nationalen Vergangenheit ist die Aufgabe aller Deutschen in einem geeinten Vaterland.

IV.

Wie im Leben des einzelnen Menschen, so gilt auch im Leben einer Nation: Nur wer sich selbst annimmt mit seinen Schwächen und Stärken, mit seiner Vergangenheit in allen ihren Teilen, ist auch zu echter Partnerschaft fähig. Die deutsche Einheit bietet uns jetzt auch die Chance, gemeinsam zu jenem inneren Gleichgewicht zu finden, das das gelassene Selbstbewusstsein anderer europäischer Nationen prägt. Ein geläuterter, unaufgeregter Patriotismus, der sich mit den Werten unserer Verfassung identifiziert, der nicht ein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland zum Maßstab hat, achtet die Vaterlandsliebe anderer Nationen. Auf dieser Grundlage können wir von unseren Nachbarn erwarten, dass sie auch unsere Vaterlandsliebe respektieren.

Wir befinden uns schon längst - und unwiderruflich - auf dem Weg zu einem europäischen Deutschland. Die von Konrad Adenauer durchgesetzte Politik der Westintegration hat unser nationales Schicksal so eng mit dem unserer Nachbarn verflochten, dass für die Deutschen heute ein »Ausstieg aus Europa« nicht in Betracht kommt - dies um so weniger, als sich die Politik der europäischen Integration als eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür erwiesen hat, dass wir in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollenden konnten.

Die oft gespenstisch anmutende Diskussion über die Frage, ob nicht deutsche Einheit und europäische Integration einander ausschlössen, gehört jetzt endgültig der Vergangenheit an. Die Geschichte hat den Vätern und Müttern des Grundgesetzes recht gegeben: Sie hatten - wie die Präambel des Grundgesetzes von 1949 ausweist - klar erkannt, dass die Wiedervereinigung Deutschlands und die Schaffung eines vereinten Europa zwei Seiten ein und derselben Medaille waren und sind.

Um Europas wie um Deutschlands willen haben wir in den vergangenen Jahren mit unseren Partnern - allen voran den Franzosen - die Europäische Gemeinschaft weiter ausgebaut zu einem Modell des friedlichen Zusammenlebens freier Völker. Dieses Vorbild hat auch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa tiefen Eindruck gemacht. Die Kräfte der Integration dürfen gerade jetzt nicht erlahmen.

Der europäische Binnenmarkt, den wir bis zum 31. Dezember 1992 vollenden wollen, ist nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Europäischen Union, zu den Vereinigten Staaten von Europa. Bereits heute bereiten wir die Schritte vor, die uns weit über den Horizont des Binnenmarktes hinausfuhren: die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Politische Union. Insgesamt gilt: Die politische Integration Europas - sie war das Hauptanliegen der Gründergeneration, von Persönlichkeiten wie Jean Monnet und Robert Schuman, Konrad Adenauer oder Aleide De Gasperi - muss in den kommenden Jahren an das Niveau der wirtschaftlichen Integration herangeführt werden. Die Gemeinschaft muss endlich in die Lage versetzt werden, auch in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik mit einer Stimme zu sprechen - selbstverständlich in enger atlantischer Partnerschaft mit den Demokratien Nordamerikas.

Die Verwirklichung der Europäischen Union wird Herzstück der Außenpolitik auch eines vereinten Deutschland sein. Wir haben allerdings nie vergessen, dass das Europa der Zwölf nicht das ganze Europa ist. Unser Ziel war stets darüber hinaus - in den Worten Konrad Adenauers -, "dass Europa einmal ein großes, gemeinsames Haus für alle Europäer wird, ein Haus der Freiheit". So sahen es auch die Gründer der Gemeinschaft.

V.

In unseren Tagen bedeutet dies, dass die Europäische Gemeinschaft eine maßgebliche Rolle zu spielen hat bei der Unterstützung des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Selbstverständlich wird sich das vereinte Deutschland an diesen Bemühungen maßgeblich beteiligen. Denn als ein Land im Herzen Europas haben wir alles Interesse daran, dass das wirtschaftliche West-Ost-Gefälle in Europa überwunden wird. Ein blühender Kontinent ist ein stabiler Kontinent. Es geht hier deshalb immer auch um Investitionen in unsere eigene Zukunft.

