2. September 1984

Begrüßungsansprache beim 12. Ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Chemie-Papier-Keramik

 

Ich bin Ihrer Einladung zum 12. Ordentlichen Gewerkschaftstag der Industrie-Gewerkschaft Chemie-Papier-Keramik sehr gern gefolgt, weil ich persönlich großen Wert auf den direkten Kontakt zu den Gewerkschaften lege. Seit meinem Amtsantritt habe ich mit keiner Organisation so viele Gespräche geführt wie mit den deutschen Gewerkschaften.

Das Miteinander ist ein Grundgedanke der Einheitsgewerkschaft. In ihr haben sich nach dem Krieg Gewerkschafter aller Richtungen zusammengeschlossen und das soziale Leben in der Bundesrepublik Deutschland ohne ideologische Scheuklappen aktiv mitgestaltet.

Erinnern wir uns:

Große gesellschaftspolitische Weichenstellungen sind im Miteinander von Regierung und Gewerkschaften entstanden. Die Montanbestimmung 1951, das Betriebsverfassungsgesetz 1952, die Rentenreform 1957 - immer haben Bundesregierung und Gewerkschaften gemeinschaftlich nach politischen Lösungen gesucht. Diese Gemeinsamkeiten sind keine bloße Reminiszenz. Dies gilt auch heute.

Ihnen, Herr Rappe, möchte ich ein besonderes Wort des Dankes sagen, und zwar für das, was Sie und andere führende Gewerkschaftsvertreter verantwortungsvoll, klar und entschieden zum Verhältnis zwischen Industriestaat und Umweltschutz gesagt haben.

Es ist ermutigend, gerade in der jetzigen Situation eine Stimme zu hören, die sich nicht von Vorurteilen und Hysterie mitreißen läßt, sondern Augenmaß und Besonnenheit in Erinnerung ruft. Mit falschen Patentformeln wie „Ökologie statt Ökonomie" ist niemandem geholfen, sie führen nur in die Sackgasse!

Daß wir heute mehr Umweltschutz brauchen - daran kann es keinen Zweifel geben. Aber es geht um Umweltschutzpolitik in einem modernen Industrieland. Arbeit und nicht zuletzt soziale Sicherheit hängen davon ab, ob unser Land seinen Rang als eine der führenden Industrienationen in der Welt behaupten kann.

Umweltschutz ist unser gemeinsames Anliegen. Dafür einzutreten ist nicht das Privileg bestimmter Einzelgruppen, sondern Auftrag und Ziel einer modernen Industriegesellschaft mit menschlichem Gesicht, in der es auch und gerade um Arbeit und Brot für viele geht. An diesem Zusammenhang, an dieser gleichzeitigen Berücksichtigung von Umweltschutz undArbeitsplätzen halten wir fest - im Interesse der Arbeitnehmer und im Gesamtinteresse unseres Landes und seiner Zukunft.

Die Politik muß in ständigem Dialog mit den vielfältigen Gruppen unserer pluralistischen Gesellschaft stehen. Dabei hat das Gespräch mit den Arbeitnehmern sicher besondere Bedeutung. Dies gilt umso mehr, als die großen Probleme unserer Gesellschaft nur gemeinschaftlich gelöst werden können - und nicht im Gegeneinander. Dafür gibt es positive Beispiele gerade auch aus jüngster Zeit: In den Gewerkschaften wurde der Gedanke des Vorruhestands entwickelt. Ich danke all denen, die in den Gewerkschaften dafür eingetreten sind.

Das Modell eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben ist praktische Solidarität mit den Arbeitslosen und zugleich mit den älteren Arbeitskollegen, die die Lasten der Kriegs- und Nachkriegszeit getragen und sich den Ruhestand nach einem harten Arbeitsleben mehr als verdient haben.

Die Bundesregierung hat die Tarifparteien mit der Kostenbelastung einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit nicht allein gelassen.

Mit dem Vorruhestandsgesetz beteiligt sich der Staat an der Finanzierung. Dies ist ein Stück konkreter Politik für mehr Beschäftigung - gemeinsam getragen von Bundesregierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern, zugunsten der Arbeitslosen.

