21. Januar 1983

Rede im Hôtel des Monnaies in Paris anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages

 

Herr Präsident,
Herr Premierminister,
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich danke Ihnen, Herr Präsident, sehr herzlich für die Einladung, mit Ihnen heute in Paris den 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrags über die deutsch-französische Zusammenarbeit zu feiern.

Ich danke Ihnen sehr herzlich für die freundschaftliche, für die warmherzige Aufnahme, die meine Begleitung und ich heute bei Ihnen gefunden haben. Und ich danke Ihnen ganz besonders herzlich im Namen meiner Landsleute, der Bürger der Bundesrepublik Deutschland, für Ihren Besuch gestern bei uns in Bonn, für die große Rede, die Sie an die Deutschen vor unserem Parlament gehalten haben.

Wer dabei war im Saal als Mitglied des Deutschen Bundestags oder als einer der Gäste und wer diese Rede mitgehört hat - und das waren viele, viele Millionen - im Fernsehen, der weiß: das war ein historischer Tag. Die Stimme Frankreichs drang zu uns. Es war die Stimme der Freundschaft, es war die Stimme des Friedens, es war die Stimme der europäischen Gemeinsamkeit, und es war die Stimme des Optimismus, der Besinnung auf die Kraft dieses alten, ewig jungen Kontinents.

I.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wenn wir heute in Paris, wie gestern in Bonn, der 20jährigen Wiederkehr der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages durch Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer gedenken, so tun wir das vor allem deshalb, weil dieser Vertrag einen historischen Einschnitt in der Geschichte unserer beiden Länder und Völker markiert.

Dieser Freundschaftsvertrag beendet endgültig die historische Rivalität und Gegnerschaft unserer beiden Völker. Er befestigt die Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen und bekräftigt die gute Nachbarschaft und Freundschaft für die Zukunft.

Carlo Schmid, einer der Pioniere der deutsch-französischen Zusammenarbeit, sprach nicht ohne Grund in jenen Tagen von einer kopernikanischen Wende in den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich.

Der Vertrag hat gezeigt, daß Vernunft und Einsicht, zielstrebiges und geduldiges Wollen Rivalität und Feindschaft von gestern in Frieden und Versöhnung von heute umwandeln können.

Wir, die Franzosen und die Deutschen, haben eine lange, eine gemeinsame Geschichte. Und diese Geschichte bestand keineswegs immer nur aus Rivalität und kriegerischer Auseinandersetzung. Sie bot unseren Völkern die Chancen der geistigen Auseinandersetzung, des Austauschs.

In Philosophie, in Literatur, in Kunst und in Wissenschaft war Frankreich für Deutschland und Deutschland für Frankreich Quelle von Anregungen und tiefen Einflüssen.

Ich erinnere an die hier von Paris ausgehende Aufklärung, die gerade die Deutschen in besonderer Weise angezogen hat. Ich erinnere an die von Deutschland ausgehende romantische Bewegung in Literatur und Musik, die viele Franzosen in ihren Bann gezogen hat.

Diese Nachbarschaft des Geistes hat Kriege in der Vergangenheit nicht vermeiden können.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es den Völkern, aus der gemeinsamen Geschichte die Schlußfolgerung der Vernunft zu ziehen.

Nicht der Gegensatz, nur die Gemeinsamkeit der Deutschen und Franzosen bietet in Wahrheit unseren Völkern die Chance, dauerhaft das zu bewahren und fortzuentwickeln, woran uns vor allem liegt:

Die Idee von der Einzigartigkeit des Menschen, die im Begriff der Menschenwürde und in den unveräußerlichen Menschenrechten in politischen Prinzipien umgesetzt ist. In ihr verbinden sich in der abendländischen Tradition Christentum und Aufklärung zu einem gemeinsamen Strom durch die Geschichte, aus dem auch heute wir unsere Kraft schöpfen.

Daraus gewinnen Deutsche und Franzosen ihre Vorstellungen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit; für das Zusammenleben der Bürger in einer freien Gesellschaft; für die Entwicklung jener schöpferisch-dynamischen Kräfte, die in unseren Völkern in Europa angelegt sind.

Aus alldem ergibt sich für Franzosen wie Deutsche die unabweisbare Erkenntnis, daß Freiheit und Wohlfahrt des Nachbarn Voraussetzung der eigenen Freiheit und der eigenen Wohlfahrt ist.

