21. Januar 1997

Ansprache anlässlich der Unterzeichnung der Deutsch-Tschechischen Erklärung im Liechtenstein-Palais in Prag

 

Herr Ministerpräsident,

Exzellenzen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

kurz vor dem Ende unseres Jahrhunderts und mehr als 50 Jahre nach dem Krieg ist die Gemeinsame Erklärung, die wir soeben unterzeichnet haben, für unsere beiden Völker ein großer Schritt nach vorn.

Wir wollen unser Verhältnis zueinander im Geist guter Nachbarschaft und des friedlichen Miteinanders in Europa weiterentwickeln. Wir können die Gegenwart nur verstehen und die Zukunft nur gestalten, wenn wir uns gemeinsam der Vergangenheit stellen.

Wir Deutschen wissen um das schwere Unrecht, daß das nationalsozialistische Deutschland den Tschechen zugefügt hat. Und wir bekennen uns zu unserer historischen Verantwortung.

Deutsche und Tschechen haben die menschliche Pflicht, all derer zu gedenken, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Opfer von Nationalitätenkampf, Okkupation, Rassenwahn, Krieg und Vertreibung geworden sind. Die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge haben einen Anspruch darauf, daß wir vor der Tragik ihres Schicksals nicht die Augen verschließen. Den Sudetendeutschen ist nach Kriegsende großes Unrecht geschehen.

Unsere Gemeinsame Erklärung soll helfen, den Teufelskreis gegenseitiger Aufrechnung und Schuldzuweisung zu durchbrechen. Wir dürfen nicht Gefangene der Vergangenheit bleiben, sonst hätte die Vergangenheit letztlich gesiegt. Dabei respektieren wir, daß es nicht wenigen, die selbst gelitten haben, auch heute noch schwer fällt, das Leid des anderen nachzuempfinden. Gerade sie bitte ich, gemeinsam mit uns - und vor allem mit der jungen Generation unserer Völker - in die Zukunft zu gehen.

Die große Mehrheit der Menschen in unseren Ländern will den Weg der Zusammenarbeit, ja der Freundschaft. Versöhnung läßt sich aber nicht verordnen. Sie muß zwischen den Menschen wachsen - und ich hoffe, sie wird auch bei denen wachsen, die der Deutsch-Tschechischen Erklärung heute noch nicht zustimmen.

Die Fundamente der engen Nachbarschaft von Deutschen und Tschechen reichen tief in die Vergangenheit zurück. Deutsche und Tschechen haben über Jahrhunderte hinweg Haus an Haus gelebt. Und ein Blick in die Geschichte zeigt uns die Höhen und Tiefen der gegenseitigen Beziehungen. Die Epochen friedlichen und geistig befruchtenden Zusammenlebens sind dabei weitaus länger und schöpferischer gewesen als die Zeiten der Konfrontation.

Deutsche und Tschechen verdanken einander so vieles, daß jeder Rückblick unvollständig bleiben muß. Im April dieses Jahres jährt sich zum tausendsten Mal der Todestag eines der großen Söhne Ihres Landes, des Heiligen Adalbert. Als zweiter Bischof von Prag, das damals dem Erzbistum Mainz zugehörte, war er eine der herausragenden Persönlichkeiten seiner Zeit. Als Tscheche wurde er am Hofe des deutschen Kaisers und als Missionar in Ungarn und Polen zu einer Gestalt von europäischem Rang. Er suchte und verkörperte gleichermaßen die Verständigung und Verbindung der Völker durch das Christentum und - das ist auch die Botschaft für heute - eine vom Gebot der Nächstenliebe geleitete Politik.

Ich erinnere an den großen König Ottokar II., dessen Herrschaft in ihrer glanzvollen Zeit vom Baltikum bis zur Adria reichte. Weit im Nordosten war er Mitbegründer der Stadt Königsberg, von der aus später Immanuel Kant das Denken der Aufklärung in Europa prägte.

Ich nenne Kaiser Karl IV., einen wahrhaft europäischen Herrscher, der in Prag residierte und diese Stadt zu einer der prächtigsten Städte der Welt ausbaute. Er gründete die älteste Universität Mitteleuropas. Karl schrieb und sprach in fünf Sprachen: Latein, Tschechisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Er spielte die verschiedenen Kulturen nicht gegeneinander aus, sondern sah sie als eine gegenseitige Bereicherung. So wurde beispielsweise das Tschechische unter Karl IV. zur meistgepflegten und -entwickelten slawischen Sprache, während gleichzeitig hier - in der Prager Kanzlei - die neuhochdeutsche Schriftsprache entstand.

In späteren Jahrhunderten wurde Vielfalt aber auch zur Quelle von Spannungen und Konflikten. Doch immer wieder wurde sie auch als Chance zum gegenseitig bereichernden Miteinander erkannt und wahrgenommen. Das Zusammenleben von Tschechen, Juden und Deutschen war kennzeichnend für den kosmopolitischen Geist Prags. Ohne die einzigartige Atmosphäre dieser Stadt um die letzte Jahrhundertwende wären Rainer Maria Rilke und Franz Kafka vielleicht nicht zu der Größe gewachsen, die ihnen in der Weltliteratur heute zukommt.

