21. April 1985

Ansprache in Bergen-Belsen zum 40. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen aus den Konzentrationslagern

 

„Erde, verdecke nicht ihr Blut." Dieses Wort nach Buch Hiob, Inschrift auf dem jüdischen Mahnmal, hat uns heute hier zusammengerufen: Zur Trauer, zur mahnenden Erinnerung und zur Versöhnung.

Wir sind hier versammelt im Gedenken an die vielen unschuldigen Menschen, die in Bergen-Belsen - wie in vielen anderen Lagern -gequält, gedemütigt und in den Tod getrieben wurden. Die Mahnung dieses Ortes darf nicht verlorengehen, darf nicht vergessen werden. Sie fordert Konsequenzen für die geistigen Grundlagen unserer Politik. Sie ist ein Anruf an jeden einzelnen, angesichts des hier erduldeten Leidens sein eigenes Leben, sein eigenes Denken immer wieder zu überprüfen.

Versöhnung mit den Hinterbliebenen und den Nachkommen der Opfer ist nur möglich, wenn wir unsere Geschichte annehmen, so wie sie wirklich war, wenn wir uns als Deutsche bekennen: zu unserer Scham, zu unserer Verantwortung vor der Geschichte. Und wenn wir gemeinsam die Notwendigkeit erkennen, allen Bestrebungen entgegenzutreten, die die Freiheit und die Würde des Menschen mit Füßen treten.

Zwölf Jahre lang war das Licht der Menschlichkeit in Deutschland und, in einem Teil der Jahre, in Europa von allgegenwärtiger Gewalt verdeckt. Das nationalsozialistische Deutschland versetzte die Welt in Angst und Schrecken. Diese Zeit des Mordens, ja des Völkermordes ist das dunkelste, das schmerzlichste Kapitel in der deutschen Geschichte. Es gehört zu den vordringlichen Aufgaben unseres Landes, Wissen darüber zu vermitteln und das Bewusstsein für das ganze Ausmaß, für die Dimension dieser geschichtlichen Erfahrung und Last wach zu halten. Die Verbrechen der Hitler-Barbarei, die Verhöhnung, ja die Zerstörung aller sittlichen Normen, die systematische Unmenschlichkeit der NS-Diktatur - wir dürfen und wir wollen sie niemals vergessen.

Ein Volk, das sich von seiner Geschichte abwendet, gibt sich auf. Die Gegenwart der Geschichte bezeugen ganz besonders eindringlich die Überlebenden von Bergen-Belsen, die auf Einladung des Zentralrats der Juden in Deutschland heute mit uns zusammen hier sind. Wir erinnern uns vor allem an die Verfolgung und die Ermordung der Juden, an jenen erbarmungslosen Krieg, den der Mensch im Grunde sich selbst erklärt hat. Bergen-Belsen, ein Ort mitten in Deutschland, bleibt ein Kainsmal, eingebrannt in die Erinnerung unseres Volkes wie: Auschwitz und Treblinka, wie Belzec und Sobibor, Kulmhof und Majdanek und die vielen anderen Stätten eines wahnhaften Vernichtungswillens. Sie sind Inbegriff für das, was der Mensch in Hass und Verblendung Mitmenschen zufügen kann.

Wir wissen nicht ganz genau, wie viele Menschen hier in Bergen-Belsen ihr Leben verloren. Es sind weit über 50.000. Doch was sagt diese Zahl schon darüber, wie der Tod jeden einzelnen traf, seine Nächsten, seine Familie, seine Freunde? Stellvertretend für sie alle nenne ich Anne Frank. Sie war fünfzehn Jahre alt, als sie hier wenige Tage vor der Befreiung dieses Lagers den Tod fand. Wir wissen nicht genau, wie ihr Leben ausgelöscht wurde. Wir wissen aber, was die Menschen hier erwartete, wie sie misshandelt wurden, welche Qualen sie erlitten. Ihr Leben, ihre menschliche Würde war der Willkür ihrer Peiniger schutzlos ausgeliefert. Trotz der eigenen großen Not fanden viele Häftlinge die Kraft, anderen beizustehen, sich dem Nächsten zuzuwenden und ihm Trost und Zuspruch zu schenken.

