20. Dezember 1983

Ansprache bei dem Festakt im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beim Wechsel im Amt des Präsidenten

 

Herr Bundespräsident,
meine Herren Präsidenten,
meine Damen und Herren Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes,
Herr Bundestagspräsident,
Herr Bundesratspräsident,
meine Herren Ministerpräsidenten,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und den Landtagen,
meine Damen und Herren!

Dieser Festakt im Bundesverfassungsgericht ist eine Demonstration - im besten Sinne dieses Wortes. Ein Bekenntnis aller Verfassungsorgane zur Gemeinsamkeit im Respekt vor unserer Verfassung.

In seiner Festansprache aus Anlaß der Gründung dieses Bundesverfassungsgerichts hat Theodor Heuss darauf hingewiesen, die moralische Mächtigkeit dieser Institution werde gesichert durch die Zustimmung aller diesen Staat bewußt tragenden Kräfte.

Heute, nach über dreißig Jahren, wissen wir, wie viel die Autorität des Bundesverfassungsgerichtes dazu beigetragen hat, daß unser Staat von der Zustimmung der überwältigenden Mehrheit seiner Bürger getragen wird.

Das Bundesverfassungsgericht war als Krönung der Dritten Gewalt gedacht, schrieb Carlo Schmid in seinen Erinnerungen. Es sollte der eigentliche, nur sich selbst und der Verfassung verantwortliche Hüter der Verfassung sein.

Das Bundesverfassungsgericht als neue Institution im deutschen Verfassungsleben ist von den Bürgern unseres Landes ungewöhnlich rasch angenommen worden. Heute begreifen wir es selbstverständlich als einen Garanten für die demokratische Substanz und für die Stabilität der Rechtskultur unserer staatlichen Ordnung.

Die Richter, die diesem Gericht angehörten, und die Entscheidungen, die sie trafen, haben Vertrauen nicht nur zu Personen und Beschlüssen, sondern in das Verfassungsorgan selbst begründet. Gewonnen hat damit zugleich die politische Kultur unserer Republik.

Bei der Schaffung des Grundgesetzes hat der Parlamentarische Rat gerade auch der institutionellen Sicherung von Freiheit und Menschenrechten, von Demokratie und Rechtsstaat besondere Sorgfalt gewidmet. Im Bewußtsein schrecklicher Erfahrungen suchte er alle Wege zu verschließen, die noch einmal die Möglichkeit eröffnen könnten, vermeintlich demokratische Verfahren gegen die Freiheitsordnung selbst zu wenden.

Die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung galt und gilt es zu sichern zugunsten aller vor allem zum Schutz des einzelnen und von Minderheiten, aber auch von Mehrheiten, aber es gilt auch zu schützen vor allen Gefährdungen - sei es durch Mehrheiten, sei es durch Minderheiten. Zwischen diesen Grundsätzen kann es keine Auswahl geben. Sie haben Anspruch auf Beachtung als Ganzes.

Ernst Benda hat vor kurzem darauf hingewiesen, im Parlamentarischen Rat sei man als ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß den Grundrechten die Pflicht eines jeden entspreche, die verfassungsmäßige Rechtsordnung zu wahren.

Zu Recht erinnert Karl Dietrich Bracher an die Erfahrung mit der Interpretation der Weimarer Verfassung, daß Wertrelativismus und Wertneutralität politische Wertlosigkeit bedeuten. Das hat, so schreibt er in seinem Buch „Zeit der Ideologien", zu unserem bewußt wertbetonten Verfassungsverständnis geführt.

Daran müssen wir festhalten mit der Entschiedenheit einer wehrhaften Demokratie.

Vor Grundrechtsbruch, Rechtsmißbrauch und erst recht vor Willkür gilt es, den einzelnen zu schützen. Aber auch die Verfassung und der Staat selbst bedürfen des Schutzes.

In der freiheitlichen Ordnung unserer offenen Gesellschaft ist niemand befugt, sich über das Recht hinwegzusetzen und seinen Mitbürgern selbstgewählte Regeln aufzunötigen. Von allen kann und muß erwartet werden, daß sie unser verfassungsmäßiges Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung anerkennen, das jedem einzelnen seine faire Selbstbehauptungschance läßt und garantiert.

