21. Juni 1972

Das Verständnis der Christlichen Demokraten von Staat und Gesellschaft

Beitrag in der Zeitschrift „Sonde“

 

Unsere staatliche wie gesellschaftliche Ordnung sehen sich gegenwärtig einem direkten Angriff aus verschiedensten Richtungen ausgesetzt. Die Linksradikalen wollen unsere freiheitliche, demokratische Grundordnung beseitigen im Dienste einer Utopie, welche die Herrschaft des Menschen über den Menschen ablösen und an die Stelle der Verwaltung von Menschen die Verwaltung von Sachen und Produktionsprozessen setzen will. Eines ihrer Ziele ist die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, dies entweder auf dem Wege einer Überführung von Grund und Boden in Kommunaleigentum und durch konfiskatorische Besteuerung oder sogar durch revolutionäre Umwälzung.

Eine andere Gruppe, in ihrer Bedeutung nicht weniger gefährlich, stellen die Befürworter einer „aufgeklärten" Marktwirtschaft dar. Sie wollen unsere marktwirtschaftliche Ordnung mit Hilfe eines Systems des gesellschaftlichen Dialogs, der globalen Konjunktursteuerung und der Programmierung von Wachstum und Strukturen ablösen. Was notwendig ist, soll nicht mehr der souveräne Wille des einzelnen, des Menschen, der freien Gruppierung bestimmen. An seine Stelle tritt die Funktion. Funktioniert aber wird nach Ablauf- und Strukturprogramm, nach Orientierungsdaten mit Hilfe einer angeblich perfekten globalen Steuerung.

Diese und andere Gruppen sollen nicht überschätzt, aber auch nicht als Randerscheinungen unterschätzt werden. Die fanatischen Verirrungen von Bombenlegern und politischen Motiven sind die pathologischen Auswüchse unserer Gesellschaft, die viele Wurzeln haben. Das Wort von den „systemüberwindenden Reformen" ist inzwischen nicht nur bei den Nachwuchsorganisationen der SPD und FDP ein gängiger Begriff geworden, sondern in weiten Bereichen dieser Parteien selbst.

Es ist daher selbstverständlich, daß die CDU sich nach ihrem Verständnis von Staat und Gesellschaft fragen lassen muß. Sie muß insbesondere eine Antwort auf die Frage geben können, welche Werte sie im politischen Bereich hier und heute für unbedingt verbindlich und im menschlichen Zusammenleben für tragfähig hält.

Die CDU braucht dies keineswegs aus einer Kellerlochperspektive heraus zu tun. Die Politik Christlich Demokratischer Parteien in der Bundesrepublik wie in vielen anderen europäischen Staaten nach dem Zusammenbruch von 1945 bis zum heutigen Tag hat durchaus bemerkenswerte Erfolge bewirkt, die wir auch heute nicht unter den Scheffel zu stellen brauchen. Doch darf es eben nicht dabei bleiben, wohlgefällig auf erreichte Erfolge zurückzublicken.

Unsere in 20 Jahren Regierungszeit bewiesene Überzeugungskraft als bestimmende politische Kraft in der Bundesrepublik werden wir in Zukunft nur beibehalten können, wenn es uns gelingt, Antworten auf die Fragen unserer Zeit zu geben, die der Herausforderung unserer dynamischen gesellschaftlichen Entwicklung gerecht werden.

Dies zwingt uns nicht, Erreichtes über Bord zu werfen und wie in der Stunde Null von vorne zu beginnen. Doch sicherlich werden sich unsere Antworten, die wir finden müssen, von denen aus der damaligen Zeit in vielem unterscheiden müssen. Dafür ein konkretes Beispiel.

Bei den bevorstehenden Bundestags-Wahlen werden zum ersten Mal über 50 Prozent der Wähler der jungen Generation, der Generation der „Nachgeborenen", angehören, deren Erfahrungshorizont sich bereits ausschließlich auf eine im Großen und Ganzen stabile staatliche wie gesellschaftliche Ordnung erstreckt. Ihre Erwartungen richten sich weniger danach, wie Vergangenheit bewältigt und Wiederaufbau ermöglicht, als vielmehr danach, wie ihr Leben in 50 Jahren aussehen soll.