Und das ist, auf einen knappen Nenner gebracht, der zentrale Gedanke, der dem deutsch-französischen Vertrag zugrunde liegt.

Charles de Gaulle und Konrad Adenauer beabsichtigten keineswegs, ihren Völkern und in der Welt mit dem Vertrag vorzuspiegeln, als ob deutsche und französische Interessen immer von vorneherein und ohne alles Zutun miteinander harmonierten. Ziel des Vertrages war und ist es vielmehr, alles zu tun, damit Gemeinsamkeit hergestellt und bekräftigt wird, wo immer dies möglich ist.

Gleichzeitig aber schuf dieser Vertrag die Möglichkeiten und die Voraussetzungen dafür, daß wir auch mit Unterschieden freundschaftlich miteinander leben können; daß solche Unterschiede neben- und miteinander bestehen können, ohne daß daraus Mißtrauen und Zwietracht entsteht, sondern daß wir die Chance des Unterschiedlichen nutzen zu Anregung und vielseitiger Befruchtung.

Wenn der Vertrag auch in erster Linie ein Werk für Deutsche und Franzosen ist, dazu bestimmt, ihre Beziehungen zueinander zu gestalten, so ist er doch nicht allein für sie gemacht. Er soll und er will uns nicht von anderen trennen.

Das Ziel eines handlungsfähigen und einigen Europas ist von Anfang an Kernstück der deutsch-französischen Aussöhnung gewesen. Wenn wir diesem Ziel nicht mehr dienen würden, würden wir den Grundgedanken dieses deutsch-französischen Vertrages aufgeben. Die deutsch-französische Zusammenarbeit nutzt uns, Franzosen und Deutschen. Und sie ist nützlich für Europa insgesamt, wie sie auch dem Bündnis der westlichen Demokratien nutzt.

Die im Elysée-Vertrag verfaßte deutsch-französische Freundschaft hat sich bewährt. Sie hat in diesen 20 Jahren unseren Ländern geholfen. Sie hat Deutschen und Franzosen geholfen, besser ihrer Verantwortung in Europa und für den Frieden in der Welt gerecht zu werden, besser auch jene Solidarität unter den Menschen zu fördern, die nicht an nationalen, an kulturellen und ideologischen Schranken haltmacht.

Dieser Vertrag ist heute - und diese Tage beweisen es - eine sehr lebendige Wirklichkeit. Sie, Herr Präsident, haben bei der letzten Konsultation in Bonn gesagt, daß wir uns sehr bewußt sind, daß „die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern ein wesentliches Element des Friedens sind, des Gleichgewichts, des Wohlergehens in unseren Ländern, Europas, ja zweifelsohne der ganzen Welt".

Wie die deutsch-französischen Beziehungen in den vergangenen Jahren gewachsen sind, wie sie sich entwickelt haben, wie sehr sie zu einer die Politik unserer beiden Länder bestimmenden Kraft geworden sind; das alles erfüllt uns mit Zuversicht.

Und diese Entwicklung, meine Damen und Herren, bestätigt auch das, was Konrad Adenauer vor 20 Jahren prophezeite, was eingetroffen ist. Er sagte: Der Vertrag ist auf lange Dauer bestimmt. Ich müßte heute hinzufügen: Dieser Vertrag ist ein Besitz der Generationen.

II.
Das war nicht selbstverständlich. Die deutsch-französische Aussöhnung war alles andere als selbstverständlich. Dies sage ich ganz bewußt als Angehöriger der Nachkriegsgeneration, die nicht mehr am Krieg teilgenommen hat.

Tief gingen die Wunden, welche die Naziherrschaft und der von ihr verursachte Krieg in Europa und auch in Ihrem Lande geschlagen hatte. Furchtbar und zerstörerisch haben die Ereignisse in das Leben der Völker eingegriffen, haben Trauer und Angst in die Familien gebracht, Freundschaften zerrissen, Menschen aus den Bahnen ihres Lebens geworfen, aus ihrer Heimat.

In Dankbarkeit und Hochachtung gedenken wir heute derer, die nach dem vergangenen Krieg die zwischen unseren beiden Völkern zerrissenen Fäden geduldig und zäh wieder geknüpft haben. Viele von ihnen sind heute noch unter uns.