1933 wurde Prag als ein Hafen der Freiheit, der es damals noch war, von deutschen Emigranten aufgesucht. Zu ihnen gehörte Thomas Mann. Und 1968 fanden viele Bürger Ihres Landes Zuflucht bei uns in Deutschland. Vor sieben Jahren verschwand die schlimmste der Grenzen, die jemals durch Europa gezogen worden ist. Seit dem Fall der Berliner Mauer bei uns und der fast gleichzeitigen "Samtenen Revolution" bei Ihnen haben wir schon ein gutes Stück Weg miteinander zurückgelegt.

Herr Ministerpräsident, meine Damen und Herren, der Text der Gemeinsamen Erklärung kann die noch fortbestehenden Wunden aus der Vergangenheit bei den Betroffenen nicht einfach aus der Welt schaffen. Er kann die Geschichte nicht ungeschehen machen oder sie in all ihren Teilen und Facetten erfassen und bewerten. Die Gemeinsame Erklärung soll jedoch einen Beitrag zur Aussöhnung und zur Heilung immer noch verletzter Gefühle auf beiden Seiten leisten.

Noch nie zuvor ist ein gemeinsamer deutsch-tschechischer Text so klar und mutig auf strittige, beiderseits mit schlimmen menschlichen Erfahrungen und tiefen Emotionen verbundene Abschnitte unserer Geschichte eingegangen. Es ist nach meiner Überzeugung ein guter Text, der den festen Willen auf beiden Seiten zum Ausdruck bringt, gemeinsam in eine bessere, in eine europäische Zukunft zu gehen. Mein ganz besonderer Dank gilt den beiden Außenministern unserer Länder und den Unterhändlern, Vize-Minister Vondra und Staatssekretär Hartmann.

Die Gemeinsame Erklärung eröffnet ein weites Feld neuer Aufgaben, denen wir uns gemeinsam stellen müssen. Ich verbinde große Hoffnungen mit dem geplanten deutsch-tschechischen Gesprächsforum. Wir brauchen ein solches Forum - neben der bereits bestehenden Historiker-Kommission -, um die weitere Verständigung zwischen unseren Völkern auf möglichst breiter Grundlage und unter Beteiligung aller am deutsch-tschechischen Verhältnis Interessierten zu fördern.

Als deutscher Bundeskanzler lege ich besonderen Wert darauf, hier in Prag vor der tschechischen Öffentlichkeit festzustellen, daß die große Mehrheit der Sudetendeutschen bereit ist, tatkräftig und konkret am Ausbau unserer Beziehungen mitzuarbeiten. Ich bitte das tschechische Volk, diesen guten Willen zu sehen und anzuerkennen. Das ist die beste Voraussetzung für gemeinsame Werke des Friedens, die unseren beiden Völkern zugute kommen werden.

Meine Damen und Herren, die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen unseren Ländern haben in den vergangenen Jahren bereits einen großen Aufschwung genommen. Vor allem freue ich mich über die Zunahme des Jugendaustausches. Ich hoffe sehr, daß die jungen Menschen in besonderer Weise von dem gemeinsamen Zukunftsfonds profitieren werden. Gleiches wünsche ich mir für Projekte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit - wie zum Beispiel im Rahmen von EUREGIO - und für die Förderung der deutschen Minderheit in Tschechien.

Von einer ganz entscheidenden Bedeutung ist für uns Deutsche der Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union und zum Nordatlantischen Bündnis. Ich weiß mich hierin mit Herrn Präsidenten Havel und mit Ihnen, Herr Ministerpräsident Klaus, einig. Wir wollen gemeinsam den Bau des Hauses Europa, denn die europäische Einheit ist die sicherste Gewähr für Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert. Deshalb bleiben für uns die weitere Vertiefung der Europäischen Union und ihre Erweiterung vor allem auch nach Osten vorrangige Ziele. Dies ist auch mir persönlich ein besonderes Anliegen.

Die NATO wird auch in Zukunft der zentrale Anker europäischer Sicherheit bleiben. Das Bündnis hat den Prozeß einer umfassenden Erneuerung eingeleitet. Hierzu zählen sowohl die Reform seiner inneren Strukturen als auch die Öffnung für neue Mitglieder.

Herr Ministerpräsident, meine Damen und Herren, in dieser Stunde schauen viele aus unseren Völkern auf uns. Sie sind Zeugen, wie wir hier im Liechtenstein-Palais zu Prag die Gemeinsame Erklärung unterzeichnen. Vielen Tschechen und vielen Deutschen stehen dabei die Bilder des eigenen Lebens vor Augen: von Eltern und Geschwistern, von Verwandten und Freunden - Bilder von geliebten Menschen, die Schreckliches erlitten haben.

Für nicht wenige sind dies Erinnerungen, die auch in dieser Stunde schmerzen und auch Gefühle der Bitterkeit wachrufen können. Dennoch bitte ich Sie alle, daß wir versuchen, gemeinsam den Weg der Versöhnung zu gehen. Nur durch Wahrhaftigkeit läßt sich nach den Schrecken unseres Jahrhunderts eine gute Zukunft für die Menschen in unseren beiden Ländern gewinnen und sichern. Wir Deutschen wollen Ihnen gute Nachbarn sein. Handeln wir gemeinsam im Geiste unserer christlichen und humanistischen Traditionen. Wir wollen um Vergebung bitten, und wir wollen vergeben.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 7. 24. Januar 1997.