Wir müssen uns gleichzeitig darüber im Klaren sein, daß die gegenwärtige Situation der Menschheit - die gesellschaftliche Dynamik - einzigartig ist, buchstäblich unvergleichlich mit allem früher von Menschen Erlebtem.

Unsere Antwort auf diese Entwicklung kann deshalb nicht in dem Versuch bestehen, ein fertiges Modell für eine zukünftige Gesellschaft, für eine Gesellschaft ohne Präzedenzfälle, zu schaffen.

Unabdingbar ist jedoch die Forderung, die grundlegenden gesellschaftlichen Werte der siebziger Jahre zu definieren. Die entsprechend notwendigen gesellschaftspolitischen Aufgabenstellungen zu postulieren und Methoden zu entwickeln, die zur Lenkung dynamischen Gesellschaftswandels geeignet sind.

Nur auf diese Weise können die dynamischen Strukturveränderungen der Gesellschaft ihrer anarchisierenden Gefahren entkleidet werden; z.B.

- die Zunahme des Autoritätsvakuums und der wachsenden Orientierungsschwierigkeiten,

- die Zunahme des Bereichs Beliebigkeit, der gleichwohl von Willkür wie von Verantwortungsbewußtsein ausgefüllt werden kann,

- die größere Konfliktanfälligkeit,

- der größere psychische Streß,

- die Infragestellung des Wertes „Individualität".

Gerade beim letzten Punkt wird das Problem, das hier angesprochen werden soll, überdeutlich. Wir leben in einer Gesellschaft mit dem bisher größten Individualitätsspielraum und dennoch häufen sich die Klagen über Einschränkungen der Individualität. Damit deutet sich nicht nur ein Verlust des Gefühls für Proportionen, sondern gleichzeitig ein verhängnisvoller Kreislauf an: Je größer die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderung, desto größer die Unzufriedenheit, weil nicht nur der Erwartungshorizont der Bürger steigt, sondern auch die Gefahr des Scheiterns und damit der Frustrationen zunimmt. Das Ergebnis solcher psycho-sozialer Staulagen kann zu einem Aktivismus aus Nervenschwäche bis zum Rückfall in Gewalt mit gutem Gewissen führen.

Aus diesen Strukturveränderungen der Gesellschaft leiten sich aber nicht nur Gefahren ab, sondern auch die Mehrzahl der Aufgaben für die Zukunft. Sie eröffnen die Chance für die voluntaristische Selbstgestaltung des Menschen.

Die Christlichen Demokraten können sich dieser Herausforderung um die Neubestimmung demokratischer Politik in der modernen Industriegesellschaft zuversichtlich stellen. Und darin liegt unsere Chance, wieder die bestimmende politische Kraft zu werden.

Die Christlichen Demokraten sind aufgerufen, deutlicher denn je zu sagen, welche verpflichtenden Konsequenzen sich aus dem „C" in ihrem Namen für ihr politisches Handeln ergeben.

Diese Konsequenzen sind in zweifacher Hinsicht zu sehen: Einmal hat das „C" Konsequenzen für die Grundhaltung, aus der heraus man politisch handelt, d.h. die politische Ethik.

Zum zweiten wäre über die Konsequenzen für die konkrete politische Programmatik, d.h. die gesellschaftspolitischen Ziele zu sprechen. Mit anderen Worten, das ,,C" hat sowohl Konsequenzen für den generellen Problemlösungsstil, als auch für die konkreten Problemlösungen. Beides läßt sich zwar nicht lupenrein voneinander scheiden, sind aber zwei unterscheidbare Aspekte des Problems.

Bereits an dieser Stelle soll - um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen - darauf hingewiesen werden, daß mit dem Folgenden keine Selbstgerechtigkeit geübt noch ein Ausschließlichkeitsanspruch erhoben werden soll. Es gibt in dem Sinne keine christliche Politik, christliche Demokratie oder christlichen Staat, aber es gibt einen politischen Willen und politisches Handeln von Bürgern, die als Christen im Rahmen einer Partei an der politischen Gestaltung des Staates und der Gesellschaft mitwirken wollen.