Was Briand und Stresemann nach dem ersten europäischen Völkerkrieg ohne dauerhaften Erfolg versuchten, haben Robert Schuman, Jean Monnet, Pierre Mendès-France, Charles de Gaulle, Carlo Schmid, Theodor Heuss, Heinrich von Brentano und Konrad Adenauer nach dem zweiten Krieg mit Geduld und Phantasie geschafft: Deutsche und Franzosen miteinander zu versöhnen und der Welt ein Beispiel praktischer Friedenspolitik zu geben, die den Menschen Hoffnung gibt und in eine glückliche Zukunft weist.

Die Idee der deutsch-französischen Versöhnung als Fundament des europäischen Friedens war nicht neu.

Wie auch andere, hat der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, bereits nach dem ersten Krieg als Oberbürgermeister von Köln und als Präsident des deutschen Katholikentages immer wieder für den deutsch-französischen Ausgleich geworben.

Was wäre unseren Völkern in Europa erspart geblieben, wenn die Vorkämpfer dieser Idee auf beiden Seiten des Rheins in jenen Jahren hätten erfolgreicher sein können!

Umso mehr danken wir denen, die nach 1945 das Werk begonnen haben. Und, meine Damen und Herren, darunter waren viele, deren Namen nicht in den Schulbüchern stehen wird: Bürgermeister und Gewerkschaftler, Männer der Kirche und Unternehmer, Journalisten und Diplomaten - sie haben mit der Kraft ihres Herzens, mit dem Einsatz ihrer Möglichkeiten für die deutsch-französische Verständigung gearbeitet.

Lassen Sie mich einige wenige nennen, und ich bin glücklich, daß einige davon hier sind. Lassen Sie mich nennen, stellvertretend für andere, Emmanuel Mounier, Alfred Grosser, Joseph Rovan, Männer, die Pionierarbeit geleistet haben. Ich erinnere an den Père de Rivau und seine Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit, und an die, die in Deutschland dafür gearbeitet haben, an das deutsch-französische Institut in Ludwigsburg und viele andere.

Und hier gestatten Sie mir ein Wort sehr persönlicher Art:

Ich war 1945 fünfzehn Jahre alt, und so stehen mir die Ereignisse des Kriegsendes deutlich vor Augen. Zu den Erfahrungen meines Schülerlebens und meiner Studententage gehört es, daß es nicht zuletzt in der Militäradministration der französischen Besatzungszone ehemalige Résistance-Mitglieder waren, die sich zunächst und vor allem für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt haben. Wir haben in jenen Tagen viel Wegweisendes erfahren. Und als langjähriger Ministerpräsident des Bundeslandes Rheinland-Pfalz nenne ich hier bewußt zwei Initiativen jener Zeit:

Die Wiederbegründung der Universität Mainz, die in den Jahren der Besatzung erfolgt ist, und den Südwestfunk in Baden-Baden, dessen Programm Sie auch heute noch täglich hören können.

Als Konrad Adenauer und Charles de Gaulle im September 1958 zum ersten Mal zu einem langen politischen Gespräch in Colombey-les-deux-Églises sich trafen, ein Gespräch, das dann ihre persönliche Freundschaft begründete, da war schon viel Vorarbeit auf dem Wege der deutsch-französischen Beziehungen geleistet.

Die Zeit war reif zur Tat. Europa hatte sich aus den Trümmern des Krieges emporgearbeitet. Die Zusammenarbeit war auf den Weg gebracht worden. Das westliche Verteidigungsbündnis verbürgte Europas Sicherheit.

Charles de Gaulle hat diese Versöhnung mit seiner großen persönlichen, historischen Autorität in das Herz der Franzosen hineingetragen. Er und Konrad Adenauer haben bewirkt, daß aus persönlichen Freundschaften eine Freundschaft zwischen den Völkern werden konnte.

Dies hat Adenauer gemeint, als er sagte, der Vertrag ist ein Vertrag von Volk zu Volk.

Die meisten der heute hier Anwesenden können noch aus eigenem Erleben die ganze Bedeutung der Versöhnung ermessen, die der Vertrag zum Wohl unserer Völker nutzbar macht.

