21. März 1997

Ansprache anlässlich des Geburtstagsempfangs für Bundesminister a.D. Hans-Dietrich Genscher auf dem Petersberg bei Bonn

 

Lieber Hans-Dietrich,

liebe Bärbel,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

wenn man Hans-Dietrich Genscher zum 70. Geburtstag gratuliert und diese hochansehnliche Versammlung von Geburtstagsgästen betrachtet, ist ein Stück der Laudatio eigentlich schon vorgegeben.

 

Die vielen Gäste aus ganz Deutschland und aus dem Ausland, die ich ganz besonders herzlich begrüße, sind ein beredtes Zeugnis für den Lebensweg des Geburtstagskindes. Dies war wahrlich nicht alles so vorprogrammiert. Geboren am 21. März 1927 in Reideburg bei Halle umfassen die 70 Jahre bis heute viele Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert. Niemand konnte damals ahnen, daß er zu Recht heute im Mittelpunkt von Ehrungen und Danksagungen stehen würde.

 

1933 zog er mit der Familie nach Halle um. Seine Kindheit - das habe ich in vielen Gesprächen mit ihm gespürt - war geprägt vom frühen Tod des Vaters. Wenn er oder seine Mutter darüber sprachen, so konnte man selbst als Außenstehender nachempfinden, was dieser Verlust für die Familie bedeutet hat. Mit besonderer Liebe und Anhänglichkeit hat Hans-Dietrich Genscher stets von seinem Onkel gesprochen, der durch Jahrzehnte hindurch sein Leben ganz wesentlich begleitet und mitgeprägt hat.

 

Mitten in der Schulzeit wurde er 1943 Luftwaffenhelfer, kurz vor Kriegsende wurde er als Soldat eingezogen. Es folgten die knapp zweimonatige Kriegsgefangenschaft und 1946 die Ergänzungsreifeprüfung. Im Deutschen Bundestag ist es wohl nur eine Minderheit, die noch weiß, was das war. Ich sage: Gott sei Dank -, weil es zeigt, was 50 Jahre Frieden für unser Volk bedeuten.

 

Er hat dann in Leipzig studiert. Nach seinem Weggang aus der damaligen DDR hat er später in Hamburg seine zweite juristische Staatsprüfung abgelegt. Er wurde Rechtsanwalt in einer Bremer Anwaltssozietät.

 

Jetzt gehe ich wieder ein Stück zurück: Er ist 1946 Mitglied der Liberal-Demokratischen Partei geworden. Er ist dann 1952, nachdem er in die Bundesrepublik gekommen war, wie er oft berichtet hat, eigentlich ganz selbstverständlich zur FDP gekommen. 1956 holte ihn Thomas Dehler als wissenschaftlichen Mitarbeiter in die FDP-Bundestagsfraktion. Wenig später wurde er Geschäftsführer der Fraktion, 1965 Parlamentarischer Geschäftsführer, 1968 stellvertretender Bundesvorsitzender, und von 1974 bis 1985 war er Bundesvorsitzender dieser "kleinen und liebenswerten Partei".

 

Hans-Dietrich, es klingt gut, wenn ein Nachfolger das so sagt, wie wir es eben hier gehört haben. Aber wenn man Vorsitzender einer Partei ist, weiß man, daß das Liebenswerte sich häufig verbirgt. Der Ausdruck von der "liebenswerten Partei" hat mir gut gefallen. Ich möchte auch noch etwas davon profitieren.

 

Hans-Dietrich Genscher ist 1965 in den Bundestag gekommen. Ich habe mich noch einmal vergewissert: Du bist jetzt der dienstälteste Abgeordnete des Deutschen Bundestages. 32 Jahre Plenarsitzungen, meine Damen und Herren, Kleine und Große Anfragen, vor allem Fraktionssitzungen - wenn Sie all dies zusammennehmen, dann haben Sie eine Vorstellung von dem, was sich in diesen Jahrzehnten bündelt. Er wurde 1969 in das Amt des Bundesministers des Innern berufen, und von 1974 bis 1992 nahm er das Amt des Bundesministers des Auswärtigen und das Amt des Vizekanzlers der Bundesrepublik Deutschland wahr.

 

All diese Daten sagen noch nicht viel über die Person Hans-Dietrich Genscher. So will ich es trotz der großen Zahl der Besucher und Gäste, die hier sind, wagen, Dich jetzt vor allem auch persönlich anzusprechen. Ich habe Dich in all diesen Jahren kennen- und schätzengelernt.

 

Das, was jedem auffallen muß, der Dir begegnet, der mit Dir arbeitet und lebt, sind ganz wesentliche und unverwechselbare Wesensmerkmale. Da ist der Sinn für Realismus - man übersetzt das heute leicht mit Pragmatismus und wertet es häufig ab. Aber ohne solches Denken kommt man in keinem Bereich des Lebens weiter. Da ist die Zielstrebigkeit und der politische Instinkt. Diese Eigenschaften haben ganz wesentlich dazu geführt, daß Du in den 18 Jahren Deiner Amtszeit als Außenminister - Du warst der dienstälteste Außenminister der westlichen Welt - zu einer Art Institution geworden bist.