Was wäre nun ein dem „C" angemessenes politisches Problemlösungsverhalten? Das ist die Frage nach der CDU-spezifischen und verbindlichen Methode der politischen Weltbewältigung und Wertverwirklichung.

Mit dieser Frage sind wir mitten in der gegenwärtigen geistigen Auseinandersetzung. Weltweit scheint sich eine Reideologisierung der Politik zu vollziehen, die Bundesrepublik macht dabei keine Ausnahme.

Die Zuflucht zur Ideologisierung mit der fast zwangsläufigen Folge der Polarisierung ist für die CDU kein annehmbarer Weg.

Ideologisierung und Polarisierung der politischen Auseinandersetzung gründen auf der Dogmatisierung eines einmal fixierten politischen Standpunktes, mit der Konsequenz, daß jede Seite nur noch das gelten läßt, was die eigene Überzeugung stützt. Die Wirklichkeit wird entsprechend der eigenen Annahme über sie uminterpretiert. Dogmatisierung als Methode der Weltbewältigung ist jedoch unmenschlich, weil sie die existentielle Tatsache übersieht, daß wir alle in unserem Denken und Handeln irren können. In dieser Erkenntnis sind die Christen in der Politik durch mehr als rationale Erkenntnis bestärkt. Die Sicherheit, die die Dogmatisierung vordergründig für das politische Handeln verspricht, ist trügerisch. Sie ist tatsächlich nicht nur sehr begrenzt, sie bereichert vor allen Dingen das politische Denken nicht. Im Gegenteil: Dogmatisierung hemmt die geistige und soziale Entwicklung, weil sie sich gegen mögliche bessere Einsichten selbst immunisiert.

Dogmatisierung und Rechtfertigungsdenken sind auf der rechten wie linken Seite des politischen Spektrums in gleicher Weise beheimatet. In Bezug auf den politischen Problemlösungsstil bedeutet das, daß das unerschütterliche Festhalten an dogmatischen Positionen zur Tugend pervertiert wird. Politik wird zur Exekution von Prinzipien ohne Bezug zur Wirklichkeit und Menschlichkeit. Die Politik zwingt die Menschen in letzter Konsequenz zum blinden Gehorsam. Ferner kennt die Ideologie und der Dogmatismus grundsätzlich keinen Wandel, sondern nur Stabilität. Mögen sie sich auch noch so revolutionär geben. Spätestens dann, wenn die Gesellschaft so ist, wie die Ideologie es vorschreibt, soll sie so bleiben: Vollendung der Demokratie im Sozialismus.

Als Christen wissen wir dagegen, daß unser menschliches Wissen und Erkennen fehlbar ist, daß „Umdenken" und Entwicklung zum Menschen gehören. Wir wissen auch, daß die Erlösung des Menschen durch die Politik nicht möglich ist. Vielmehr ist die Welt dem Menschen zur Disposition gegeben, also in seine Verantwortung gestellt.

Dies verbietet das Mitmachen bei der heutigen Mode, Parteilichkeit des Denkens und Handelns und blindes Engagement als Tugend hinzustellen, dagegen müssen wir betonen, daß Wissen und die Anwendung der Rationalität in der Sachwelt (Technik) und der sozialen Welt (Organisation, Recht, Staat) eine Tugend und Unwissen ein Laster ist.

Der Christ unterliegt bei der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit keiner ideologischen Beschränkung. Es sei denn der, daß er von der Unfertigkeit der Welt, wie seiner selbst, weiß. Er bleibt also ständig aufgerufen, sich selbst zu verwirklichen, wie seine Umwelt selbst zu gestalten. Wandel, Fortschritt und Veränderungen stellen für den Christen keine Bedrohung dar, sondern bestimmen letztlich seine Existenz. Christlicher Glaube beinhaltet demzufolge Dynamik, d.h. Beweglichkeit in Richtung auf die Selbstverwirklichung des Menschen. Der Christ ist von daher in besonderer Weise zum offenen schöpferischen Tätigwerden und damit zum politischen Handeln verpflichtet. Zu handeln ist eine Grundforderung an den Christen. Handeln als vorsorgendes schöpferisches politisches Verhalten, das sich vor allem im Geben und Nehmen zwischen Personen vollzieht. Dabei haben Dogmatismus und Feindschaft keinen Platz.