Die Mehrheit der Menschen heute, diesseits und jenseits des Rheins, ist nach jenen Tagen des Krieges geboren. Für diese junge Generation - und das ist die Gnade der späten Geburt - sind freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ganz selbstverständlich geworden.

Ich will es sehr persönlich sagen. Mein Vater stand im ersten Krieg als deutscher Soldat vor Verdun. Ich selbst hörte noch in der Schule von der Erbfeindschaft Deutschland-Frankreich. Unsere Kinder, unsere Söhne wissen nichts davon. Für sie ist das Geschichte wie die Perserzeit. Sie wachsen mitten in Europa auf.

Umso notwendiger ist es, daran zu erinnern, daß diese Freundschaft der steten, der täglichen Pflege bedarf. Dazu gehört ein waches Interesse für den Partner, für seine Sprache, seine kulturellen Leistungen, für die Entwicklung seines Landes.

Ich bin dankbar, meine Damen und Herren, daß heute hier viele sind, die eine ihrer wesentlichen Aufgaben in ihrer Arbeit darin sehen, dieses Interesse wachzuhalten, dafür zu sorgen, daß das Verständnis für den Partner und damit auch die Sympathie füreinander vertieft wird.

III.
Das stärkste Band für unsere Freundschaft ist die auf den Vertrag gegründete Zusammenarbeit.

Dieser Vertrag hat einen Schlußstrich gezogen gegenüber der Vergangenheit, aber er begründete Optimismus und Hoffnung für die Zukunft.

Präsident de Gaulle hat dies in Bonn in jenen Tagen gesagt: Gerade, so sagte er, weil unsere Welt so schwierig ist, können wir es bei Freundschaft nicht bewenden lassen. Aus Freundschaft muß Zusammenarbeit erwachsen.

20 Jahre des Bestehens des Vertrages haben gezeigt, daß Regierungen in beiden Ländern unabhängig von ihren parteipolitischen Ausrichtungen, daß Politiker verschiedenster Temperamente den Vertrag in gleicher Weise nutzen: zur intensiven Pflege guter Nachbarschaft, aber darüber hinaus zu immer mehr gemeinsamem politischen Handeln in Europa und in der Welt.

Diesem Ziel dienten alle Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland und alle meine Vorgänger im Amt des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Diesem Ziel dienten die Präsidenten der Französischen Republik und ihre Premierminister. In diesen zwei Jahrzehnten hat die deutsch-französische Zusammenarbeit an Intensität gewonnen, an einer Intensität, meine Damen und Herren, die eigentlich, wie Sie beim genauen Hinschauen entdecken werden, einzigartig ist zwischen souveränen Staaten.

Wir sind uns gegenseitig die wichtigsten Handelspartner, und jeder weiß, das bringt nicht nur immer Freude mit sich, sondern auch Probleme.

Unsere außenpolitische Abstimmung ist auf allen Ebenen außerordentlich dicht. Es gibt kaum eine internationale Konferenz politischer oder wirtschaftlicher Natur, vor der wir nicht gemeinsam, oft bis ins Detail, unsere Position besprechen und überprüfen.

Eng ist das Zusammenwirken in Forschung, Wissenschaft, in Fragen fortgeschrittener Technologien, aber auch im Bereich der Rüstungskooperation.

Sie haben auf diesen Zusammenhang, Herr Präsident, gestern im Bundestag ausdrücklich hingewiesen, Sie haben auch auf die Zukunft in diesem Zusammenhang hingewiesen. Ich nehme dieses Wort gerne auf. Wir sind auch auf diesem Felde für eine gemeinsame Zukunft und offen für gemeinsame Überlegungen.

Erst kürzlich haben unsere Regierungen mit der Vereinbarung eines regelmäßigen vertieften Meinungsaustauschs zu sicherheitspolitischen Fragen begonnen. Manch einer hat überrascht gefragt: Wieso das? Nun, meine Damen und Herren, dieser Teil des Vertrages ist eben erst nach 19 Jahren voll aktiviert worden.

Die Regierungen können Wege der Zusammenarbeit ebnen, können Beispiele und Anstöße geben. In diesem Sinne habe ich auch die Mitglieder der Bundesregierung aus Anlaß der letzten deutsch-französischen Konsultation in Bonn dazu aufgerufen, sich ganz praktisch in ihrer täglichen Arbeit, bei ihren sehr praktischen Entscheidungen von der Zielsetzung der deutsch-französischen Kooperation leiten zu lassen.