Es ist heute sicher noch zu früh für eine endgültige Bilanz. Aber es läßt sich jetzt schon feststellen, daß die Vorruhestandsregelung großen Erfolg hat. Bereits vier Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes gelten für rund ein Drittel aller tariflichen Arbeitnehmer Vorruhestands-Tarifverträge. Damit besteht heute für 240.000 Arbeiter und Angestellte die Möglichkeit, früher in den Ruhestand zu gehen. Ich bin sicher, daß sich diese Zahl mit dem Abschluß weiterer Tarifverträge noch beträchtlich erhöhen wird. Das eröffnet vielen Arbeitslosen neue Chancen.

Gemeinsamkeiten gibt es ebenso bei der Vermögensbildung. Auch hier haben Gewerkschaften wertvolle Beiträge geleistet. Die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand - vor allem die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital - verstehen wir als wichtiges Element der Sozialen Marktwirtschaft.

Die von mir geführte Bundesregierung hat hier einen großen Schritt nach vorn getan. Nach einer Kürzung von 900 Millionen DM durch die frühere Bundesregierung haben wir die Mittel zur Förderung der Vermögensbildung um 1,4 Milliarden DM aufgestockt.

Gleichzeitig hat diese Politik durch die besondere Begünstigung von Kapitalbeteiligungen und Arbeitnehmerdarlehen eine neue Dimension erhalten: Arbeitnehmer werden zu Miteigentümern. Ich halte dies mit Blick auf die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft für eine Weichenstellung von weitreichender Bedeutung.

Ich rufe Sie daher auf: Nutzen Sie die tarifvertraglichen Möglichkeiten des neuen Gesetzes. [...]

Meine Damen und Herren, hinter uns liegt der längste Arbeitskampf in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Wir alle wissen, daß es im Umfeld dieser Auseinandersetzungen auch harte Worte zwischen Regierung und Gewerkschaften gegeben hat.

Lassen Sie mich dazu heute feststellen: Wir - die Bundesregierung und auch ich ganz persönlich - sagen ohne Wenn und Aber Ja zur Tarifautonomie. Sie hat sich in der Bundesrepublik Deutschland - insbesondere auch im internationalen Vergleich - hervorragend bewährt. Tarifautonomie kann allerdings nicht bedeuten, daß allein die Tarifpartner Rederecht genießen und alle anderen zum Stillschweigen verurteilt sind.

Die Koalition der Mitte hat am 6. März 1983 ein überzeugendes Mandat für die politische Gesamtverantwortung erhalten. Ich selbst habe vor wie nach der Wahl klargemacht, daß der Kampf gegen Arbeitslosigkeit unsere innenpolitische Aufgabe Nummer eins ist.

Die Bundesregierung ist daher verpflichtet, wirtschaftliche Risiken und Gefährdungen aus ihrer Sicht beim Namen zu nennen. Sie kann sich nicht mit einer Art Beobachter-Status zufrieden geben. Jeder von Ihnen, meine Damen und Herren, wird dies für seine Person als Staatsbürger und Wähler nicht anders empfinden.

Tarifautonomie und Regierungsmandat müssen von den jeweils Verantwortlichen wahrgenommen und ausgefüllt werden. Auch wenn Meinungsverschiedenheiten bestehen, muß das Nebeneinander von politischer Gesamtverantwortung und Tarifautonomie in einer freiheitlichen Gesellschaft möglich sein - auch und gerade im Interesse der Gewerkschaften. Jetzt ist es an der Zeit, den Blick wieder nach vorn zu richten.

Gewerkschaften, Arbeitgeber und Bundesregierung sollten ihre Kontakte verstärken. Ich freue mich, daß es in den letzten Wochen positive Signale aus den Gewerkschaften für derartige Gespräche gegeben hat.

Ich würde es begrüßen, wenn wir das Gespräch über unsere Hauptprobleme - Arbeitslosigkeit, Strukturanpassung, sozialer Schutz der Arbeitnehmer - intensivieren könnten. Wir brauchen dafür nicht unbedingt die Begriffe der Vergangenheit. Dieser Dialog darf für keine Seite eine Alibiveranstaltung sein. Er muß über den unverbindlichen Austausch von Erklärungen hinausgehen. Dafür ist unser gemeinsames Anliegen - der Abbau der Arbeitslosigkeit - zu wichtig.