Diese Bereitschaft zum schöpferischen Handeln muß ihren Ausdruck finden in der Offenheit gegenüber der Welt.

In dieser Haltung stimmt der Christ in der Politik überein mit der Wissenschaft, dem stärksten Motor in dieser modernen Gesellschaft. Gerade die in der Wissenschaft durchaus kritisch angewandte Rationalität ist darauf gerichtet, die Geschlossenheit unseres Denkens und unserer Handlungssysteme zu durchbrechen.

Offenheit gegenüber der Welt und kritische Rationalität richten sich nicht nur gegen ideologischen Dogmatismus, sondern auch gegen den Pragmatismus politischen Handelns, der gelegentlich als Alternative zum Dogmatismus angepriesen wird.

Die Schwäche des bloßen Pragmatismus ist beispielsweise die mangelnde Zielgerichtetheit und die Verharmlosung von Zielkonflikten. Der Pragmatismus hängt allzu sehr am Status quo und begünstigt die Rechtfertigung bestehender sozialer Verhältnisse.

Das Wissen um die Fehlbarkeit des Menschen und die Methode der kritischen Anwendung der Rationalität schützen auch vor dem positivistischen Glauben an die totale Machbarkeit der Welt. Sie vermeiden damit die Überschätzung unseres wissenschaftlichen Denkens und erschüttern den Glauben, daß die Gesellschaft perfekt konstruierbar sei.

Auf der anderen Seite verpflichtet die Offenheit gegenüber der Welt jedoch auch zur theoretischen Durchdringung unseres Handelns und verweist auf die Technologie politischer und sozialer Gestaltung. Offenheit des Denkens muß die heute in Mode gekommene Parteilichkeit des Denkens und das blinde Engagement überwinden. Wir können jedoch nicht verschweigen, daß diese Methode des Denkens, die dem naturwissenschaftlichen Denkstil sehr verwandt ist, nach wie vor auf tiefe Skepsis stößt. Man glaubt immer noch, diese Art der Rationalität von der Politik fernhalten zu müssen.

Offenheit und kritisches Denken sind jedoch zur unverzichtbaren Bestandsgarantie einer demokratischen Gesellschaft geworden. Die Vernachlässigung des Wissens über soziale und politische Gesetzlichkeiten rächt sich spätestens bei der Verwirklichung unseres politischen Wollens. Denn der Politiker muß stets von mehr oder weniger geprüften Annahmen über die gesellschaftliche Wirklichkeit ausgehen, die er gestalten soll.

Der Erfolg politischen Handelns aber ist wesentlich davon bestimmt, wie realistisch diese Annahmen sind. Der Politiker muß wissen, wie die Situation tatsächlich ist, und er braucht den Rahmen dessen, was möglich ist. Deshalb muß sich der christliche Politiker geradezu zur wissenschaftlichen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse verpflichtet fühlen. Wenn man sich aber einmal für diesen Verhaltensstil und die kritische Rationalität entschieden hat, dann verlangt das ihre durchgängige Anwendung in allen Bereichen. Diese Haltung ist unvereinbar mit der Rechtfertigung kultureller, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Privilegien einzelner oder von Gruppen. Es gehört zu diesem Denkstil, Dinge, Werte, Ergebnisse aufeinander zu beziehen und dadurch zu werten. Das wird auch mit den mannigfaltigen Privilegien geschehen müssen, die es zweifellos in unserer Gesellschaft heute noch gibt. Sie sind nach ihrer rationalen Legitimation abzuklopfen, indem man sie auf die gesamtgesellschaftlichen Wertvorstellungen bezieht. Die mannigfachen Rechtfertigungsideologien für Privilegien werden nur dann weiterhin ihren Zweck erfüllen können, wenn sie rational überzeugende Beziehungen zwischen diesen Privilegien und gesamtgesellschaftlichen Wertvorstellungen und Funktionserfordernissen nachweisen können.