Aber, meine Damen und Herren, Regierungen kommen und gehen, die Völker bleiben. Wirklich ausgefüllt werden muß der Vertrag aber durch die Bürger unserer beiden Länder. Von ihnen wird es abhängen, wie dicht und fest, wie tragfähig die deutsch-französische Zusammenarbeit in Zukunft sein wird.

Mit Bedacht haben die Väter des Vertrages ein deutsch-französisches Jugendwerk zu einem Kernstück des Vertrags gemacht: junge Leute aus beiden Völkern sollten zusammengeführt werden. Und von dieser jungen Generation hängt entscheidend ab, was aus dem Vertrag, was aus der Freundschaft, was aus unserer gemeinsamen Zukunft wird.

Ich glaube, daß in diesem Feld besonders erfolgreich gearbeitet wurde. Viele, viele junge Leute in Frankreich wie in Deutschland lernten sich in diesen Jahrzehnten kennen, haben Sympathie füreinander, sind durch Freundschaften verbunden. Und sie haben eine wesentliche Gemeinsamkeit gefunden: Sie können sich überhaupt nicht mehr vorstellen, daß es diese deutsch-französische Freundschaft nicht gibt. Sie haben in ihrer Weise ganz selbstverständlich und praktisch die Lektion der Geschichte gelernt. Diese Lektion ist für sie Bestandteil ihres Denkens.

Und wenn Sie mich fragen, was ist der größte Erfolg in diesen zwei Jahrzehnten, so glaube ich, daß für die Jungen das, was geworden ist, heute so selbstverständlich ist.

IV.
Der Vertrag ist ein Werk für Deutsche und Franzosen. Für viele andere ist er ein Beispiel fruchtbarer Zusammenarbeit.

Der Vertrag ist aber mehr. Er ist ein wirksames Instrument, Politik des Friedens in Europa für Europa zu machen.

Damals wie heute sind wir aufgerufen, uns der historischen Herausforderung unserer Generation zu stellen, Europa zu einigen. Damals wie heute ist die Festigung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit im Bündnis, die Festigung der transatlantischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu Kanada, eine der für unsere Sicherheit wesentlichen Aufgaben. In den Ost-West-Beziehungen, in der Partnerschaft zu den Ländern der Dritten Welt können wir, wenn wir es wirklich bedenken, nur gemeinsam unser Gewicht in die Waagschale bringen und so sicherstellen, daß wir unsere freiheitlichen Lebensbedingungen erhalten können.

Winston Churchill hatte in seiner historischen Rede am 19. September 1946 die Erneuerung der europäischen Familie gefordert. Allein schon die Wahl der Begriffe, die Erneuerung der europäischen Familie, macht deutlich, was uns bindet, ihr Neuaufbau unter einer Ordnung, in der sie in Freiheit, Sicherheit und Frieden leben kann. Und er hat damals hinzugefügt: Der erste Schritt einer Neubildung der europäischen Familien muß ein Zusammengehen zwischen Deutschen und Franzosen sein.

Und Charles de Gaulle und Konrad Adenauer hatten in der Erklärung nach ihrem ersten Zusammentreffen in Colombey-les-deux-Églises gesagt: „Wir sind der Überzeugung, daß die enge Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik die Grundlage jedes konstruktiven Aufbaus in Europa ist. Sie trägt zugleich zur Stärkung des Atlantischen Bündnisses bei und ist unentbehrlich."

Damals waren dennoch bei Abschluß des Vertrags kritische Stimmen zu hören. Sie kamen nicht zuletzt aus dem Kreis unserer engsten Partner in der Gemeinschaft.

Die Kritik ist seit langem verstummt. Entgegen manch anfänglichen Mißverständnissen hat sich die deutsch-französische Kooperation fest in das Geflecht der europäischen und der atlantischen Zusammenarbeit eingefügt.

Der Elysée-Vertrag hat darüber hinaus kräftige Impulse für die europäische Einigung und für die Zusammenarbeit gegeben. Die Geschichte des Vertrages seit 1963 hat gezeigt, daß ein Zusammengehen von Deutschland und Frankreich nicht nur der erste Schritt auf dem Weg der europäischen Zusammenarbeit war, sondern daß dies eine notwendige Bindung von Dauer für eine funktionsfähige Gemeinschaft ist. Der Europäische Rat, das Europäische Währungssystem, die Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaft mit Ländern der Dritten Welt - das alles sind auch Früchte dieser Zusammenarbeit.