Ein altes jüdisches Wort lautet: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt." Wenige bekannte und viele unbekannte Häftlinge haben damals Mitmenschen Kraft gegeben inmitten all der Qualen, die sie erleiden mussten. Und wir erinnern uns auch voll Dankbarkeit an mutige Menschen, die im Lebensalltag der Diktatur Verfolgten Zuflucht boten und oft genug dabei ihr eigenes Leben riskierten. Sie alle haben dazu beigetragen, unser Bild des Menschen als Ebenbild Gottes in der Welt zu retten.

Vor vierzig Jahren wurde Bergen-Belsen befreit. Aber für Tausende von Menschen in diesem Lager kam die Hilfe zu spät: Zu ausgezehrt waren ihre Körper, zu stark ihre Erschöpfung, zu tief verletzt ihre Seele. Die Menschenverachtung der Nationalsozialisten hat sich nicht allein in den Konzentrationslagern bewiesen. Sie war so allgegenwärtig, wie die Diktatur totalitär. Gewalt herrschte überall, und überall wurden Menschen überwacht, verfolgt und verschleppt, eingekerkert, gefoltert und ermordet. Bürger aus allen Schichten unseres Volkes, Menschen vieler Nationalitäten, jeden Glaubens, jeden Bekenntnisses, jeder Weltanschauung und mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen.

Von Anfang an zielte der Terror des totalitären Regimes ganz besonders gegen die Juden. Neid und primitive Vorurteile - in Jahrhunderten gewachsen - steigerten sich zu einer Ideologie des Rassenwahns. Wohin das führte - an den Massengräbern vor unseren Augen können wir es sehen. Wir haben - auch vierzig Jahre danach - die Pflicht, uns selbst zu fragen, wie es geschehen konnte, dass eine Kultur zerbrach, an deren Entwicklung und Reife gerade deutsche Juden in so hervorragender Weise beteiligt waren. Viele von ihnen haben sich sehr bewusst als deutsche Patrioten bekannt. Sie waren weltweit Zeugen, sie waren Botschafter deutschen und abendländischen Geistes. Sie wurden, als der Ungeist in Deutschland die Macht übernahm, entrechtet und verjagt. Sie wurden parteioffiziell zu „Untermenschen" erklärt und zur „Endlösung" verurteilt.

Das sind NS-Begriffe deutscher Sprache geworden. In der Sprache Goethes und Lessings, von Immanuel Kant und Edmund Husserl, in der Sprache von Dietrich Bonhoeffer und Leo Baeck. Ein menschenverachtendes System hat auch unserer Muttersprache Gewalt angetan. Doch zuvor hatte das Regime den Geist vergiftet. Die Machthaber waren Knechte der Gesetzlosigkeit. Mit ihrer Arroganz der Macht und der Maßlosigkeit ihrer Ansprüche haben sie das Volk geblendet und einen ganzen Kontinent ins Unglück gestürzt.

Tiefste Ursache für dieses Werk der Zerstörung war ein sich beschleunigender Verfall der Werte und der Moral. Und im letzten setzte der totalitäre Unrechtsstaat den Abfall von Gott voraus. Die heuchlerische Berufung der Machthaber des Regimes auf die „göttliche Vorsehung" diente allein der Vertuschung eigener Willkür. Sie war und sie bleibt in Wahrheit die schlimmste Perversion religiösen Glaubens: ein Hohn auf den lebendigen Gott, wie ihn die großen Religionen der Welt bezeugen.

Die Mahnung, um derentwillen wir auch dieses dunkelste Kapitel unserer Geschichte stets gegenwärtig halten müssen, folgt nicht aus der Frage, weshalb jenen der Erfolg versagt blieb, die im Widerstand gegen den Terror ihr Leben wagten. Die entscheidende Frage ist vielmehr, weshalb so viele Menschen gleichgültig blieben, nicht hinhörten, nichts wahrhaben wollten, als die späteren Gewaltherrscher für ihr menschenverachtendes Programm zuerst noch in den Hinterzimmern und dann auf Straßen und Plätzen warben. Was die Nationalsozialisten vorhatten, zeigte sich nicht erst am 9. November 1938, als 35.000 jüdische Mitbürger in Konzentrationslager verschleppt wurden.

