Für die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universidad de Chile danke ich Ihnen herzlich. Diese Ehrung weiß ich wohl zu achten und zu schätzen.
Chile genießt seit jeher einen hervorragenden Ruf in der Wissenschaft. Zu diesem hohen Ansehen trägt nicht zuletzt Ihre Universität bei. Ich freue mich deshalb ganz besonders über die mir verliehene Auszeichnung, die ich zugleich als Zeichen der freundschaftlichen Verbundenheit unserer Völker betrachte.
Diese Verbundenheit - Magnifizenz, Sie haben es erwähnt - drückt sich nicht zuletzt in unseren Beziehungen auf akademischem Felde aus. 60 der Professoren der Universidad de Chile stehen derzeit im intensiven Austausch mit deutschen Wissenschaftlern. Wir pflegen damit eine lange und bewährte Tradition, und ich wünsche mir, dass sich diese Kontakte künftig noch verstärken.
Das geistige und moralische Fundament unserer Verbundenheit ist die Überzeugung von der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen - das Bekenntnis zu den Menschenrechten als der „Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt", wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 wegweisend formuliert.
Diese Verbundenheit manifestierte sich vor allem in den Jahren der Diktatur. Viele politisch Verfolgte aus Chile fanden bei uns Aufnahme. Die demokratischen Parteien in Deutschland unterstützten nach Kräften jene chilenischen Persönlichkeiten, Gruppierungen und Parteien, die sich mutig und unter großen persönlichen Opfern für die Rückkehr Ihres Landes in die Gemeinschaft freier Völker einsetzten. Keine Macht der Welt darf sich - unter welchem ideologischen Vorwand auch immer - anmaßen, über die grundlegenden Rechte der Menschen und Völker zu verfugen. Denn diese Rechte folgen daraus, dass Gott uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat.
In den Jahren der Diktatur ist zwischen Patricio Aylwin und mir eine Freundschaft gewachsen, die von persönlicher Sympathie ebenso getragen ist wie von gemeinsamen Zielen und Überzeugungen. Unvergessen in meinem Land ist Ihr großer Präsident Eduardo Frei. Er war mein Freund, und ich erinnere mich gern an unsere vielen Begegnungen. Für ihn waren die Werte des Christentums - und zuallererst die Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen - Ausdruck wahrer Humanität auch in der Politik.
Das deutsche Volk hat sich mit Ihnen gefreut, als in Chile das Ende der Diktatur kam. Und das chilenische Volk hat unser Glück nachempfinden können, als wir Deutsche vor einem Jahr die Einheit unseres Vaterlandes in freier Selbstbestimmung vollenden konnten.
Die wechselseitige Solidarität unserer Völker blickt auf eine gute Tradition zurück. Ich denke hier vor allem an die „Presidente Errázuriz". Dieses chilenische Schiff brachte nach dem Zweiten Weltkrieg eine der ersten Hilfslieferungen mit Kleidung und Lebensmitteln in das damals vom Krieg verwüstete Deutschland. Für diese großherzige Geste der Freundschaft sind wir dem chilenischen Volk zu bleibendem Dank verpflichtet.
Viele Chilenen haben nach 1973 schweres Leid erdulden müssen. Beinahe täglich wurden die Menschenrechte verletzt. Dennoch haben Sie den Kampf um Ihre Freiheit nie aufgegeben - und Sie hatten schließlich Erfolg. Wie in der ehemaligen DDR war es hier in Chile das Volk selbst in seinem unbeugsamen Streben nach Freiheit, das den demokratischen Wandel erreichte.
Ich möchte an dieser Stelle auch die Verdienste der katholischen Kirche Chiles würdigen. Sie hat sich nie gescheut, die Verletzungen der Menschenrechte in der Öffentlichkeit anzuprangern. Dem gilt unser Respekt, denn nicht zuletzt der Einsatz der Kirche ließ das alte Regime scheitern.
In der wieder gewonnenen Freiheit spüren Sie es nun jeden Tag aufs neue: Es gibt nichts Größeres als das Glück, in Freiheit und Gerechtigkeit, in einem Rechtsstaat leben zu dürfen. Dies ist auch die Erfahrung meiner Landsleute im Osten Deutschlands, die über vier Jahrzehnte von einem kommunistischen System unterdrückt wurde.