Vor allem aber: Wir haben gesehen, daß wir uns im letzten Viertel dieses vom Krieg erfüllten 20. Jahrhunderts einen Streit der Denkschulen in Europa nicht leisten können, ohne die europäische Einigung zu gefährden.

Unter erschwerten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in der Welt sind eben besondere Anstrengungen nötig, um unsere Erwartungen an die Zukunft zu erfüllen.

Auch dabei muß sich unsere Zusammenarbeit bewähren.

V.
Wenn wir in diesen Tagen mit Dankbarkeit und Respekt auf das schauen, was in jener Zeit mit Weitsicht auf den Weg gebracht wurde, so stellen wir uns der Verpflichtung, dem Auftrag des Vertrages auch für die Zukunft gerecht zu werden.

Das kann nur heißen, daß wir, die Franzosen und die Deutschen, uns mit aller Nüchternheit und mit Vernunft, aber mit aller Kraft den konkreten Fragen unserer Zeit stellen.

Nur dann können wir mit ebenso großer Überzeugung wie in jener Zeit Charles de Gaulle in Ludwigsburg der Jugend unserer beiden Länder zurufen, wie er sagte: Ich beglückwünsche Sie, die junge Generation unserer Zeit zu sein. Es ist nicht wahr, meine Damen und Herren, daß die Jugend von heute das Thema „keine Zukunft" auf ihre Fahnen geschrieben hat. Sie verlangt auch nicht von uns, daß wir ihr eine heile Welt übergeben oder bewahren, die es nie gab, eine Welt ohne Konflikte und Probleme. Wohl aber verlangt sie von uns - und sie tut das mit Recht -, daß wir dazu beitragen, eine Welt zu schaffen, in der es sich zu leben, in der es sich zu arbeiten lohnt; in der freie Menschen ihr Glück finden können, eine Welt, in der die Probleme nicht fatalistisch hingenommen werden, sondern in der die Menschen fähig sind, die Herausforderungen zu beantworten, eine Welt mit Hoffnung, in der die Chancen, sie friedlicher zu machen, nicht vergeben, sondern täglich genutzt werden.

Was heißt dies ganz konkret für uns heute?

a) Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche bedrücken unsere Volkswirtschaften.

Wir wissen, es gibt hier keinen einfachen Ausweg und schon gar kein Patentrezept.

Wir müssen zunächst, jeder für sich selbst zunächst, den steilen, schweren Weg der Strukturanpassung und der Stärkung unserer Volkswirtschaften gehen. Um es salopp zu sagen: Wir müssen unsere Hausaufgaben selbst machen.

Wir wissen: Wir sitzen alle im gleichen Boot, und wir wollen uns deshalb keine Vorteile auf Kosten des anderen verschaffen. Wir wissen auch, daß die Europäische Gemeinschaft uns die eigene Last zu Hause nicht abnehmen kann. Sie kann helfen in manchen Bereichen - wir sprachen auf der letzten Sitzung des Rats in Kopenhagen darüber -, zum Beispiel bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.

Ich begrüße auch, daß das Deutsch-Französische Jugendwerk sich dieses Themas besonders annehmen will. Ich will das Jugendwerk ganz besonders auf diesem Weg ermutigen.

Gerade in einer schwierigen Wirtschaftslage, meine Damen und Herren, ist es notwendig, unseren Binnenmarkt - auf allen Seiten - von Beschränkungen freizuhalten.

Der internationale Handel muß seine Aufgaben bei der Wiederbelebung der Weltwirtschaft, bei der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrien und bei der Schaffung sicherer, dauerhafter Arbeitsplätze erfüllen können. Dies setzt voraus, daß sich alle Beteiligten am Welthandel einer fairen Konkurrenz auf ihren eigenen Märkten stellen. Wir werden diese Forderung auch außerhalb Europas unseren Partnern mit Entschiedenheit immer wieder nahebringen.

