22. Januar 1988

Ansprache bei dem Festakt zum 25. Jahrestag des Deutsch-Französischen Vertrages in Paris

 

Gemeinsam feiern wir heute den 22. Januar 1963 als einen Höhepunkt in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen. Ich freue mich besonders, dass das an diesem Ort geschieht. Hier im Elysée-Palast besiegelten damals Charles de Gaulle und Konrad Adenauer ein Friedenswerk von außergewöhnlichem Rang.

Ich freue mich, dass heute so viele Persönlichkeiten anwesend sind, die Baumeister der deutsch-französischen Freundschaft sind. Ich sage dies voller Dankbarkeit. Wir aus der jüngeren und mittleren Generation sollten zu keiner Stunde vergessen, dass die, die vor uns wirkten, den Weg auch zu diesem heutigen Tag bereitet haben.

Der Deutsch-Französische Vertrag ist Manifest unserer Freundschaft. Wir würdigen ihn als herausragende Leistung großer Staatsmänner wie als Ausdruck des sehnlichen Wunsches unserer Völker.

Natürlich hat es im Lauf der letzten 25 Jahre auch Augenblicke der Ernüchterung gegeben. Nicht immer hat der Vertrag halten können, was sich seine Urheber von ihm versprochen hatten. Es gab auch Missverständnisse - in unseren beiden Ländern wie bei Nachbarn und Freunden. So mancher meinte und meint, vor der Errichtung eines „Direktoriums" warnen zu müssen, das der europäischen Einigung im Wege stehen könnte. Andere fürchteten, der Vertrag könne zu einer Entfremdung beider Länder von den Vereinigten Staaten führen.

Heute müssen die Skeptiker ehrlicherweise eingestehen: Alle Ermahnungen und Befürchtungen haben sich als gegenstandslos erwiesen. Mehr denn je ist der Vertrag ein Wegweiser für die Zukunft Europas ebenso wie im Alltag der deutsch-französischen Beziehungen. Seit kurzem richten wir die Aufmerksamkeit verstärkt auf den Bereich der Sicherheitspolitik. Wenn wir heute den Deutsch-Französischen Vertrag auch auf diesem Gebiet erfüllen, greifen wir unmittelbar auf, was Konrad Adenauer und Charles de Gaulle vorgezeichnet haben. Vielleicht ist es erst heute möglich, den Vertrag in seiner ganzen Tragweite zu würdigen. Sie eröffnet sich uns vor allem durch drei Gesichtspunkte, die im Vertrag selbst eindrucksvoll zur Geltung kommen:

Erstens: das im Laufe vieler Jahrhunderte gewachsene Band unserer historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten;

Zweitens: das immer enger werdende Miteinander von Deutschen und Franzosen in den Jahren nach 1945, nach den bitteren Erfahrungen dieses Jahrhunderts; und

Drittens: die gemeinsame Verpflichtung auf das Werk der europäischen Einigung.

I.

Seit jeher hat eine wechselvolle Geschichte die Geschicke der Deutschen und Franzosen miteinander verflochten - im Ringen um die politische Gestalt Europas ebenso wie im fruchtbaren kulturellen Austausch. Solcher Austausch schuf den Grundstock eines reichen gemeinsamen Erbes; und dieses Erbe hat seinerseits eine tiefe Gemeinsamkeit in den Grundwerten gestiftet -darin liegt seine bleibende politische Bedeutung.

Unsere beiden Länder finden ihre gemeinsamen Wurzeln im Frankenreich Karls des Großen; beide schöpfen aus denselben geistigen Quellen. Wer wollte sich zum Beispiel anmaßen, den großen Kirchenlehrer Albertus Magnus - geboren in Deutschland und lange Jahre Lehrer an der Sorbonne - als einen Repräsentanten spezifisch französischen oder deutschen Denkens auszugeben?

