21. November 1983

Rede vor dem Deutschen Bundestag zum NATO-Doppelbeschluss

 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Heute führen wir erneut eine große Debatte

(Fischer [Frankfurt (GRÜNE)]: Ob die groß wird ist die Frage!)

über die Grundsatzfrage, wie in unserem Land, wie in Westeuropa Frieden und Freiheit gesichert werden können. Wer vom Frieden spricht, muß sich am Maßstab der Freiheit messen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP- Fischer [Frankfurt (GRÜNE)]: Sagen Sie doch mal etwas über Ihr Polizeiaufgebot da draußen!)

Freiheit ist für uns Bedingung des Friedens. Sie kann nicht sein Preis sein.

(Fischer [Frankfurt (GRÜNE)]: Ihre Freiheit wird mit CS-Gas geschützt!)

Wer bereit ist, die Freiheit für den Frieden zu riskieren, wird beide verlieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Leitmotiv meines Handelns bleibt, wie ich es in der Regierungserklärung am 4. Mai dargelegt habe: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, beim NATO-Doppelbeschluß geht es nicht zuerst um eine technische Frage der Rüstung, nicht allein darum, ob eine Waffenart durch eine andere ersetzt werden soll. Es geht um das Gleichgewicht der Kräfte und damit um die Grundlage des Friedens in Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es geht um die Frage, ob Rüstungskontrolle helfen kann, ein Gleichgewicht auf niedrigem Niveau herzustellen und zu stabilisieren. Es geht darum, ob sich die Partner in der Solidargemeinschaft des Bündnisses weiter auf die Bundesrepublik Deutschland - und wir uns auf sie - verlassen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es geht darum, ob das Bündnis auf der Grundlage vertrauensvoller und freundschaftlicher Beziehungen Westeuropas zu den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada auch in den letzten Jahren dieses Jahrhunderts seine Aufgabe erfüllen kann, Frieden und Freiheit zu sichern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Schließlich, meine Damen und Herren, geht es im Kern, im entscheidenden Kern um die Frage, ob wir, ob die Bundesrepublik Deutschland willens und fähig ist, sich mit ihren Verbündeten einem Vormachtanspruch der Sowjetunion entgegenzustellen oder nicht. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Die außenpolitische Orientierung unseres Landes steht auf dem Spiel. Es darf der Sowjetunion nicht gelingen, mit Hilfe ihrer gewaltigen Rüstungsanstrengungen, die durch kein erkennbares Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnis zu rechtfertigen sind, uns Westeuropäer einzuschüchtern, unsere politische Handlungsfreiheit einzuengen und uns von den Vereinigten Staaten zu trennen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Nur wenn wir dies verhindern können, bleibt die Tür offen zu einer Friedensordnung in Europa, die auf Gerechtigkeit beruht und nicht auf Gewalt. Nur eine solche Friedensordnung kann den Frieden endgültig sichern. Das sollte auch die Sowjetunion erkennen lernen. Es ist der politische Wille der Sowjetunion, von dem wir uns bedroht fühlen, Waffen sind Gegenstände. Sie drohen niemandem. Es ist der politische Wille, es ist die Drohung, die hinter ihnen steht, die Spannungen schafft. Vergessen wir das nicht, wenn wir heute und morgen über den NATO-Doppelbeschluß diskutieren. Unsere Allianz, die NATO, ist defensiv.