Dazu zählen Grundrechtsschutz und Rechtsstaatsprinzip, die Öffnung des Rechtswegs gegen alle staatlichen Akte und ganz besonders die Möglichkeit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts, dessen Entscheidungen alle Verfassungsorgane binden.

Hier bleibt kein Raum für Nebengewalten, für private Vetorechte oder Rechtsenklaven. Ich möchte erinnern an die unmißverständlichen Worte, die Sie, die Richter an unserem höchsten Gerichtshof, in Ihr Urteil vom 16. Februar dieses Jahres aufgenommen haben:

Es wäre im Hinblick auf die Bewahrung des demokratischen Rechtsstaates, den das Grundgesetz verfaßt hat, ein unverantwortliches Unterfangen, verfassungsmäßige Verfahren mit der Behauptung abzuwerten oder auszuhöhlen, sie erforderten daneben weitere Legitimationen. Nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität.

Die letzte Entscheidung aber darüber, ob ein Verfahren den Maßstäben des Grundgesetzes standhält, obliegt im Streitfall allein dem Bundesverfassungsgericht, und niemandem sonst.

Auch die Bundesregierung blieb dabei - unabhängig von ihrer Zusammensetzung - von Kritik nicht ausgenommen. Doch sie weiß um die überragende Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für Klarheit und Rechtsfrieden.

Deshalb möchte ich zugleich für die Bundesregierung meinen Dank aussprechen für die Verdienste des Gerichts um die Festigung unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaats.

Dieser Dank gilt zuallererst den Richtern persönlich. Haltung und Stil dieses Gerichts und seiner Richterpersönlichkeiten prägen sehr wesentlich unseren Rechtsstaat. Sie sind gelebtes Beispiel für die Würde des Rechts und für die Autorität des Rechtsstaates, die das Selbstverständnis und das öffentliche Wirken unserer Justiz bestimmen.

Der Arbeitsalltag der Gerichte ist gekennzeichnet durch eine schwere und weiter wachsende Belastung. Hier nähert sich auch das Bundesverfassungsgericht den Grenzen der Rechtsgewährung. Umkehr ist dringend geboten.

Es ist wahr, daß unser Staat viel für die Menschen leistet - für ihre materielle und soziale Sicherheit. Aber Betreuung und Versorgung gehen vielen Bürgern längst zu weit.

Konrad Adenauer hat für das Verhältnis von Bürgern und Staat treffende Worte gefunden:

"Nach meiner Auffassung muß die Person dem Dasein und dem Range nach vor dem Staat stehen. An ihrer Würde, Freiheit und Selbständigkeit findet die Macht des Staates sowohl ihre Grenze wie ihre Orientierung."

Diese Überzeugung, so denke ich, zählt auch mit zu den Leitlinien für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Ihnen, Herr Präsident Benda, danke ich auch im Namen der Bundesregierung für Ihre verantwortungsvolle und erfolgreiche Arbeit, die Sie als Präsident des Bundesverfassungsgerichts geleistet haben. Als Sie dieses Amt am 8. Dezember 1971 übernahmen, haben Sie die folgenden Eigenschaften bezeichnet, die der Präsident des Bundesverfassungsgerichts in einem besonderen Maße besitzen müsse: ein hohes Maß an Geduld, Einfühlungsvermögen, Toleranz und Verständigungsbereitschaft.

Heute, am Ende Ihrer Amtszeit, bestätige ich Ihnen gerne: Jedermann konnte sich davon überzeugen, daß Ihr Wirken durch diese Eigenschaften geprägt wurde.

Mein Dank und meine Anerkennung gilt auch den heute ausscheidenden Richtern, Herrn Wand und Herrn Dr. Rottmann, die in schwieriger Zeit wesentlich zur Rechtsprechung des Gerichts beigetragen haben.

Meine besonderen Glückwünsche spreche ich Ihnen, Herr Präsident Zeidler, aus. Sie übernehmen heute das Amt des Präsidenten des Gerichts, für das Sie ausgezeichnete Voraussetzungen mitbringen.

In meine Glückwünsche schließe ich den neuen Vizepräsidenten, Herrn Professor Herzog, sowie die neuen Richter, Herrn Professor Klein und Herrn Professor Böckenförde, ein.

Ich wünsche Ihnen für die große Aufgabe Klugheit, Kraft und Gottes Segen.

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 307-311.