Nicht nur im Mittelalter, in allen Phasen der Geschichte waren die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Franzosen größer, als es die Ideologen der angeblichen „Erbfeindschaft" später wahrhaben wollten. Das gilt gerade auch für das Zeitalter der Aufklärung - namentlich auf dem Gebiet der Literatur und der Philosophie. Wir tun gut daran, uns dies zu vergegenwärtigen, denn noch immer gilt es, der Versuchung des Irrationalismus zu widerstehen. Von Paris aus trat damals der Glaube an die humane, an die humanisierende Kraft der Vernunft seinen Siegeszug an. Geistige Wegbereiter wie Voltaire stießen in Deutschland nicht nur auf gelehrige Zuhörer, sondern auch auf kongeniale Denker. Von einem von ihnen, dem großen Philosophen Immanuel Kant, stammt das Wort: „Bei den Deutschen schlägt das Genie mehr in die Wurzel, bei den Franzosen mehr in die Blüte." Bei aller Skepsis, mit der wir heute solchen Vergleichen angeblicher Nationalcharaktere begegnen: In diesem Bild verbirgt sich hinter dem vermeintlichen Gegensatz auch der Hinweis auf das fruchtbare Zusammenspiel.

Der Deutsch-Französische Vertrag steht in der Tradition unserer gemeinsamen Geschichte. Zwei Nachbarländer, „dazu geschaffen, einander zu ergänzen" - wie Charles de Gaulle es einmal ganz bewusst angesichts der Gräber von Verdun ausdrückte, - haben aus ihrem gemeinsamen Weg durch die Jahrhunderte, auch aus Irrungen und Wirrungen die Konsequenz gezogen: Sie begreifen sich als Schicksalsgemeinschaft und führen ihre großen geistigen, kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Reichtümer zusammen.

Selbst in Zeiten der Entfremdung und sogar in den dunkelsten Jahren der deutsch-französischen Geschichte gab es immer auch Anteilnahme und Verständnis der Völker füreinander. Aristide Briand und Gustav Stresemann stehen auf politischem Gebiet ebenso für den Geist wechselseitiger Zuwendung wie Jean Giraudoux und Thomas Mann auf literarischem.

Kultureller Austausch kann - ich glaube: wird - Frieden und Verständnis stiften. Auch heute ist er unentbehrliche Grundlage für eine dauerhafte Freundschaft zwischen unseren Völkern wie für das Gelingen unserer Zusammenarbeit.

Zur Freundschaft gehören Bereitschaft und Bemühen, den anderen aus dessen eigenen Gegebenheiten heraus verstehen zu wollen. Zu Recht haben deshalb die kulturellen Beziehungen sowie gerade der Jugendaustausch einen so hohen Rang im Deutsch-Französischen Vertrag. Premierminister Chirac und ich haben im September vergangenen Jahres beim deutsch-französischen Jugendtreffen in Ludwigsburg bekräftigt, welch entscheidende Bedeutung dem Jugendaustausch für die gemeinsame Zukunft unserer beiden Länder zukommt. In den vergangenen 25 Jahren haben über fünf Millionen junge Deutsche und Franzosen am Austauschprogramm des deutsch-französischen Jugendwerks teilgenommen und so ein Netz von Freundschaften geknüpft. Auch Partnerschaften von Ländern, Provinzen und Städten und eine Fülle gesellschaftlicher Kontakte haben zahlreiche Bindungen geschaffen. Allen, die daran mitgewirkt haben, möchte ich für ihren großartigen Einsatz von Herzen danken.

Doch der kulturelle Auftrag des Deutsch-Französischen Vertrags ist insgesamt noch lange nicht erfüllt. Nicht nur bei der Sprache gibt es immer noch zu viel Unkenntnis. Um so wichtiger ist es heute, Versäumtes nachzuholen. Mit dem Kulturgipfel in Frankfurt 1986 sind wir ein wesentliches Stück vorangekommen. Auf diesem Weg müssen wir fortschreiten, denn so stärken wir auch das Fundament für unsere politische Zusammenarbeit.

II.

Der Elysée-Vertrag hat dieser Zusammenarbeit ein Programm gegeben und sie organisiert. Bahnbrechend war die Verpflichtung zur regelmäßigen Konsultation. Sie nahm alte nachfolgenden Regierungen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland in die Disziplin eines ständigen Dialogs. Dieses Instrumentarium hat sich gerade auch in schwierigen Zeiten bewährt - vor allem als Garant für die Kontinuität in unseren Beziehungen. Sein Wert kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, vor allem den Repräsentanten der Medien zu sagen: Gerade weil wir bei unseren alle sechs Monate stattfindenden Konsultationen nicht immer etwas Bahnbrechendes beschließen, bieten wir ein Beispiel für eine neue Normalität, die in Wahrheit eine historische Sensation ist. Paul Claudel sprach einmal von der Notwendigkeit, die Straßburger Eide zu erneuern. Mit dem Deutsch-Französischen Vertrag haben wir mehr getan: Wir haben eine immer enger werdende Gemeinschaft des Vertrauens in europäischer Perspektive geschaffen.