(Zuruf des Abg. Fischer [Frankfurt (GRÜNE)] 

Sie hat das in 10 Jahren ihrer Existenz bewiesen. Das Atlantische Bündnis hat noch in seiner Bonner Erklärung am 10. Juni 1982 erneut bekräftigt: „Keine unserer Waffen wird jemals eingesetzt werden - es sei denn, als Antwort auf einen Angriff.“

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP- Zuruf des Abg. Schily [GRÜNE]) 

Unser eigenes Bekenntnis zum Gewaltverzicht wird erweitert durch die ethische Pflicht, andere davon abzuhalten, uns anzugreifen. Das elementare Ziel der Atlantischen Allianz war und ist es, Krieg zu verhindern, damit Frieden und Freiheit gesichert bleiben. Die sicherste und bisher einzige Garantie dafür ist die Abschreckung auch mit Nuklearwaffen. Es ist unser Ziel, jeden Krieg zu verhindern, 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

den nuklearen wie den konventionellen, denn auch konventionelle Waffen wirken verheerend. Schon wegen der gewaltigen konventionellen Bedrohung bleiben wir auf die Abschreckung auch mit Nuklearwaffen angewiesen. Ich weiß um die Angst und die Gewissensnot, die manche unserer Bürger tief beunruhigen, denn wir alle kennen die schreckliche Wirkung von Nuklearwaffen. Meine Damen und Herren, um so größer ist unsere politische und moralische Verantwortung, Voraussetzungen zu schaffen, die den Einsatz dieser und anderer Waffen verhindern. 

(Fischer [Frankfurt (GRÜNE)]: Und dazu müssen Sie sie erst einmal ins Land holen, oder wie?) 

Der Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979 soll dieses für uns Europäer gefährliche Ungleichgewicht korrigieren. 

(Fischer [Frankfurt (GRÜNE)]: Gefährliche Illusion!) 

Die Sowjetunion hat die Wahl, künftig entweder die gleiche nukleare Doppelbedrohung wie Westeuropa hinzunehmen, nämlich die Bedrohung durch Interkontinental- und Mittelstreckenraketen, oder - und das hoffen wir - zusammen mit der NATO auf eurostrategische Waffen zu verzichten oder sie auf einen niedrigstmöglichen Stand zu bringen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Mit dem Doppelbeschluß hat das Atlantische Bündnis allerdings auch für die Dauer von vier Jahren darauf verzichtet, die sowjetische Vorrüstung mit der Aufstellung gleichwertiger Waffen zu beantworten. Das Bündnis hat damit eine einseitige Vorleistung erbracht, die in der Geschichte ohne jedes Beispiel ist. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Der NATO-Doppelbeschluß ist heute Prüfstein für die Handlungsfähigkeit und den Selbstbehauptungswillen der NATO. Selbst außerhalb des Bündnisses wird heute mit Sorge verfolgt, ob die freie Welt die Kraft aufbringt, der Sowjetunion selbstbewußt zu begegnen und ihre Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Viele Staaten auch außerhalb des Bündnisses wissen, daß sie von den Erschütterungen nicht verschont bleiben würden, die eine Schwächung der NATO im Ost-West-System auslösen würde. Unsere Sicherheit, der Schutz unserer Freiheit gebieten nunmehr, daß wir mit der Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen beginnen. 

(Zuruf von den GRÜNEN: Nein!) 

