20. April 1996

Erklärung vor der Presse zum Abschluss des Gipfeltreffens über Nukleare Sicherheit und Sicherung in Moskau

 

Meine Damen und Herren,

ich möchte mit einer persönlichen Reminiszenz beginnen, die ich heute auch während der Konferenz erwähnt habe. In der nächsten Woche jährt sich zum zehnten Mal der Jahrestag des Reaktorunfalls in Tschernobyl. Genau vor zehn Jahren hatten wir einen G7-Gipfel in Tokio. Dieses Ereignis in Tschernobyl ­ die Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte ­ hat das Denken von vielen Menschen in der Welt ­ übrigens auch das meinige ­ sehr stark beeinflußt. Wenn mir oder den anderen damals jemand gesagt hätte, daß wir uns zehn Jahre danach im Kreml unter dem Vorsitz des russischen Präsidenten zu einer vergleichbaren Tagung treffen würden, dann hätten wir das alle in den Bereich der Vision oder der Utopie verwiesen.

An diesem einfachen Vergleich kann man ­ bei allen Schwierigkeiten in der Welt unserer Tage ­ erkennen, daß wir ein gutes Stück vorangekommen sind. Das will ich gleich vorweg sagen, weil ich damit ein Wort des Dankes an Präsident Jelzin und an seine Mitarbeiter für die großartige Gastfreundschaft, die wir hier erlebt haben, verbinden will.

Wir haben gestern und heute ­ und in dem letzten Teil zusammen mit dem Präsidenten der Ukraine ­ über das Thema "Nukleare Sicherheit, Sicherheit der Kernenergie, sicherer Umgang mit Nuklearmaterial" beraten. Ich meine, daß wir sehr gute Ergebnisse erzielt haben. Alles, was auf diesem Feld geschieht, geht in der internationalen Gemeinschaft ­ auch nach meiner Einschätzung ­ viel zu zähflüssig. Ich habe dieses Thema auf dem G7-Gipfel 1992 in München zum ersten Mal auf die Tagesordnung gesetzt. Jetzt schreiben wir 1996. Ich stimme also all denen zu, die sagen, es gehe sehr langsam. Aber es hat sich immerhin etwas bewegt.

Es ging hier nicht zuletzt und vor allem auch um die Verbesserung der Sicherheit der Kernkraftwerke in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Es ging darum, wie wir nach den Erfahrungen dieser Zeit verantwortlich mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie umgehen könne, wobei wir uns einig waren, daß das oberste Prinzip die Sicherheit im Bereich der Kernenergie ist; denn nur so können wir das Vertrauen der Menschen auf Dauer sichern. Der Jahrestag von Tschernobyl ist ein wichtiger Hinweis, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Die Erklärungen des Gipfels wie auch das Hintergrunddokument*) sowie Aufstellungen zu den finanziellen Leistungen**) liegen Ihnen vor.

Die Beratungen fanden in einer ausgesprochen offenen und freundschaftlichen Atmosphäre statt. Ich möchte dazu kurz folgendes sagen:

Erstens: Nukleare Sicherheit

In bezug auf die Sicherheit ziviler Kernkraftwerke bleibt der Aktionsplan des G7-Gipfels 1992 in München unverändert die Grundlage unserer Arbeit. Wir haben in diesen Jahren konkreten Fortschritte in Mittel-, Ost- und Südosteuropa erreicht. Herr Staatssekretär Stark aus dem Bundesfinanzministerium, der zugleich der erprobte Sherpa der Bundesrepublik Deutschland ist, wird diesbezüglich gerne noch für Detailfragen zur Verfügung stehen.

Wir waren uns heute wieder einig, daß wir nur Hilfe zur Selbsthilfe geben können. Das heißt, daß die nationalen Anstrengungen immer vorrangig sind. Das heißt im übrigen ­ das zeigt sich gerade in der Ukraine ­, daß man die Reformen auf dem Energiesektor mit einbeziehen muß. Ein Energiesektor, der dem Preis-Leistungs-Verhältnis völlig aus dem Ruder läuft, ist sehr schwer zu ordnen.

Hinsichtlich der Verbesserung bei nuklearer Haftung und der sicheren Entsorgung nuklearer Abfälle haben wir die notwendigen Diskussionen geführt. Wir sind vor allem gemeinsam der Auffassung, daß die Konvention zur Sicherheit von radioaktiven Abfällen zügigst fertiggestellt und in Kraft treten muß. Es herrschte Übereinstimmung, daß nukleare Abfälle nicht im Meer versenkt werden können. Präsident Jelzin hat angekündigt, daß die Russische Föderation der sogenannten Verschärfung des Londoner Übereinkommens von 1993 noch in diesem Jahr beitreten will.