Der Vertrag vom 22. Januar 1963 hat damals zugleich die Aussöhnung zwischen unseren beiden Völkern im Bewusstsein und in den Herzen der Menschen verankert. Er besiegelte ein Werk, das noch 1945 den meisten fast unvorstellbar erschien - und doch war schon damals die Hand zur Versöhnung ausgestreckt. So schrieb, noch ehe in Europa die Waffen schwiegen, Albert Camus seine ..Briefe an einen deutschen Freund" und wirkte damit als literarischer Vorbote der Aussöhnung - und letztlich auch dessen, was wir heute bewegen.

Ein solch mutiges Zeugnis der Menschlichkeit war damals noch vielen unverständlich - nach allem, was gerade geschehen war. Wilhelm Hausenstein hat diese Hypothek in seinen „Pariser Erinnerungen" so beschrieben: „Ungezählte Familien in Paris gedachten eines Toten, eines Misshandelten, eines Deportierten. Es musste in weiten Kreisen mindestens mit einer abgrundtiefen Abneigung gegen alles Deutsche gerechnet werden..."

Wir gedenken am heutigen Tag daher besonders dankbar jener Männer und Frauen, die vor diesem dunklen Hintergrund unermüdlich für die Versöhnung unserer Völker gewirkt haben. Ich nenne Robert Schuman und Jean Monnet, die das Wagnis des Schuman-Planes eingingen und damit einen entscheidenden Durchbruch erzielten. Ich nenne Jean du Rivau und Emmanuel Mounier, Carlo Schmid und Walter Hallstein. Gemeinsam mit vielen anderen - einige von ihnen sind hier im Saal - trugen sie maßgeblich dazu bei, dass das Werk der Aussöhnung gelingen konnte und dass es schneller vollendet wurde, als die meisten für möglich gehalten hätten. Bereits 1954 bestand es einen entscheidenden Test, als Konrad Adenauer und Pierre Mendès-France sich auf das Saar-Statut verständigten. So bezeichnete Adenauer den 23. Oktober 1954, den Tag der Unterzeichnung der Pariser Verträge, als eigentlichen „Tag der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland".

Es schmälert nicht die Verdienste all dieser Persönlichkeiten um unsere Verständigung, wenn wir offen aussprechen, dass nach 1945 - anders als zwischen den Weltkriegen - auch die politischen Voraussetzungen dafür günstig waren. Neben den sehnlichen Wunsch nach Frieden trat die Erkenntnis, dass Deutsche und Franzosen ihre Freiheit nur noch gemeinsam zu sichern und zu verteidigen vermochten - gegen das beharrliche Bemühen der Sowjetunion, ihre Einflusssphäre in Europa immer weiter auszudehnen. Mitentscheidend war schließlich die Tatsache, dass zwei wesentliche Voraussetzungen für eine Verständigung erfüllt waren:

Erstens: die Errichtung einer stabilen Demokratie im freien Teil Deutschlands. Erst der erfolgreiche Aufbau dieser freiheitlichen Ordnung hat die Versöhnung möglich gemacht. Nach 150 Jahren war damit die Kluft, die sich im politischen Denken zwischen Frankreich und Deutschland aufgetan hatte, endlich geschlossen. In der Begegnung freier Bürger aus freien Ländern konnte Vertrauen wachsen.

Zweitens: der Beginn des europäischen Einigungswerkes. Die europäischen Institutionen boten den Rahmen, in dem sich die deutsch-französische Verständigung vollziehen konnte. Sie haben als übergreifende Friedensordnung gewirkt, in der Völker zusammenwachsen konnten. Vergessen wir dies niemals, wenn wir heute über oft schleppende und mühsame Entscheidungsprozesse in der Gemeinschaft klagen.

Es ist wichtig, sich diese beiden Voraussetzungen immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Sie verweisen auf Zusammenhänge, die für die Bundesrepublik Deutschland zu einem Teil ihrer Staatsraison geworden sind:

Ich spreche zum einen von dem unauflöslichen Zusammenhang zwischen der Freiheit unseres Landes und seiner Zugehörigkeit zum westlichen Bündnis. Wirstehen an der Seite Frankreichs und der anderen westlichen Demokratien, weil dort unser geistiger und politischer Standort ist.