Aus dem gleichen Grunde müssen wir unsere Nachbarn in Mittel- und Südosteuropa in den Prozess der europäischen Integration mit einbeziehen. Das soll nun nicht bedeuten, dass wir die EG innerhalb weniger Jahre zu einem Europa der Zwanzig oder Fünfundzwanzig erweitern könnten: Auf keinen Fall darf dabei die Vertiefung der wirtschaftlichen und politischen Integration aufs Spiel gesetzt werden. Es sind verschiedene Lösungen denkbar, wie die Gemeinschaft ihrer gesamteuropäischen Berufung gerecht werden kann. Hierzu zählt das Angebot zu Assoziierungsverträgen ebenso wie die von Staatspräsident Mitterrand zur Diskussion gestellte - und von mir unterstützte -Idee einer europäischen Konföderation, in der alle Staaten unseres Kontinents gleichberechtigt zusammenarbeiten.

Für den Aufbau eines in Freiheit vereinten Europa kommt insbesondere den deutsch-polnischen Beziehungen eine herausragende Bedeutung zu. Ohne deutsch-französische Freundschaft hätte das Werk der Einigung Europas nicht begonnen werden können, ohne deutschpolnische Partnerschaft wird es sich nicht vollenden lassen. Im Interesse Europas - und darüber hinaus des Atlantischen Bündnisses - handeln wir auch, wenn wir eine neue Qualität der Beziehungen zur Sowjetunion herstellen. Dazu wird der »Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit« zwischen beiden Ländern gehören. Bei meinen Gesprächen mit Präsident Gorbatschow im Kaukasus konnten wir einen entscheidenden Durchbruch erzielen, der das Ende der Nachkriegszeit besiegelte. Wenn bis 1994 alle sowjetischen Truppen unser Land verlassen haben, dann bedeutet dies einen enormen Zugewinn an Sicherheit - für uns, aber ebenso für unsere Nachbarn, Partner und Verbündeten im Westen.

Mit der Vereinigung Deutschlands erlangen wir nicht nur volle Souveränität, uns wachsen auch international neue Pflichten zu. Für nationalen Egoismus ist da kein Platz. Natürlich werden uns mit dem Wiederaufbau in den fünf neuen Ländern erhebliche Anstrengungen abverlangt. Dies kann indes kein Grund sein, dass wir uns unserer internationalen Verantwortung entziehen.

Wenn wir uns in bequeme Nischen der Weltpolitik zurückzögen, würden wir in gefährlicher Weise das Vertrauen erschüttern, das sich die Bundesrepublik in über vierzig Jahren erworben hat - und das wir als kostbares Gut für das vereinte Deutschland pflegen und ausbauen wollen. Nicht zuletzt unsere Partner im Ausland erwarten von uns, dass wir Deutschen den uns möglichen Beitrag leisten. Das gilt zum Beispiel für die zuverlässige und dauerhafte Sicherung des Weltfriedens, der heute vor allen durch regionale Krisen gefährdet werden kann, die auch uns in Europa unmittelbar berühren.

Auch das vereinte Deutschland wird eine Entwicklungspolitik betreiben, die den Ärmsten und Schwächsten tatkräftig zur Seite steht -und die ihnen vor allem hilft, sich selbst zu helfen. Nur so wird es uns auch gelingen, globale Umweltprobleme partnerschaftlich zu lösen. Das Ozonloch über der Antarktis oder die Vernichtung der tropischen Regenwälder betreffen die Menschen in allen Ländern und Kontinenten gleichermaßen.

Durch die Präambel des Grundgesetzes, das von morgen an für das gesamte deutsche Volk gilt, wird uns auch künftig aufgetragen, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Wenn die Deutschen in Ost und West sich diesen Auftrag gemeinsam zu eigen machen, dann können wir sicher sein, dass künftige Generationen in Deutschland und in Europa alle Aussicht auf ein ganzes Leben in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und persönlichem Glück haben werden.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Oktober 1990.