Der christliche Politiker ist aus seiner Haltung der Offenheit und kritischen Anwendung der Rationalität heraus geradezu prädestiniert, die Antworten auf die Probleme unserer Zukunft zu finden. Denn diese Zukunft folgt keinem historischen Gesetz und wird sich von unserer Gegenwart ganz sicher unterscheiden. Es sind ihm zumindest alle Voraussetzungen gegeben, an dieser Gesellschaft mitzugestalten.

Wir sind deshalb einem hohen Anspruch verpflichtet, wenn wir in unserem Namen das „C" weiterführen.

Diesem Anspruch steht aber das Bewußtsein gegenüber, daß eine Politik aus christlicher Verantwortung eine Chance auch für die Zukunft besitzt. Ja, vielleicht sogar die Chance überhaupt darstellt, wenn wir sie nur nutzen.

Wie bereits ausgeführt, hat das „C" aber nicht nur Konsequenzen für den Problemlösungsstil, sondern auch für die konkreten politischen Zielsetzungen.

Wir müssen uns bewußt bleiben, daß keine politische Partei, die handlungsfähig bleiben will, ihr Programm mit dem Christentum schlechthin identisch sehen kann noch darf.

Auch lassen sich nicht aus christlichen Glaubensprämissen eindeutige ordnungspolitische Lösungen in einem ausschließenden Sinne ableiten.

Das schließt nicht aus, daß es politische Positionen gibt, die mit dem „C" unvereinbar sind:

- Propagierung und Praxis der revolutionären Gewalt,

- die Dogmatik der Selbsterlösung des Menschen durch Politik,

- die Transformation der politischen Gegnerschaft in absolute Feindschaft,

- der totalitäre Anspruch an das Individuum.

Das „C" muß ein regulatives Element unserer Politik sein:

1. Das „C" enthält nach wie vor Sicherungen gegenüber der „klassischen" Alternative eines sozial ungebundenen Individualismus einerseits und eines die Individualsphäre aufhebenden Kollektivismus andererseits. Gegenüber diesen in jüngster Zeit wieder zunehmenden Tendenzen ist der Rückgriff auf das christliche Menschenbild und seine Übersetzung in die jeweilige geschichtliche Situation immer aktuell.

Dieses Menschenbild hält Individualität und Sozialität des Menschen prinzipiell in der Schwebe und erweist sich damit auch als ein anthropologischer Realismus gegenüber den modernen totalitären Bestrebungen.

2. Das „C" könnte in betonter Weise regulativ für das Verhalten und Handeln des politischen Führungspersonals auf allen Stufen sein. Prämisse hierfür könnte - in bewußter Absetzung vom „Dienst am Staat" - die Formel von der Politik als Dienst am Menschen und an der Gesellschaft sein.

3. Die Regulativfunktion des christlichen Menschenbildes ist auch bei den Leistungserwartungen, die in steigendem Maße auf das politische System zukommen, zu bedenken. Das notwendige Vordringen von mittel- und langfristiger Planung und von an Sachlogik orientierten Entscheidungen bedarf der ständigen Reflexion der konkreten Situation des Menschen als Korrektiv.

Das Bekenntnis zu Freiheit und Würde der Person muß immer wieder neu übersetzt werden in die konkreten Situationen mit ihren Chancen und Gefährdungen.

Alle Versuche, die Gesellschaft zu gestalten, sie zu erneuern und in ihren Strukturen zu verändern, treffen immer konkret lebende Menschen von heute und morgen. Die Orientierung am christlichen Menschenbild versetzt uns in die Möglichkeit des Ausgleichs zwischen dem dringend nötigen Reformwillen und der Wahrung von Freiheit und Würde des Menschen.