 

Du hast schon zu Hause gelernt - nicht zuletzt am Beispiel Deiner Mutter -, wie wichtig Werte wie Pflichterfüllung, Verläßlichkeit, Schaffenskraft und Fleiß sind. Du hast einmal gesagt, Du habest vor allem von Deiner Mutter gelernt, was Liebe und Verantwortung bedeuten. Du hast in diesen Jahrzehnten immer wieder deutlich gemacht, daß Dich ein starker Wille trägt. Mancher, der Deine verbindliche Freundlichkeit mit mangelnder Willenskraft verwechselte, sah sich getäuscht.

 

Ich glaube, daß dabei besonders jene Heimsuchung Deiner schweren Erkrankung prägend war; Du selbst hast es so empfunden. In den Jahren zwischen 1946 und 1957 hast Du insgesamt dreieinhalb Jahre in Krankenhäusern und Lungenheilstätten verbringen müssen. Aber Du hast an Dich geglaubt und hast Dich nicht aufgegeben. Damals - so hast Du berichtet - hat ein Arzt zu Dir gesagt: "Wenn Du den Willen hast, überall der Erste und Beste zu sein, dann kannst Du es packen." Du hast oft - jedenfalls im kleinen Kreis - von dem Glücksgefühl gesprochen, das Du empfunden hast, als Du diese schwere Krankheit gemeistert und überwunden hattest.

 

Ich habe dies so persönlich gesagt, weil ich glaube, daß man Dein Leben und Wirken nur verstehen kann, wenn man versucht nachzuvollziehen, was gerade die Erfahrung dieser Krankheit für Dich bedeutet hat.

 

Da ist noch etwas anderes, das ich nennen will; es verbindet viele der hier Anwesenden quer durch alle Parteien: Du gehörst noch zur Kriegsgeneration im eigentlichen Wortsinn. Du hast den Beginn der NS-Diktatur und vor allen Dingen die Kriegsjahre noch bewußt erlebt. Du weißt noch - wie viele von uns hier - aus eigener Erfahrung, wie das in der Schule war, wenn einer der Klassenkameraden fehlte und uns dann mitgeteilt wurde, daß sein Vater gefallen sei.

 

Wer eine solche Lebenserfahrung mitbringt, der hat eine unglaublich intensive und persönliche Bindung an den Begriff "Frieden". Das hat auch Dein Leben, vor allem Deine Politik sehr stark geprägt. Nach dem Krieg hast Du Dich von Beginn an für ein demokratisches Gesamtdeutschland in Frieden und Freiheit, für Rechtsstaatlichkeit und Liberalität eingesetzt. In den 23 Jahren Deiner Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung bist Du selbst zu einem Teil der Geschichte des demokratischen Deutschlands geworden.

 

Ich will auch etwas anderes ganz offen ansprechen, nämlich die Pflichterfüllung - bis hin an die Grenzen der Belastbarkeit, auch der körperlichen Erschöpfung. Wer auf ein solches Pensum zurückblickt, wie Du es geleistet hast, der weiß, daß Du Dir das Äußerste abverlangt hast.

 

Lieber Hans-Dietrich, Du hast Höhen und Tiefen erlebt. Herr Gerhardt hat mit Recht von den Wahlabenden gesprochen und von dem, was man in einer Führungsfunktion einer Partei dann erlebt: Ist die Wahl gut gelaufen, so haben sie alle gewonnen; ging die Wahl dagegen verloren, wissen die Kommentatoren - oft schon vor Kenntnis der Endergebnisses - genau, wer schuld daran ist.

 

Du warst bereit, auch Wagnisse einzugehen. Wer beim Regierungswechsel 1982 dabei war, der weiß, daß Du Deine ganze politische Existenz mit in diese Entscheidung eingebracht hast. Damals gab es für Dich viele Anfeindungen und Bösartigkeiten. Aber damals hat sich auch Dein Stehvermögen gezeigt.

 

In Deine Jahre als Innenminister fällt eine andere bittere Erfahrung Deines Lebens, der wohl tragischste Augenblick Deiner politischen Tätigkeit: der schreckliche Anschlag auf die israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen in München. Ich weiß aus vielen Gesprächen, wie sehr Dich und andere es getroffen hat, daß am Ende dieser furchtbaren Ereignisse - trotz aller Mühen - ein schreckliches Blutbad stand.

 

Lieber Hans-Dietrich, bei Deiner Arbeit als Außenminister standen vor allem zwei große Themen im Mittelpunkt: Das eine war der entschiedene Wille zum Aufbau des Hauses Europa. Du gehörst zu denen, die keine Minute versäumt haben, wenn es darum ging, den Menschen klar zu machen: Es geht nicht zurück in den alten Nationalstaat, es geht nur in das gemeinsame Haus Europa, in dem wir - um es mit Thomas Mann zu sagen - "deutsche Europäer und europäische Deutsche" sein wollen.