Ich betone das gerade auch im Hinblick auf manche Sorgen - vielleicht sind es nur Stimmen - in Frankreich. Nach den Erfahrungen dieses Jahrhunderts steht für die überwältigende Mehrheit der Deutschen im freien Teil ihres Vaterlandes fest, dass das Bündnis mit den freien Völkern unwiderruflich ist und dass vor allem die enge Freundschaft mit Frankreich unserer Nation den Weg in eine gute, in eine friedliche Zukunft weist.

Ein weiterer Zusammenhang besteht zwischen der deutsch-französischen Freundschaft und der europäischen Einigung. So wie Europa den notwendigen Rahmen für die deutsch-französische Aussöhnung bot, so war und ist diese Verständigung auch Voraussetzung, Grundlage und bleibender Antrieb für den europäischen Einigungsprozess.

III.

So bekräftigt der Elysée-Vertrag konsequenterweise, „dass die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern einen unerlässlichen Schritt auf dem Wege zu dem Vereinigten Europa bedeutet, welches das Ziel beider Völker ist".

Es ist erklärter Inhalt des Vertrages, dass Deutsche und Franzosen eine besondere europäische Verantwortung übernehmen und auf dem Weg zur Europäischen Union gemeinsam als treibende Kraft wirken. Es ist wahr: Nicht immer nach 1963 wurde dieser europäische Auftrag mit dem notwendigen Engagement erfüllt. Seit einigen Jahren aber nehmen Deutsche und Franzosen diese Verpflichtung wieder in vollem Umfang wahr. Die Schaffung des Europäischen Währungssystems war ein solcher Neubeginn. Auf diesem Wege müssen und wollen wir weitergehen.

Zahlreiche deutsch-französische Initiativen sind seither gefolgt, die der europäischen Einigung neuen Auftrieb gegeben haben. Ich erwähne hier vor allem die Technologie-Initiative EUREKA und die Einheitliche Europäische Akte. Damit haben wir uns ehrgeizige Ziele gesetzt, die über den Tag weit hinausweisen.

Lange und mühsame Verhandlungen lassen sich nicht vermeiden, wenn zwölf Staaten komplizierte Entscheidungen treffen müssen, und es ist oft schwierig, Kompromisse zu finden. Wir alle wissen, dass wir die aktuellen Finanz- und Agrarprobleme lösen müssen, wenn die Gemeinschaft Zukunft haben soll. Aber wir wissen auch: Dieses Bild von Europa kann kaum begeistern und die Herzen - nicht zuletzt der jungen Generation - gewinnen. Dafür brauchen wir eine Vision - und mehr denn je muss eine solche Vision das Werk der deutsch-französischen Zusammenarbeit sein:

Wir müssen angesichts der Realitäten unserer Welt eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik schaffen. Die Brücke über den Atlantik zu unseren amerikanischen Freunden wird auf Dauer nur dann halten können, wenn sie auf beiden Seiten auf festgefügten Pfeilern ruht. Wir ziehen mit unseren politischen Entscheidungen auch die Konsequenz aus einer grundlegenden Prämisse des Deutsch-Französischen Vertrags. Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland können nur gemeinsam Sicherheit finden. Die vielen französischen Soldaten, die in der Bundesrepublik Deutschland Dienst tun, leisten einen unverzichtbaren Beitrag für Freiheit und Sicherheit unserer beiden Länder. Ich möchte ihnen dafür herzlich danken.

Wir müssen das Territorium unserer beiden Länder als einen geschlossenen Verteidigungsraum begreifen, als eine Einheit, die wir nur gemeinsam schützen können -oder überhaupt nicht.

Wir haben heute die Vereinbarung über die Schaffung eines deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates unterzeichnet. Sie ist ein weithin sichtbarer den Schicksalsgemeinschaft. Mit dieser Vereinbarung bekräftigen Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland ihre Entschlossenheit, im Einklang mit ihren vertraglichen Verpflichtungen in der WEU und der NATO ihre Sicherheit und ihre Freiheit gemeinsam zu verteidigen.