Lassen Sie uns den Versuch zu mehr Gemeinsamkeit machen. Wenn man häufiger am runden Tisch miteinander spricht, muß man seltener auf das Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung zurückgreifen.

Meine Damen und Herren, unser Hauptproblem heißt Arbeitslosigkeit. Wir alle sind uns darüber klar, daß es für die Überwindung der Arbeitslosigkeit keine Patentrezepte, keine schnellen Lösungen gibt. Was über viele Jahre hinweg entstanden ist, läßt sich nicht in wenigen Monaten beseitigen.

Grundvoraussetzung für mehr Beschäftigung ist wirtschaftliches Wachstum. Deshalb wende ich mich gegen neue Ideologien, die das Wachstum verteufeln und gleichzeitig die Sicherung von Arbeitsplätzen verheißen. Dies sind Illusionen, an deren Ende wirtschaftlicher Niedergang und noch mehr Arbeitslosigkeit stehen.

Heute kann ich feststellen, daß es in der Bundesrepublik Deutschland wieder wirtschaftliches Wachstum gibt: Trotz der arbeitskampfbedingten Ausfälle wird das Bruttosozialprodukt 1984 voraussichtlich um 2 ½ Prozent zunehmen. Nach Jahren wirtschaftlichen Rückgangs ist dies mehr, als viele noch vor kurzem erwartet haben.

Zum Wachstum hat auch unsere Haushaltskonsolidierung beigetragen. Damit wurde es zugleich möglich, die Belastung der Arbeitnehmereinkommen mit Steuern und Beiträgen in Grenzen zu halten. Heute ist es ja so, daß ein Durchschnittsverdiener von jeder Mark Lohnerhöhung nur noch 50 Pfennig auf seinem Konto wiederfindet - der Rest geht an Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie an das Finanzamt. Zusätzliche Arbeit und zusätzlicher Nettolohn müssen wieder in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Die beschlossene Senkung der Lohn- und Einkommensteuer ist ein wesentlicher Schritt in diese Richtung.

Eine spürbare Entlastung geht auch von der stark rückläufigen Preissteigerungsrate aus. Im Juli betrug sie noch ganze 2,2 Prozent. Dies ist - abgesehen von einer Zwischenphase im Herbst 1978 - der niedrigste Wert seit 1969. Als ich 1982 mein Amt übernahm, lag der Preisanstieg bei 5,3 Prozent. Die Lohnerhöhungen betrugen damals im Durchschnitt 4,2 Prozent. Das Ergebnis waren sinkende Realeinkommen der Arbeitnehmer.

In diesem Jahr hat die IG Chemie-Papier-Keramik mit 4 Prozent abgeschlossen - und die Teuerungsrate wird im Jahresdurchschnitt unter 3 Prozent liegen. 1982 haben die Arbeitnehmer den Wettlauf gegen die Inflation verloren - 1984 werden sie ihn gewinnen! Diese Politik für stabile Preise macht allein für die Arbeitnehmer einen Kaufkraftgewinn von rd. 20 Milliarden DM aus. Aber die Bundesregierung beschränkt sich nicht darauf, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern. Sie hat darüber hinaus auch die aktive Arbeitsmarktpolitik verstärkt.

Zum Zeitpunkt unserer Regierungsübernahme waren 29.000 Arbeitnehmer in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt - heute sind es über 80.000. Dies bedeutet 50.000 Arbeitslose weniger.

Die Teilnehmerzahl an beruflichen Bildungsmaßnahmen ist stark angestiegen. Im Sommer 1984 nahmen 214.000 Arbeitnehmer an Weiterbildungsmaßnahmen teil - 9 Prozent mehr als vor 2 Jahren.

Für die 60.000 Kumpel im Steinkohlebergbau wurden in Zusammenarbeit mit der IG Bergbau und Energie Anpassungsschichten vereinbart. Sie verhindern, daß das Ruhrgebiet mit seinen besonders schwierigen Strukturproblemen zusätzlich durch arbeitslose Bergleute belastet wird.

Ich nenne diese Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit ohne Triumphgefühl. Es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit: Das Schicksal von über 2 Millionen Arbeitslosen muß uns zu immer neuen Anstrengungen veranlassen.