Auf diesem Hintergrund gilt es, unsere gesellschaftspolitischen Ziele und Aufgaben zu diskutieren. Für unser aller Arbeit an der Zukunft unserer Gesellschaft sind folgende Schwerpunkte zu setzen:

1. Wir müssen die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Produktivität unserer Gesellschaft steigern.

2. Das verlangt von uns Investitionen in Wissenschaft und technischen Fortschritt, vor allem aber die Bereitschaft zu geistig-kulturellem Wandel und zu technischem Fortschritt.

3. Dem dient die Steigerung der Intelligenz durch Erziehung in unserem gesamten Bildungssystem, Verbesserung der Instrumente zur Steuerung der Wirtschaft und gesellschaftliche Prozesse.

4. Wir brauchen eine vorausschauende Strukturpolitik, die, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist, Ungleichgewichte in der Entwicklung der Regionen, der Berufe und der Wirtschaftszweige beseitigt.

Für die Innenpolitik heißt das z.B., daß die soziale Marktwirtschaft nicht länger mehr nur als ein funktionierendes Organisationsmodell der Wirtschaft verstanden werden darf, sondern ausgebaut werden muß zu einem gesellschaftspolitischen Ordnungsmodell, das nicht nur den sozialen Fortschritt, sondern in gleichem Maße die persönliche und politische Freiheit wie soziale Gerechtigkeit gewährleistet.

Dies setzt aber voraus,

1. daß wir die ökonomische Perspektive nicht verabsolutieren und die von dieser Perspektive gewonnenen Erkenntnisse mit der Vernunft schlechthin gleichsetzen und als Rechtfertigungsideologie für bestehende Verhältnisse benutzen;

2. daß wir den Willen und die Kraft zu gesellschaftspolitischer Entscheidung und Gestaltung besitzen.

In diesem Zusammenhang sind wir auch aufgerufen, unsere Eigentumsordnung weiterzuentwickeln. Um nicht mißverstanden zu werden: Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Institution Eigentum ein zentrales Element unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist und bleiben muß. Eigentum ist jedoch nicht Selbstzweck. D.h. wenn das Institut Eigentum als ein Mittel für menschliche Selbstverwirklichung betrachtet wird und nicht als Selbstzweck, dann muß die konkrete Ausgestaltung dieser Institution Eigentumsordnung Antwort geben auf die Fragen, wer Eigentum, für was und zu welchen Kosten gebraucht. Dabei geht es um die Frage der Eigentumsverteilung und der sozialen Bindung des Eigentums.

Der bisherige Ansatz der Vermögensbildung in breiter Hand ist bekanntlich zu schmal. Auch haben die, für die sie eigentlich gedacht war - die „kleinen Leute" - nicht den Löwenanteil bekommen. Dies zu ändern ist eine der sehr dringlichen Aufgaben der Zukunft.

Ein krasses Mißverhältnis besteht nach wie vor bei der Streuung des Produktivvermögens. Auch hier gilt es, den Zugang für breite Schichten der Bevölkerung zu ermöglichen. Die rd. 2.000 Fälle innerbetrieblicher Beteiligungsformen verdienen rückhaltlose Anerkennung. Dennoch müssen für die Beteiligung am Produktivvermögen generelle Lösungen gefunden werden, wenn verhindert werden soll, daß eine neue Klassifizierung von Arbeitnehmern entsteht, nämlich in solche, die das Glück haben (bzw. durch Tarifvertrag) am Produktivvermögen beteiligt zu sein und solche, die nicht in der gleichen Lage sind.

Zum Thema „Weiterentwicklung der Eigentumsordnung" gehört unabdingbar das Thema der „Sozialbindung des Eigentums". Sozialbindung des Eigentums kann aber nicht heißen Konzentration des Eigentums von Grund und Boden in der öffentlichen Hand oder bei wenigen großen, quasi öffentlichen Gesellschaften.

Die konkrete Verpflichtung stellt sich in dem Gebot der sozialgerechten Nutzung, nicht nur als eine Anweisung für das konkrete Verhalten der Eigentümer, sondern in erster Linie als Richtschnur für die politische Führung, bei der Regelung des Eigentuminhalts das Wohl der Allgemeinheit zu beachten.