Unseren beiden Ländern kommt nunmehr - jedem auf eigene Weise - die schwierige Aufgabe zu, die Last der Vergangenheit zu bewältigen, Gräben zu überwinden und die tiefen Wunden zu heilen, die die alten Systeme den Herzen der Menschen zugefügt haben. Nationale Versöhnung ist ohne die Wahrheit unmöglich. Gerechtigkeit schließt Rache aus. Die Arbeit der chilenischen „Kommission für Wahrheit und Versöhnung" verdient auch in Deutschland und in den Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas große Beachtung.
Die Regierung Patricio Aylwin steht heute für die Achtung der Menschenrechte in Chile. Ihm und der chilenischen Demokratie gilt der Respekt und die Unterstützung der Familie der freien Völker.
Die späten achtziger Jahre und die frühen neunziger Jahre werden schon bald in die Geschichtsbücher eingehen als die Zeit, in der die Freiheit in vielen Teilen der Welt triumphierte - als eine Zeit, in der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit über Diktaturen siegten.
Militärregime und kommunistische Diktaturen wurden abgelöst von freiheitlichen, auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker begründeten Demokratien. In Lateinamerika wie auch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa hat der Freiheitswille des Volkes über die Unterdrücker gesiegt.
Wir leben in einer Zeitenwende - und die Wahl Patricio Aylwins zum Präsidenten Ihres Landes ist dafür ebenso bezeichnend wie das Verbot der Kommunisten im bisherigen Zentrum des Kommunismus, in Moskau.
Auch in Deutschland haben wir einen grundlegenden Wandel erlebt. Freiheit und Selbstbestimmung waren der Schlüssel zur Wiedererlangung der deutschen Einheit. Der Eiserne Vorhang existiert nicht mehr, die Mauer trennt nicht mehr Berlin, nicht mehr Deutschland und nicht mehr Europa. Deutschland liegt nicht mehr am Rande des freien Westens, sondern im Herzen eines in Freiheit zusammenwachsenden Europa.
Es zeigt sich überall in der Welt, dass gegen den Willen der Menschen eine staatliche Ordnung, die auf Zwang und Unterdrückung baut, auf Dauer nicht durchzusetzen ist. Mit Panzern und Bajonetten ist kein Staat zusammenzuhalten. Ohne Achtung der Menschenrechte kann es keinen Frieden geben. Über alle Grenzen hinweg vereinen die in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Menschenrechte alle Völker und Nationen. Sie sind ein Gut der gesamten Menschheit. Diese sind weder Luxus noch Privileg oder ein Gnadenakt, der von irgendeiner Regierung gewährt oder zurückgenommen werden könnte. Das weltweite Bekenntnis zu den Menschenrechten beruht nicht zuletzt darauf, dass sie von keinem Kulturkreis ausschließlich für sich reklamiert werden dürfen. Überall auf der Welt brauchen die Menschen die Achtung ihrer Würde genauso wie das tägliche Brot.
Dem muss auch unsere Politik entsprechen. Sie darf weder von doppelter Moral bestimmt werden, noch darf sie wertfrei sein: Wir müssen überall in der Welt auf die Achtung der Menschenrechte hinwirken - wir müssen für diese Werte mit friedlichen Mitteln kämpfen und notfalls auch bereit sein, sie unter persönlichen Opfern zu verteidigen. Demokratie überträgt uns neben Rechten auch die Pflicht, sie gegen ihre Feinde zu verteidigen - gleichgültig, welcher politischen Couleur diese angehören. Es darf keine Toleranz gegenüber der Intoleranz geben.
Nur dort, wo Menschen einander frei begegnen und wo Meinungen offen geäußert werden dürfen, wachsen Vertrauen und Friedfertigkeit. Deshalb muss eine umfassende Weltfriedensordnung immer auch eine Freiheitsordnung sein.
Im demokratischen Rechtsstaat Chile kommt nun auch den Universitäten eine neue, große Verantwortung zu. Gerade hier, an der Universidad de Chile, sind Sie sich dessen bewusst. Sie hatten es in den Jahren der Diktatur besonders schwer.
Universitäten müssen Orte sein, an denen die zukünftigen Richter und Anwälte, die Politiker, Beamten, Manager und Techniker, die Mediziner, die Natur- und die Kulturwissenschaftler auf ihre verantwortungsvollen Aufgaben in einer rechtsstaatlichen Demokratie vorbereitet werden. Denn die Ideen der Freiheit und des Rechts leben von den Menschen, die für sie eintreten.