Angesichts der Erwartungen, die unsere Völker an ihre Regierungen richten, steht die deutsch-französische Zusammenarbeit, steht die Europäische Gemeinschaft in dieser Frage auch für Europa in einer besonderen Verantwortung. Wir sollten dazu unseren Beitrag leisten und die Chancen zu einer noch intensiveren Zusammenarbeit nutzen, auch dadurch, daß wir unsere Stimme mit erheben, wenn möglich gemeinsam, etwa auf dem Wirtschaftsgipfel der großen Industrieländer im Jahre 1983.

b) Wir müssen die Chancen, die neue Technologien und die Entwicklung von Forschung und Wissenschaft uns bieten, nutzen.

Präsident Mitterrand hat im Verlauf des Jahres 1982 bei verschiedener Gelegenheit hervorgehoben, wie sehr ihm und der französischen Regierung an der Entwicklung von Forschung und Technologie liegt, um Wachstum zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen.

Ich stimme völlig mit ihm überein. Ich habe dies in meiner ersten Regierungserklärung am 13. Oktober vor dem Deutschen Bundestag deutlich gesagt.

Die gemeinsame Gründung des Max von Laue- und Paul Langevin-Instituts in Grenoble zum gemeinsamen Betrieb eines Höchstflußreaktors, der Fernmeldesatellit „Symphonie", die Zusammenarbeit bei den fortgeschrittenen Reaktorlinien, die gemeinsame Entwicklung eines deutsch-französischen Rundfunk- und Fernsehsatelliten sind Marksteine der deutsch-französischen Zusammenarbeit in diesem Bereich.

Und es sind nicht nur Marksteine, es ist eine erste Position, die wir weiterentwickeln können und - ich füge hier hinzu als deutscher Bundeskanzler - weiterentwickeln wollen.

Ich denke dabei auch an einen engeren Austausch bei der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, auch bei den Sozialwissenschaften.

Wir haben beschlossen, die Möglichkeit der Zusammenarbeit bei Rüstungsprojekten schon in einem sehr frühen Zeitpunkt und einem frühen Stadium zu prüfen. Unser Ziel muß es sein, meine Damen und Herren, einheitliche Konzeptionen zu erarbeiten und damit die Aussichten nicht nur für eine deutsch-französische, für eine europäische Kooperation zu verbessern.

c) Ohne Vorbehalt, Herr Präsident, stimme ich Ihnen zu, wenn Sie bei der letzten Konsultation in Bonn gesagt haben: „Wenn Europa sich nicht eine stärkere politische Basis verschafft, (...) so wird das Gewicht der Interessen bald das Gewebe Europas zerreißen."

Wir wissen es ganz genau, meine Damen und Herren, nur eine handlungsfähige Gemeinschaft erlaubt es uns, selbstbewußt, wirksam und mit Festigkeit zu einer Politik des Friedens und des Dialogs in Europa und in der Welt beizutragen.

Kompromisse in der Gemeinschaft sind angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in allen Ländern der Gemeinschaft wahrlich nicht immer leicht zu finden. Und es ist heute schwieriger als vor 20 Jahren, so glaube ich.

Deshalb ist es wichtig, das Bewußtsein davon zu stärken, was uns in der Gemeinschaft wirklich zusammenhält: die Gemeinsamkeit der Werte und der Interessen, die Gemeinsamkeit unserer Lebensformen, unserer Vorstellungen vom Menschen.

Die Staaten Westeuropas müssen auch ihre Chancen und Möglichkeiten für konstruktivere Ost-West-Beziehungen nutzen und Risiken wie Ungewißheiten gemeinsam begegnen. Auch dafür ist die deutsch-französische Zusammenarbeit wichtig.

d) Der Auftrag des Elysée-Vertrages zu einer engeren sicherheits- und verteidigungspolitischen Abstimmung zwischen den Vertragspartnern ist in der gegenwärtigen internationalen Lage aktueller denn je. Wir haben bewußt nach 20 Jahren diesen Auftrag aufgenommen.

Wenn auch die Lage unserer beiden Länder in Bezug auf Verteidigungsprobleme verschieden ist, so sind wir doch beide Partner im Bündnis. Wir haben beide die gleichen Besorgnisse um unsere Sicherheit; die gleiche Einschätzung, daß die sowjetische Aufrüstung das Gleichgewicht der militärischen Kräfte stört, den Frieden unsicherer macht und daher korrigiert werden muß - am besten, indem beide Seiten auf eine ganze Waffenkategorie verzichten.