 

Das andere große Thema betraf den Bereich der Ost-West-Beziehungen, nämlich die Frage: Haben wir eine Chance, endlich aus dem Kalten Krieg herauszukommen und aufeinander zuzugehen? Bei all dem hatten wir - gemeinsam mit vielen anderen - die Hoffnung, einmal die Einheit unseres Vaterlandes wiederzugewinnen. Diese Hoffnung ist schneller in Erfüllung gegangen, als wir es damals zu träumen gewagt haben.

 

Du bist gereist wie kein Zweiter. Es heißt, Du hättest zwei Millionen Flugkilometer zurückgelegt. Ich weiß nicht, ob diese Zahl genau stimmt; aber man hat Dir nicht ganz ohne Grund nachgesagt, Du hättest die Gabe der Bilokation. Wenn man mit Dir telefonierte, dann konnte man gleichzeitig die Fernsehbilder sehen, wie Du entweder gerade abreist oder gerade angereist bist. Dazu hast Du auch noch mit dem sogenannten "Arbeitsfrühstück" eine Einrichtung geschaffen, die ich für ein wenig barbarisch halte - vor allem dann, wenn Graf Lambsdorff dazu noch ein Interview im Fernsehen oder im Radio gibt ...

 

Das Vertrauen, das Du durch Deine Arbeit in diesen Jahrzehnten aufgebaut hast, hat sich für unser Volk "gelohnt" - ich verwende dieses Wort bewußt. Denn als die Stunde kam und wir die Chance zur Deutschen Einheit hatten, konnten wir sie mit Zustimmung all unserer Nachbarn und Partner in der Welt nutzen. Heute wissen wir, daß sich uns vergleichbare Chancen wahrscheinlich schon relativ kurze Zeit danach nicht mehr boten. Daß Du die Einheit unseres Vaterlandes so leidenschaftlich herbeigesehnt hast, hängt auch damit zusammen, daß Du ein Gefühl für Heimat hast. Egal, wo Du in der Welt unterwegs warst - wenn Du auf Halle zu sprechen kamst, dann wurde Deine Stimmlage anders: Da war Wärme dabei und Sympathie. Ich finde es unglaublich sympathisch, wenn jemand nicht leugnet oder vergißt, wo er herkommt - ob das nun die Familie oder den Heimatort betrifft.

 

Du warst einer der Baumeister der Deutschen Einheit. Du hast sehr früh die Bedeutung von Michail Gorbatschows Politik für grundlegende Veränderungen zwischen Ost und West erkannt. In diesem Zusammenhang sind aber unbedingt ebenso die Namen von George Bush, Jim Baker - auch der von Schewardnadse - und anderen zu nennen. Du hast diese Chance gespürt und sofort mit in die Arbeit eingebracht.

 

Herr Gerhardt hat es bereits zu Recht gesagt: Wer die Bilder auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag 1989 im Fernsehen sah und wer Dich später darüber berichten hörte, der wußte, was damals in Dir vorging. Dies war ein Tag, den Du Dir mit erarbeitet hast und der Dich glücklich gemacht hat. Mich freut immer wieder, von Dir und anderen zu spüren und zu hören: Es ist ein Glück, daß wir die Deutsche Einheit erreicht haben.

 

Es gäbe über die Stationen auf diesem Weg noch viel zu berichten, etwa über den ganz gewiß nicht einfachen Zwei-plus-Vier-Prozeß. Diese einfache Formel verbirgt die enorme Dramatik all dessen, was in jenen wenigen Monaten geschah. Es ist gut, daß wir jetzt, an Deinem 70. Geburtstag, einen Moment innehalten und uns über den Geburtstag hinaus noch einmal gemeinsam dankbar daran erinnern, daß uns dieses Geschenk zuteil wurde.

 

Ich danke Dir, Hans-Dietrich, für Dein Engagement, für Deine gute Kameradschaft, für Deine stets freundschaftliche Zuwendung und für manchen guten Rat. Wir haben uns auch immer wieder einmal kräftig gestritten - schon allein wegen der Zusammenarbeit zweier kleiner, liebenswerter Parteien ... Das hat aber nichts daran geändert, daß ich mich heute darüber freue, daß ich diese Rede auf Dich halten kann. Wir durften gemeinsam eine erfolgreiche Wegstrecke zurücklegen. Dafür bin ich ganz besonders dankbar.

 

Ich gratuliere Dir ganz herzlich und ich danke vor allem auch Dir, Bärbel, für Dein Mittun. Mit einem Politiker verheiratet zu sein, ist immer schwierig. Mit einem reisenden Außenminister verheiratet zu sein, ist noch sehr viel schwieriger - vor allem dann, wenn er daheim auch noch Arbeitsfrühstücke veranstaltet - mit all dem, was dazugehört. Ich danke Dir, Bärbel, vor allem auch für dieses Mittragen und Mitertragen. Ich wünsche Euch beiden, Deiner Tochter, Deinem Schwiegersohn und den Enkeln noch viele gute und gesegnete Jahre, Glück und Gesundheit.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 27. 8. April 1997.