Die Universidad de Chile kann in Forschung und Lehre entscheidend mit dazu beitragen, dass sich die geistigen Grundlagen eines freiheitlichen Rechtsstaats fest in den Köpfen und Herzen der Menschen verankern.
Ohne die friedensstiftende Kraft des Rechts kann ein freiheitlicher Staat nicht bestehen, und die Herrschaft des Rechts bedeutet immer auch die Herrschaft der Menschenrechte.
In Europa haben Millionen von Menschen in diesem Jahrhundert leidvoll erfahren müssen, wie die nationalsozialistische Gewaltherrschaft Recht und Menschenrechte mit Füßen trat - wie ein Regime, das die Herrschaft des Rechts missachtete, grausame Verbrechen beging. Dies und die bitteren Erfahrungen mit der kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland lehren uns: Staatliches Handeln kann nur dort den Geboten der Gerechtigkeit genügen und den Frieden in Freiheit bewahren, wo es sich im Rahmen des Rechts vollzieht. Das Recht sichert die Freiheit. Es schützt die Schwachen. Es schützt die ethnischen und religiösen Minderheiten und hilft ihnen, ihre Sprache und kulturellen Traditionen zu bewahren. Diese Aufgabe des Rechts gehört zu seinen vornehmsten.
Es ist auch klar, dass viele Konflikte allein mit dem Selbstbestimmungsrecht nicht gelöst werden können. Das Selbstbestimmungsrecht darf kein Freibrief für die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit sein. Deshalb gehören für uns das Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Schutz von Minderheiten unauflöslich zusammen. Nur wenn beide Prinzipien mit Inhalten gefüllt und gelebt werden, haben die Völker in den Konfliktregionen der Welt die Chance auf eine friedliche Zukunft in Freiheit.
Die Achtung der Menschenrechte ist nach heutigem Verständnis keine innere Angelegenheit eines einzelnen Staates - sie geht uns alle an. Die Unterdrückung der Menschenrechte erfordert entschlossenes Handeln der Gemeinschaft freier Völker.
Wer sich in diesem Zusammenhang auf das Prinzip der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten" zurückzieht, verrät sein eigenes schlechtes Gewissen und opfert völkerrechtlich verbriefte Werte den eigenen Machtinteressen. Auch der Zusammenbruch des Kommunismus ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die freie Welt von den Diktatoren jenseits des Eisernen Vorhangs immer wieder die Achtung der Menschenrechte gefordert hat. [...] Wir müssen gerade in einer Zeit gewaltiger Veränderungen aber auch immer daran denken, dass wir nie vor Rückschlägen gefeit sind. Auch in diesem Augenblick werden in Teilen der Welt Menschen willkürlich verhaftet, erniedrigt, gefoltert oder ermordet. Ihnen gilt unsere Solidarität.
Freiheit verpflichtet. Deshalb ist es wichtig, dass die jüngsten guten Erfahrungen in Ihrem Land oder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa unsere Wachsamkeit nicht erlahmen lassen.
Zwischen einer rechtsstaatlichen Demokratie und einer funktionierenden Sozialen Marktwirtschaft besteht ein unauflöslicher Zusammenhang. Politische und wirtschaftliche Ordnung müssen einander im Zeichen der Freiheit ergänzen. Wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Sicherheit können nur dort gedeihen, wo Bürgerfreiheiten und Eigentum garantiert sind. Und ebenso gilt: Ohne sozial verpflichtete Marktwirtschaft bleibt weiten Teilen der Gesellschaft der Weg zu Eigentum und Wohlstand versperrt, ist sozialer Friede ständig gefährdet. Sozialer Unfriede untergräbt die Demokratie.
Die Regierung Aylwin geht mit der konsequenten Verwirklichung ihres Wirtschaftsprogramms mutig voran. Der Erfolg wird nicht ausbleiben. Die Zukunft gehört einer sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft, in der Freiheit und Selbstverantwortung in Solidarität mit dem Nächsten und in Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl gelebt werden können. In Lateinamerika nimmt die chilenische Wirtschaft schon jetzt eine Spitzenstellung ein, und das hat gute Gründe.