Wir fragen uns heute, warum es nicht möglich war, Einhalt zu gebieten, als die Zeichen der nationalsozialistischen Tyrannei nicht mehr übersehen werden konnten. Als man Bücher verbrannte, die wir zu den großen Kulturgütern unseres Jahrhunderts zählen. Als man Synagogen in Brand steckte. Als man jüdische Geschäfte demolierte. Als man jüdischen Mitbürgern verwehrte, auf Parkbänken Platz zu nehmen. Das waren Mahnzeichen. Auch wenn sich Auschwitz menschlicher Vorstellungskraft entzog: Die gewissenlose Brutalität der Nazis war offen erkennbar.

Hans Asmussen hatte auf der Barmer Bekenntnissynode 1934 hellsichtig vor den Absichten der neuen Machthaber gewarnt. Er sagte: „Sie bieten sich an als Erlöser, aber sie erweisen sich als Folterknechte einer unerlösten Welt." Wie wahr, wie bitter wahr dieses Wort war, erkennen wir heute. Millionen Juden fielen dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer. Das Grauen dieser Taten steht heute noch mitten unter uns. Angesichts solcher Abgründe möchte man mit Augustinus sagen: „Ich bin mir selbst zum Lande der Mühsal geworden."

Unschuldige Opfer - wie die Juden - wurden auch viele andere Verfolgte. Wir können und wir wollen die Asche der Ermordeten nicht trennen. So wollen wir auch dieser Toten hier gedenken. Der Rassenwahn der Nationalsozialisten richtete sich auch gegen die Zigeuner. In den Massengräbern vor unseren Augen ruhen ungezählte Sinti und Roma. „Durch ihren gewaltsamen Tod" - so heißt es auf der Inschriftenwand hier in Bergen-Belsen - „sind sie den Lebenden Mahnung zum Widerstand gegen das Unrecht." Wir trauern um all jene, die unter dem totalitären Regime für ihre Standhaftigkeit im Glauben ihr Leben verloren - unter ihnen auch viele, die aus religiöser Überzeugung den Kriegsdienst verweigerten.

Der totalitäre Staat wähnt sich im Besitz absoluter Wahrheit, er meint immer allein zu wissen, was gut und was böse ist. Er kennt keinen Respekt vor dem Gewissen des einzelnen. Er will nicht nur die vorletzten Fragen -die der Politik - in seinem Sinne beantwortet wissen, sondern auch die letzten: die Frage nach dem Sinn und dem Wert unseres Lebens. Nur so konnte auch der teuflische Gedanke von einem lebensunwerten Leben Staatsdogma werden. Nur so konnten Mengele und andere ihre grausamen Versuche mit leidenden Menschen veranstalten.

Wir erinnern uns an die Verfolgung der geistig Behinderten, der Menschen, die als asozial gebrandmarkt wurden, und der vielen anderen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen umgebracht wurden - manche allein deshalb, weil sie am sogenannten „Endsieg" zweifelten.

Als das Lager Bergen-Belsen errichtet wurde, da brachte man hierher zunächst russische Kriegsgefangene. Wie sie untergebracht und behandelt wurden, geriet für die Gefangenen zur Tortur. Über 50.000 starben allein hier im Räume um Bergen. Auch daran müssen wir uns heute und ständig erinnern: Von den insgesamt fast sechs Millionen sowjetischen Soldaten, die in Gefangenschaft gerieten, überlebten weit weniger als die Hälfte. Und so besinnen wir uns in dieser Stunde auch auf das Leid, das den Völkern Mittel- und Osteuropas in deutschem Namen zugefügt wurde. Wir gedenken der Kriegstoten der Sowjetunion. Und wir erinnern uns an die Verbrechen am polnischen Volk.