Der zwischen unseren beiden Regierungen vereinbarte, regelmäßige, vertiefte Meinungsaustausch zu sicherheitspolitischen Fragen ist ein notwendiger, längst fälliger Bestandteil der Zusammenarbeit zwischen Nachbarn. Wir werden diesen Meinungsaustausch so führen, daß er unseren beiden Ländern nützt und der Sicherheit der Völker.

In diesem Zusammenhang möchte ich hier in Paris auch ein klares Wort sagen in manche Unsicherheit unserer Tage hinein.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland ist und bleibt ein zuverlässiger und berechenbarer Partner in der Europäischen Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis.

Wir verstehen uns nicht als Mittler zwischen West und Ost. Wir werden keinen Weg gehen und nicht zulassen, der uns aus der Freundschaft des Westens löst und in die Abhängigkeit, in die Hegemonie des Ostens führt. Wir werden keine Verständigung mit der Sowjetunion suchen, die zu Lasten unserer Freundschaft und der Partnerschaft mit unseren Bündnispartnern, die zu Lasten unserer Freunde in den Vereinigten Staaten oder unserer Freunde in Frankreich geht.

Die feste Verankerung, der Standort der Bundesrepublik Deutschland im Westen ist unverzichtbare Grundlage für eine Politik der Entspannung, der Verständigung und der von uns von Herzen gewünschten Zusammenarbeit mit den Völkern in Mittel- und Osteuropa.

Um es noch einmal ganz knapp zu formulieren: Wir, die Deutschen im freien Teil unseres Vaterlandes, in der Bundesrepublik Deutschland, wir sind keine Wanderer zwischen den Welten. Unser Platz ist an der Seite unserer Freunde in der NATO, in der Europäischen Gemeinschaft, unser Platz ist an der Seite unserer französischen Freunde.

VI.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die deutsch-französische Zusammenarbeit ist Wirklichkeit. Sie ist ein beachtliches und gewichtiges, ein zentrales Stück unseres politischen, unseres wirtschaftlichen, unseres kulturellen Lebens geworden. Ich möchte weitergehen und sagen, sie ist für viele von uns, nicht zuletzt aus meiner Generation, Teil des persönlichen Lebens geworden. Wir wollen alles tun, um diese Zusammenarbeit zu fördern.

Hier kommt es vor allem darauf an, der jungen Generation die Chancen zu geben, wie etwa bei einer Vertiefung des Sprachunterrichts in unseren beiden Ländern, bei der Förderung des Zugangs zu den Universitäten in beiden Ländern, bei der Förderung von Verständnis für Geschichte und Kultur des anderen Landes.

Sehr zu Recht ist hiervon im Elysée-Vertrag ausführlich die Rede. Denn hier liegen die Wurzeln für ein künftig noch engeres deutsch-französisches Zusammenwirken.

Meine Damen und Herren, ich sage, liebe Freunde, es geht nicht darum, möglichst viele Experten über das andere Land heranzuziehen, es geht darum, bei möglichst vielen unserer Bürger die Voraussetzung dafür zu stärken, daß sie miterleben, ja mitfühlen können, daß sie Interesse dafür entwickeln können, was beim Nachbarn, in Deutschland, in Frankreich, vor sich geht.

Nur durch ein vertieftes Verständnis des anderen kann deutsch-französische Solidarität von Bürger zu Bürger, von Volk zu Volk, dauerhaft werden, auch das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, die in das andere Land hinein- und hinüberreicht.

Nur diese sehr persönliche Erfahrung der Begegnung mit den Nachbarn wird uns in Wahrheit befähigen, über den Nationalstaat einer vergangenen Zeit morgen Bürger eines politisch geeinten Europas zu sein.

Der Elysée-Vertrag hat Deutschen und Franzosen die Chance geboten, dem vielleicht wichtigsten Wort und schönsten Wort der französischen Revolution einen neuen, grenzüberschreitenden Sinn zu geben: Brüderlichkeit.

Ich wünsche mir, ich wünsche uns allen, daß es uns gelingt, auf unserem alten Kontinent ein Europa der Brüderlichkeit zu verwirklichen, und daß wir, die Deutschen und die Franzosen, zu unserer Zeit dazu unseren Beitrag leisten.

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 87-104.