Wir Deutschen gestalten im Osten unseres Vaterlands gegenwärtig einen umfassenden wirtschaftlichen Neuaufbau. Dort müssen die alten planwirtschaftlichen Elemente überwunden und ein vollkommen neues Netz von Wirtschaftsbeziehungen aufgebaut werden. [...] Die Geschwindigkeit des Strukturwandels zeigt deutlich, dass wir uns auf einem zwar schwierigen, von Rückschlägen nicht freien, aber insgesamt erfolgreichen Weg befinden. Bis Ende Juli wurden 3400 ehemals staatseigene Unternehmen an neue Eigentümer übertragen. Sie werden in den nächsten Jahren über 70 Mrd. D-Mark investieren und bieten damit gesicherte Perspektiven für über 570 000 Arbeitnehmer.
Ich will damit nur deutlich machen, dass wir dabei sind, diese gewaltige Aufgabe zu meistern und dass wir Grund zum Optimismus haben. Ich will aber auch nicht verschweigen, dass wir weiterhin große Probleme haben, dass das eigentliche Problem der Deutschen nicht in der Lösung der ökonomischen und sozialen Frage zu sehen ist.
Unser eigentliches Problem ist, dass wir jeden Tag verspüren, dass vierzig Jahre Trennung eine tiefe Zäsur bedeuten, dass die Menschen im Osten Deutschlands gedemütigt und erniedrigt wurden, dass die Allgegenwart des Staatssicherheitsdienstes das Klima vergiftet hat und dass wir viel Geduld miteinander brauchen - wir, die wir das Glück hatten, im freien Teil unseres Landes leben zu dürfen, und unsere Landsleute in den neuen Bundesländern nach vierzig Jahren Diktatur. Wir müssen menschlich miteinander umgehen, aufeinander zugehen. Ich sage es noch einmal: Wir müssen Geduld haben - was nicht immer die Nationaltugend der Deutschen war. Wir haben gute Chancen, es zu schaffen, denn die Menschen in den neuen Bundesländern wollen ihre Chance, ihre Freiheit nutzen.
Das Gelingen dieses Werks ist von großer Bedeutung weit über die Grenzen meines Landes hinaus - als Zeichen der Hoffnung und der Ermutigung auch für Ungarn, Polen, Tschechen und Slowaken, Rumänen und Bulgaren, für die Albaner und nicht zuletzt die Menschen in Jugoslawien und in der Sowjetunion, die alle weit schwierigere Startbedingungen vorfinden als die Deutschen in den neuen Bundesländern.
Nicht weniger aufmerksam verfolgen die Menschen in Lateinamerika die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Chile. Der Erfolg der chilenischen Demokratie ist ein Zeichen der Ermutigung weit über die Grenzen Ihres Landes hinaus. Deutschland weiß um seine besondere Verantwortung für die Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas und unterstützt die Reformbemühungen dort mit Nachdruck.
Es liegt auf der Hand, dass wir diese Last nicht allein tragen können. Wir sind an der Obergrenze der Belastbarkeit angelangt. Nur gemeinsame westliche Anstrengungen für die Länder des ehemaligen Warschauer Pakts versprechen auf Dauer Erfolg. Das heißt: Wir alle sollten daran denken, dass jetzt Hilfe zur Selbsthilfe ein Werk des Friedens ist.
Wir haben noch eine Erfahrung gemacht in diesen Monaten: Nicht zuletzt im Blick auf die Entwicklungen bei unseren östlichen Nachbarn muss die Europäische Gemeinschaft in die Lage versetzt werden, nach außen mit einer Stimme zu sprechen. Wie wichtig und dringlich auch eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist, führt uns der Bürgerkrieg in Jugoslawien schmerzlich vor Augen.
Zur gesamteuropäischen Verantwortung der Gemeinschaft gehört auch, dass die Länder in Mittel- und Südosteuropa, wenn sie die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden können. Der gesamte Westen hat ein Interesse daran, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dort fest verankert werden. Dabei müssen sich die Industrienationen der nördlichen Hemisphäre stets auch ihre Verantwortung für die südliche Hemisphäre vergegenwärtigen.