Innenpolitik muß also heute mehr sein als Ordnungsverwaltung und sollte mehr sein als Krisensteuerung, wie man im Augenblick manchmal den Eindruck haben muß, wenn man die Bonner Szenerie betrachtet. Ziel der Innenpolitik muß mehr denn je eine gesellschaftspolitische Strukturpolitik in dem Sinne sein, daß planmäßige Strukturveränderungen entsprechend unseren gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen vorgenommen werden.

Nur dadurch sind die Ursachen zu beseitigen, die den kulturellen Fortschritt und die den sozialen Frieden gefährden können und die gleichzeitig der Chance für mehr privates Glück, eine Chance, die berechtigt ist, im Wege stehen können.

Die Lösung all dieser Probleme, von denen nur einige wenige angesprochen werden konnten, stellt hohe Anforderungen an die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft.

Die Rolle, umfassende politische Problemlösungen zu entwerfen, ihnen Zustimmung zu verschaffen und sie politisch zu realisieren, fällt mehr und mehr den politischen Parteien und den von ihnen für öffentliche Ämter vorgeschlagenen und von den Bürgern gewählten Repräsentanten zu. Die Leistungsfähigkeit und Legitimität des Staates hängen heute und in Zukunft ganz entscheidend von der Funktionsfähigkeit unserer Parteien ab.

Die Tatsache, daß knapp vier Prozent der Wähler in der Bundesrepublik Deutschland Mitglied einer politischen Partei sind und von diesen vier Prozent, wenn Sie diese gleich 100 Prozent setzen, vielleicht zehn Prozent sich um die Dinge in der Partei kümmern, zeigt, daß wir uns hier einen Luxus erlauben, der mehr als sträflich ist.

Ein mittleres Unternehmen, das in dieser Form Personalpolitik betreiben würde, wäre dem Ruin nahe. Das ist nur bedingt eine Anklage gegen die Parteien. Daß wir uns den Leichtsinn gestatten - man kann es nicht anders nennen -, den Führungsnachweis, das Führungspotential für unser Land teilweise so zufällig auswählen zu lassen, ist ein Hinweis darauf, daß auch hier ein weiteres sehr wichtiges Problem der Politik der siebziger Jahre liegt.

Nehmen Sie all dieses als eine Herausforderung an die Politiker und die Politik. Und es wird unumgänglich sein, dieser Herausforderung realistisch zu begegnen. Es wäre absolut töricht, wollte man den Zwang zu notwendigen Reformen in Staat und Gesellschaft als Alibi benutzen, sich stromlinienförmig an jede Modetorheit und jede Zeittendenz anzupassen. Aktivismus und Reformhuberei führen nicht weiter. Rationale Überlegung, unter Beachtung klarer Prioritäten, orientiert sich am finanziell Erreichbaren, will Schritt um Schritt die einmal entwickelten und entschiedenen Vorstellungen Wirklichkeit werden lassen - das ist der Weg in eine bessere Zukunft. Wir dürfen weder in restaurative Ressentiments noch in futuristische Illusionen flüchten. Diese Gesellschaft verändert sich nicht nur: sie ist auch veränderbar. Es ist notwendig, dort mit neuen Ideen und gestaltend einzugreifen, wo soziale Wirklichkeit und politisches Bewußtsein auseinanderlaufen. Das 198. Jahrzehnt verlangt Entscheidungen! Wenn wir jetzt die Möglichkeiten der freiheitlich-demokratischen Ordnung unseres Landes nicht nutzen und sie ausbauen, ist eine der ganz seltenen großen politischen und gesellschaftlichen Konstellationen für die Zukunft in Deutschland vertan.

Deshalb: Unsere Zukunft ist gestaltbar. Dies bedeutet gleichzeitig eine einzigartige Verheißung und Gefährdung und damit also auch eine einzigartige Verantwortung.

Quelle: Sonde, Bonn. 5. Jg. (1972), Nr. 3. Abgedruckt in: Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Hg. von Horst Teltschik. Bonn 1978, S. 1-11.