Und wir trauern ebenso um die Menschen, denen das Unrecht der Nazis mit neuem Unrecht vergolten wurde, die als Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben wurden und auf der Flucht den Tod fanden. Aber wir hatten nichts, aber auch gar nichts aus der Geschichte gelernt, wenn wir Grausamkeiten gegeneinander aufrechnen wollten. Für die Untaten der NS-Gewaltherrschaft trägt Deutschland die Verantwortung vor der Geschichte. Diese Verantwortung äußert sich auch in nie verjährender Scham. Wir werden nicht zulassen, dass etwas verfälscht oder verharmlost wird. Gerade die Kenntnis der schuldhaften Verstrickung, der Gewissenlosigkeit, auch der Feigheit und des Versagens kann uns in den Stand setzen, die Anfänge des Verderbens zu erkennen und ihnen zu widerstehen. Denn Totalitarismus, wie er sich in Deutschland nach dem 30.Januar 1933 durchsetzen konnte, das ist keine unwiederholbare Entgleisung, kein „Unfall der Geschichte".

Wachsamkeit und Sensibilität sind vor allem gegenüber jenen Einstellungen und Haltungen geboten, die totalitärer Herrschaft den Weg bereiten können: der Gläubigkeit gegenüber Ideologien, die vorgeben, das Ziel der Geschichte zu kennen, die das Paradies auf Erden versprechen; dem Verzicht auf den Gebrauch verantworteter Freiheit; der Gleichgültigkeit gegenüber Verletzungen der Menschenwürde, der Menschenrechte und des Friedensgebotes. Friede beginnt mit der Achtung der unbedingten und absoluten Würde des einzelnen Menschen in allen Bereichen seines Lebens. Das Leiden und der Tod der Menschen, die Opfer der Unmenschlichkeit wurden, mahnen uns: den Frieden und die Freiheit zu bewahren, dem Recht und der Gerechtigkeit zu dienen, das Maß des Menschen zu erkennen und in Demut vor Gott unseren Weg zu gehen.

Was Konrad Adenauer im Februar 1960 hier an dieser Stelle sagte, war und bleibt gültig. Ich zitiere: „Ich glaube, wir können keinen besseren Ort . . . wählen als diesen ... in dem Gelöbnis, alles dafür zu tun, dass jeder Mensch - gleichgültig, welchem Volk, welcher Nation, welcher Rasse er angehört - auf der Erde in Zukunft Recht, Sicherheit und Freiheit genießt."

Der Zusammenbruch der NS-Diktatur am 8. Mai 1945 wurde für die Deutschen ein Tag der Befreiung. Nicht allen aber verhieß er, wie es sich rasch erwies, neue Freiheit. Wir - im freien Teil unseres Vaterlandes, in der Bundesrepublik Deutschland - haben uns nach den Erfahrungen in der Hitler-Diktatur darauf festgelegt, dass der einzelne Mensch gerade in den zentralen Fragen der Politik über und für sich selbst bestimmen muss.

Wir haben diese freiheitliche Republik gegründet. Wir haben eine rechtsstaatliche Demokratie errichtet. Die Gründer unserer demokratischen Bundesrepublik Deutschland haben den Augenblick, von dem eben Werner Nachmann sprach, erkannt und genutzt. Weil sie die Kraft hatten, die Verantwortung der Geschichte anzunehmen, haben sie uns den Wert und die Würde verantworteter Freiheit zurück gewonnen. Und deshalb haben wir uns auch unwiderruflich an die Wertegemeinschaft der freiheitlichen Demokratien des Westens gebunden und mit ihnen dauerhaft verbündet. Das war nur deshalb möglich, weil uns diese Völker - und nicht zuletzt ehemalige KZ-Häftlinge und Angehörige von Opfern der NS-Diktatur - die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Viele dieser Völker haben den nationalsozialistischen Terror im eigenen Land ganz unmittelbar erfahren. Wie viel Hass war damals entstanden gegen jene, die gekommen waren, zu knechten und zu schinden - Hass, der sich dann letztlich gegen unser ganzes Volk richtete.