Wir tun dies im Bewußtsein der Solidarität im Bündnis, dessen Partner sich gemeinsam mit uns dazu verpflichtet haben. Die NATO hat den Umfang der Stationierung von Anfang an qualitativ und quantitativ begrenzt. Damit wird deutlich, daß wir keine Bedrohung für die Sowjetunion schaffen wollen, sondern daß wir die notwendigen Maßnahmen auf ein Minimum dessen beschränken, was für unsere Sicherheit erforderlich ist. Für jede Rakete, die jetzt aufgestellt wird, wird eine andere Nuklearwaffe aus Europa abgezogen - und die Sowjetunion weiß das. Sie weiß auch, daß Ende des Jahres, wenn die ersten Einheiten einsatzbereit werden, immer noch fünf Jahre Zeit bleiben, ein Verhandlungsergebnis zu erzielen, das die Aufstellung dieser Raketen begrenzt oder rückgängig macht, 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Der Beginn der Stationierung schlägt die Tür zu Verhandlungen nicht zu. Der Westen ist bereit, so lange weiterzuverhandeln, bis ein für beide Seiten annehmbarer Kompromiß gefunden ist. Die Sowjetunion hat wenige Tage vor dieser Aussprache in Genf zu erkennen gegeben, daß sie unter Aufgabe ihrer bisherigen Position bereit sein könnte, über die britischen und französischen Systeme mit den betroffenen Staaten in einem anderen Forum zu verhandeln. Ich bin sicher, daß sich Ausdauer, zähes und konstruktives Verhandeln sowie die Bewahrung der eigenen Sicherheitsinteressen bei gleichzeitiger Anerkennung der legitimen Sicherheitsbedürfnisse der anderen Seite auszahlen werden. Die Sowjetunion verfolgt weiterhin das Ziel, die Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme in Europa grundsätzlich zu verhindern und gleichzeitig ihr Raketenmonopol zu bewahren. Dies bleibt für uns unannehmbar. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Die jüngsten Vorgänge zeigen aber: Auch die Sowjetunion erkennt, daß die Anrechnung der britischen und französischen Systeme bei INF ein von ihr selbst künstlich geschaffenes Problem darstellt. 

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU) 

Wenn die Sowjetunion tatsächlich Kompromißbereitschaft zeigen würde, sollte es möglich sein, ein Gleichgewicht zwischen den nach Reduzierungen verbleibenden sowjetischen Systemen und den zu stationierenden amerikanischen Systemen zu vereinbaren, so daß unser Anspruch auf ein möglichst niedriges, aber für die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion gleiches Niveau gewahrt wird. Ich fasse die Prinzipien zusammen, die die Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung bestimmen. Wir gehören zum Westen. Das Bündnis für Frieden und Freiheit ist elementarer Bestandteil deutscher Politik. Hier verbinden sich unsere Grundwerte, unsere Lebensformen und unsere Sicherheit. Nur ein wehrhaftes und einiges Bündnis kann den Frieden in Freiheit sichern. 

(Fischer [Frankfurt (GRÜNE)]: Amen!) 

Das Bündnis dient dem Frieden Europas und der Welt. Es bleibt Grundlage einer Politik der Verständigung mit dem Osten. Die Bundesregierung steht fest zur Sicherheitspolitik der Allianz. Diese Politik verbindet Abschreckung und Verteidigung mit Rüstungskontrolle und Abrüstung. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

An der historischen Wegscheide zwischen Erfolg in der Abrüstung und weiterer Nuklearrüstung und im Angesicht der Entscheidung, neue nukleare Mittelstreckenwaffen zu stationieren oder eine ganze Kategorie von Nuklearwaffen von dieser Erde zu verbannen oder sie wenigstens gleichwertig zu begrenzen, stehen Ost und West in der Bewährung. Ein Erfolg verlangt, daß beide Seiten ihre jeweiligen Sicherheitsbedürfnisse respektieren. Die Bundesregierung steht fest zum NATO-Doppelbeschluß. Wenn die Verhandlungen zunächst ohne Ergebnis bleiben, wird das Bündnis bis zum Jahresende die Einsatzbereitschaft der ersten Pershing-Raketen und Cruise Missiles herstellen. Die Bundesrepublik Deutschland trägt hierbei ihren Anteil. Im Bewußtsein der schweren Verantwortung, die ich in meinem Amt trage, bleibe ich bei meiner Überzeugung: 

(Zuruf des Abg. Reents [GRÜNE]) 

Nur wenn wir jetzt das Gleichgewicht wiederherstellen und damit zugleich unser Bekenntnis zum Bündnis bekräftigen, sichern wir für unser Land den Frieden in Freiheit und damit die Zukunft unseres Vaterlandes. 

(Langanhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Die Abgeordneten der CDU/CSU erheben sich - Zurufe und Pfiffe von den Grünen)

Quelle: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenogr. Berichte. Bd. 126. Plenarprotokoll 10/35. 21. November 1983, S. 2321–2332