Und es gibt ja durchaus auch positive Anzeichen: Im Januar 1983 war die Zahl der Kurzarbeiter mit 1,2 Millionen mehr als viermal so hoch wie heute. Im vergangenen Jahr blieb die Zahl der Arbeitslosen um rund 90.000 unter der erwarteten Marke. Auch die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen lag im Juli 1984 um rund 28.000 unter der Vergleichszahl des Vorjahres. Ihre Arbeitslosenquote ist heute - anders als im Juli 1983 - geringer als die durchschnittliche Arbeitslosigkeit. Diese Zahlen sollen nicht beruhigen. Sie sollen aber zeigen, daß Erfolge möglich sind, wenn wir uns gemeinsam dafür einsetzen.

Gemeinsamkeit hat im vergangenen Jahr dazu geführt, daß wir eine Rekordzahl neu abgeschlossener Lehrverträge verzeichnen konnten. Ich habe mich in dieser Frage besonders engagiert. Die Jugend besteht nicht aus Aussteigern. Im Gegenteil: Sie will einsteigen und am Wirtschaftsleben teilhaben. Und sie hat einen Anspruch darauf. Deshalb muß die Gemeinschaftsanstrengung des vergangenen Jahres noch einmal wiederholt und sogar noch übertroffen werden. Das verlangt unkonventionelles Vorgehen.

Die IG Chemie-Papier-Keramik hat hierzu im vergangenen Jahr einen bemerkenswerten Beitrag geleistet. Sie hat auf eine Erhöhung der Ausbildungsvergütungen verzichtet und dafür die Zusage einer deutlich erhöhten Anzahl von Ausbildungsplätzen eingehandelt. Im Ergebnis wurden über 16 Prozent mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen.

Mit diesem Konzept ist die Gewerkschaft ein Risiko eingegangen - und sie hat gewonnen. Besser noch: Die betroffenen Jugendlichen haben gewonnen. Für Ihren Mut zu dieser Initiative, die nicht überall sofort auf Beifall gestoßen ist, möchte ich Ihnen danken.

Im Kampf gegen Lehrstellenmangel und Arbeitslosigkeit ist heute ein Handeln ohne Tabus und ohne Besitzstandsdenken erforderlich. Wir müssen vermeiden, daß unsere Gesellschaft in eine Konfrontation von Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen gerät, wo die einen den anderen die Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg verwehren.

Dies ist der Grundgedanke des Entwurfs für ein Beschäftigungsförderungsgesetz. Ich will es an einem Beispiel erläutern: Heute - in einer Aufschwungphase - lassen viele Betriebe Überstunden leisten und Sonderschichten fahren. Denn sie wissen nicht, ob mit der verbesserten Auftragslage auch auf Dauer gerechnet werden kann.

Für die Arbeitslosen kann das bedeuten, daß der Aufschwung an ihnen vorbeigeht. Hier können Zeitarbeitsverträge helfen, sie ermuntern zu Neueinstellungen. Für Arbeitslose ist es besser, befristete Arbeit zu bekommen als unbefristet arbeitslos zu bleiben. Deshalb will die Bundesregierung für eine Übergangszeit die Möglichkeit zur einmaligen Befristung von Arbeitsverträgen erleichtern.

Ein weiteres Ziel des Beschäftigungsförderungsgesetzes heißt Aufwertung der Teilzeitarbeit. Da liegt einiges im Argen! Wir wollen zweierlei: Erstens soll der arbeitsrechtliche Schutz bei Teilzeitarbeit dem bei vollberuflicher Tätigkeit angeglichen werden. Zweitens sollen neue Formen der Teilzeitarbeit wie Jobsharing oder variable Arbeitszeit auf sozialverträgliche Formen beschränkt werden.

Meine Damen und Herren, wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, bestehende Einstellungshindernisse zu beseitigen, ohne die Arbeitnehmerrechte zu gefährden. Dabei brauchen wir die Mithilfe und den Ratschlag der Gewerkschaften.

Lassen Sie uns die Gemeinsamkeiten suchen. Gemeinsamkeit ist hilfreicher als Konfrontation. Nichts wäre schlimmer als eine Konfrontation auf dem Rücken der Arbeitslosen. Lassen Sie uns gemeinsam Front machen gegen die Arbeitslosigkeit. Ich biete Ihnen faire Zusammenarbeit an!

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 497-505.