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts treten die Beziehungen zwischen Nord und Süd in den Vordergrund. Auch das wiedervereinigte Deutschland wird den bewährten Dialog und die Zusammenarbeit mit den Ländern Lateinamerikas intensivieren. Das gilt insbesondere für jene Staaten, die konsequent auf dem Wege der Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft vorangehen. Es liegt im Interesse des gesamten Westens und aller Industriestaaten, dass Frieden, Freiheit, Demokratie und Soziale Marktwirtschaft auf der ganzen Welt zu Hause sind.
Dies ist eine Zeitenwende. In wenigen Jahren verändert sich heute mehr, als je zuvor in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg denkbar war. Viele haben noch gar nicht begriffen, was das heißt und bedeutet.
Am Abend vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, im August 1914, erklärte der damalige britische Außenminister Lord Edward Grey: „Die Lichter gehen in ganz Europa aus, wir werden sie in unserem Leben nicht wieder leuchten sehen." Er hat leider - für seine Generation -recht behalten. Zwei Weltkriege und die Diktatur der Nationalsozialisten und der Kommunisten haben ihm zunächst recht gegeben. Doch heute, nach den großen epochalen Veränderungen in Lateinamerika sowie in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gehen die Lichter für uns alle wieder an.
Im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts haben wir die Chance, gemeinsam an einer besseren Welt zu bauen, an einer friedlichen, freien und gerechteren Welt. Liebe Studentinnen und Studenten, gerade Sie haben die Möglichkeit, an der Gestaltung des kommenden Jahrhunderts mitzuwirken, das Staffelholz aufzunehmen. Für den jetzt zwanzigjährigen Studenten oder die zwanzigjährige Studentin dieser Universität ist die Mitte des kommenden Jahrhunderts noch fassbare Erfahrung. Er oder sie hat die Möglichkeit, ein Leben vor sich zu sehen mit einem weiten Horizont - zum Beispiel ein Europa ohne Grenzen für Menschen und Waren.
Nach meiner Vorstellung ist das ein Europa, das eine enge Assoziierung mit den Ländern Lateinamerikas und nicht zuletzt mit unseren chilenischen Freunden hat. Es ist eine Welt, in der - wie nie zuvor für eine Generation - die Chance besteht, dass diese jetzt in Frieden und Freiheit leben kann.
Das ist nicht irgendein Geschenk des Himmels, sondern darin liegt Chance, aber auch Verantwortung. Deshalb möchte ich gerade den Studentinnen und Studenten zurufen: Denken Sie immer daran -auch aus der Erfahrung Ihres Volkes heraus -, Frieden und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind unerlässliche Voraussetzungen für Ihr persönliches Glück und für eine gute Zukunft unserer alten Mutter Erde. Dafür lohnt es sich zu arbeiten!
Bereits heute ist die Zusammenarbeit unserer Länder in Wirtschaft und Handel so eng wie mit wenigen anderen Staaten. Manche bezeichnen São Paulo - mit scherzhaftem Unterton - als größten Standort der deutschen Industrie im Ausland. Aber das Potential unserer Wirtschaftsbeziehungen ist bei weitem nicht ausgeschöpft. Ich bin sicher, deutsche Unternehmen werden sich hier noch stärker engagieren, wenn die von Ihnen, Herr Präsident, eingeleiteten marktwirtschaftlichen Reformen weitere Erfolge zeigen und sich damit auch die Rahmenbedingungen für ausländische Investitionen weiter verbessern. Mit Brasilien arbeiten wir im entwicklungspolitischen und im wissenschaftlich-technischen Bereich wesentlich enger zusammen als mit jedem anderen Land Lateinamerikas.
Besonders freue ich mich über das auch hier wachsende Interesse an deutscher Sprache und Kultur. Wir werden uns bemühen, ihm durch verstärkten Kulturaustausch gerecht zu werden. Die Freundschaft unserer Länder und Völker gründet auf den gemeinsamen Werten der Freiheit, der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenrechte. Brasilianer und Deutsche sind aufgerufen, an einer neuen, friedlichen und sozial gerechten Weltordnung mitzuwirken - einer Weltordnung, in der nach Auflösung des Ost-West-Gegensatzes auch Nord und Süd immer enger zusammenrücken.
Wir wollen alles in unseren Kräften Stehende tun, damit die Welt unter besseren, friedlicheren und gerechteren Vorzeichen ins nächste Jahrtausend übergehen kann.
Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 125 (8. November 1991).