Zweitens: Sicherung von Nuklearmaterial

Eine wichtige Diskussion fand zur Weiterbearbeitung der Initiative zur Sicherung von Nuklearmaterial statt, die die Bundesrepublik Deutschland auf dem Europäischen Rat in Essen im Dezember 1994 auf den Weg gebracht hat. Dazu gehört auch die Verabschiedung eines umfassenden Programms zur Bekämpfung des Nuklearschmuggels, auch mit Maßnahmen zur Prävention. Das heißt in der Praxis: Informationsaustausch und Kontrolle bis hin zur stärkeren Zusammenarbeit, um Täter zur Verantwortung zu ziehen. Über die Länder hinaus, die hier zusammenarbeiten, muß es auch offen sein für andere, die zur Zusammenarbeit bereit sind.

Ein ganz wesentlicher Punkt in der Debatte war ferner die Unterstreichung der Verantwortung der Kernwaffenstaaten für eine sichere Haltung von nuklearem Abrüstungsmaterial.

Drittens: Erklärung zum nuklearen Teststopp

Die besondere Erklärung dieses Gipfels zum umfassenden nuklearen Teststoppabkommen ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einem baldigen Abschluß der Genfer Verhandlungen. Die Gipfelteilnehmer haben Präsident Jelzin gebeten, dieses Thema anläßlich seines Besuchs in Peking auch in ihrem Namen dort auf die Tagesordnung zu setzen.

Viertens: Erklärung zur Ukraine

Ich sagte schon, daß heute Präsident Kutschma an den Gesprächen teilgenommen hat. Wie Sie aus dem Text ersehen können, haben wir noch einmal die Vereinbarung zwischen der G7 und der Ukraine vom Dezember 1995, zur Schließung von Tschernobyl bis zum Jahre 2000, bekräftigt.

In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß eine intensive Diskussion ­ nicht zuletzt auch unter meiner Beteiligung ­ zur weiteren Behandlung des Themas "Sarkophag, Sicherung des Sarkophags" stattgefunden hat. Sie wissen, daß die Expertenebene ­ einberufen durch die Europäische Kommission ­ bereits an der Arbeit ist. Wir haben beschlossen, daß der Präsident der Kommission, Jacques Santer, der auch hier war, alles tut, damit diese Expertise bis Ende Oktober/Anfang November vorliegt, und daß wir ­ aufgrund der den Sarkophag betreffenden Vorschläge ­ noch in diesem Jahr Entscheidungen auch zur Finanzierung treffen werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Diskussion, inwieweit die gelegentlich behaupteten oder tatsächlichen Schäden ­ man spricht von Rissen ­ beim Sarkophag von Bedeutung sind und daß man hier so schnell wie möglich die notwendigen Maßnahmen für die Zukunft treffen muß.

Wichtig war auch, daß sich die Ukraine klar zur Einhaltung höchster Sicherheitsstandards, zum Programm zur Bekämpfung des Nuklearschmuggels und zum umfassenden Teststoppabkommen bekannt hat.

Neben dem eigentlichen Thema der Konferenz haben aus konkretem Anlaß noch zwei weitere Themen eine Rolle gespielt. Das eine war die Entwicklung im Libanon im Verhältnis zu den Nachbarstaaten einschließlich Israels. Wir haben dazu gestern eine Erklärung abgegeben und haben die dort anwesenden Außenminister Rußlands, der USA und Frankreichs sowie Frau Agnelli in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Rates der Europäischen Union beauftragt, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand zu kommen.

Wir haben ferner gestern abend spät und eben noch einmal ein Gespräch zum weiteren zivilen Ausbau in Bosnien gehabt. Ich will hier ausdrücklich sagen, daß wir nicht über die Frage der militärischen Präsenz über das eine Jahr hinaus gesprochen haben. Das Thema ist auf allgemeinen Wunsch nicht erörtert worden. Wir haben vielmehr darüber gesprochen, wie wir Carl Bildt in seiner Arbeit unterstützen können und die gelegentlich schleppende Entwicklung beim zivilen Ausbau forcieren können.

Ich habe noch einmal zum Ausdruck gebracht, daß diese Frage für uns Deutsche von allergrößter Bedeutung ist. In Deutschland leben gegenwärtig über 350000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien. Das ist mehr als doppelt so viel wie in irgendeinem Land Europas. Die Bundesrepublik Deutschland hat für die Flüchtlinge und auch für die Direkthilfe vor Ort 14 Milliarden DM aufgebracht. Es ist eine ziemlich absurde Situation, daß wir in Deutschland soziale Unterstützung gewähren, anstatt sie den Flüchtlingen als Hilfe vor Ort zu geben. Sie benötigen diese Hilfe bei ihrer Rückkehr ­ unter der Vorraussetzung, daß der Frieden gesichert ist ­, um ihre Dörfer, ihre Wohnungen und ihre Häuser wiederaufzubauen. Das ist der eigentliche Sinn der Unterstützung.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 31. 21. April 1996.