Wir im freien Teil Deutschlands wissen, wie viel es bedeutet, dass wir nach Auschwitz und Treblinka wieder als Partner in die freie Welt aufgenommen wurden. Aber das geschah nicht zuletzt auch in der berechtigten Erwartung, dass wir das, was im deutschen Namen den Völkern angetan wurde, nicht verleugnen werden. Zu dieser historischen Haftung bekennen wir uns auch heute, vierzig Jahre danach. Gerade deshalb, weil wir Deutsche diese dunkle Epoche unserer Geschichte nicht verdrängen dürfen, spreche ich hier vor Ihnen und zu allen meinen Mitbürgern in Deutschland als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben die Lektion der Geschichte, die Lektion der Erfahrung dieses Jahrhunderts gelernt. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen.

Unsere Aussöhnung und Freundschaft mit Frankreich ist ein Glück für Deutsche und Franzosen, für Europa und die Welt. Ein solches Werk des Friedens wollen wir auch mit unseren polnischen Nachbarn vollenden. Dass Versöhnung mit dem jüdischen Volk und dem Staate Israel möglich wurde, dass gerade unter jungen Menschen wieder Freundschaft wächst, würdigen wir mit Dankbarkeit und mit hohem Respekt für jene Männer und Frauen, die im Blick auf die Zukunft bereit waren, die Stärke des Hasses mit der Kraft der Menschlichkeit zu überwinden. Dankbar sind wir vor allem jenen herausragenden Vertretern des Volkes Israel wie Nahum Goldmann und David Ben Gurion. Dankbar auch Konrad Adenauer und all jenen Demokraten, die geholfen haben. Sie alle haben die Chance für diese Versöhnung gesucht.

Wiedergutmachung wurde geleistet, zur Sicherung einer Heimat für die Juden und als Hilfe für die Überlebenden des Holocaust. Aber heute wissen wir so gut wie damals: Leiden und Sterben, Schmerz und Tränen kann man nicht wiedergutmachen. Dafür gibt es nur gemeinsame Erinnerung, gemeinsame Trauer und den gemeinsamen Willen zum Miteinander in einer friedlicheren Welt. Nahum Goldmann erinnerte in seiner Gedenkrede am 9. November 1978 in der Großen Synagoge in Köln an die gegenseitige schöpferische Beeinflussung von Juden und Deutschen. Er sprach, und ich glaube zu Recht, von einem „großen und einzigartigen Epos". Dieses Miteinander - von Juden und Deutschen - hat eine lange, eine wechselvolle Geschichte. Sie ist noch wenig, zu wenig erforscht und vor allem viel zu wenigen bekannt.

Deshalb wollen wir die Errichtung eines „Archivs zur Erforschung der jüdischen Geschichte in Deutschland" fördern. Wir wollen im Rückblick auf die Geschichte die Perspektive deutsch-jüdischer Begegnung vermitteln. In vielen Jahrhunderten haben Juden zur Kultur und Geschichte Deutschlands entscheidende Beiträge geleistet. Und es bleibt ein historisches Verdienst, dass sich auch nach 1945 jüdische Mitbürger wieder bereit fanden, tatkräftig und mit ihrem moralischen Wort und Gewicht uns beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland zu helfen.

Auch diese Erinnerung wollen wir bewahren, um den Willen zur Gemeinschaft in einer besseren Zukunft zu stärken. Dafür ist es wichtig, der heranwachsenden Generation vor Augen zu fuhren, dass Toleranz, dass Aufgeschlossenheit für den Nächsten unersetzliche Tugenden sind, ohne die kein Staatswesen, auch nicht das unsere, gedeihen kann. Uns in diesem Wettstreit der Menschlichkeit zu üben ist die eindeutigste Antwort auf das Versagen in einer Epoche, die von Machtmissbrauch und Intoleranz bestimmt war.

In Yad Vashem hat sich mir das Wort eines jüdischen Mystikers aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts eingeprägt: „Das Vergessen wollen", so heißt es dort, „verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Eine Erinnerung, wie ich hoffe, im Sinne des Pascha. Und deshalb lautet die Mahnung hier in Bergen-Belsen zu Recht: „Erde, verdecke nicht ihr Blut."

Quelle: Bulletin, hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Nr. 41, 23. April 1985, S. 349-352.