Jetzt gilt es, mit großem Ernst an die Aufgaben heranzugehen, die wir uns gestellt haben: Dazu gehört insbesondere der Beschluss,

  • gemeinsame Konzeptionen auf dem Gebiet von Verteidigung und Sicherheit auszuarbeiten sowie
  • eine enge Abstimmung in allen die Sicherheit Europas angehenden Fragen einschließlich denen von Rüstungskontrolle und Abrüstung sicherzustellen.

Dabei sind wir uns bewusst, dass es in der Praxis nicht immer einfach sein wird, diesen Beschluss auszuführen. Aber gerade an diesen Aufgaben führt kein Weg vorbei, wenn wir das von Staatspräsident Mitterrand geprägte Leitbild von unserer Schicksalsgemeinschaft in die Tat umsetzen wollen.

Wir haben den Zeitpunkt für diese auch institutionell greifbare Verstärkung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland nicht ohne Bedacht gewählt. In die Politik zwischen West und Ost ist Bewegung gekommen. Ihre Chancen wollen wir wahrnehmen. Wir wären aber schlecht beraten, wenn wir uns von Stimmungen mitreißen ließen, statt nüchtern unsere gemeinsamen Interessen in den Dialog zwischen West und Ost einzubringen.

Wir - Franzosen und Deutsche - wollen Fortschritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle, aber auf keinen Fall um den Preis unserer Sicherheit. Ziel unserer Politik ist und bleibt die Verhinderung eines jeden Krieges in Europa, nuklear wie konventionell.

Auf der Tagesordnung stehen nicht nur Abrüstung und Rüstungskontrolle. Wenn mehr Vertrauen und Stabilität zwischen West und Ost entstehen sollen, müssen auch die politischen und ideologischen Ursachen des West-Ost-Konflikts abgebaut werden. Wir sind bereit, hierzu einen konstruktiven Beitrag zu leisten, und ich glaube, dass Frankreich und Deutschland sich entschließen sollten, die jetzt vor uns liegende Phase der Ostpolitik aktiv und -wo immer möglich - in stärkerem Maße gemeinsam mit zu gestalten. Ein solcher gemeinsamer Aufbruch würde deutlich machen, dass unsere beiden Länder in einem Kernbereich ihrer Außenpolitik zusammenstehen und sich nicht auseinanderdividieren lassen. Wie auch immer die historischen Stichworte lauten, es darf nie wieder dahin kommen, dass einer von uns in Versuchung geführt wird, seine außenpolitischen Interessen zu Lasten des anderen zu verfolgen.

Am heutigen Tag haben wir auch einen Beschluss über die Aufstellung eines deutsch-französischen Truppenverbandes gefällt. Damit ist eine Keimzelle geschaffen, die sich weiterentwickeln kann - ein Kristallisationspunkt für eine deutsch-französische Sicherheitsgemeinschaft. Am Ende dieses Weges muss eine gemeinsame europäische Verteidigung stehen, wenn möglich mit einer europäischen Armee - unter Einschluss unserer europäischen Freunde und in vertrauensvoller Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.

Auch die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion wird maßgeblich von der deutsch-französischen Zusammenarbeit abhängen. Ein entscheidender Schritt dazu wird sein, bis 1992 in der Europäischen Gemeinschaft den Binnenmarkt zu verwirklichen. Die Bundesrepublik Deutschland ist bereit- und ich denke, auch unsere französischen Freunde sind es -, hier die notwendigen Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie Opfer kosten. Dabei kommt es einerseits darauf an, alle noch störenden Handelsbarrieren zu beseitigen. Andererseits müssen unsere Industrien diesen Markt noch mehr als bisher als eine Chance zur Zusammenarbeit nutzen.

Der Binnenmarkt wird seine Dynamik nur voll entfalten können, wenn die europäischen Staaten ihre Wirtschaftsund Finanzpolitik sehr viel stärker koordinieren. Dabei müssen wirtschaftliche Konvergenz und währungspolitische Disziplin einander ergänzen. Wir haben gerade in letzter Zeit immer wieder die Erfahrung gemacht, dass kein Land wirtschafts- und finanzpolitisch auf sich allein gestellt ist und seinen Weg allein gehen kann.

Nur wenn wir unsere Volkswirtschaften zum Vorteil unserer Länder noch besser koordinieren, werden wir mit den vielfältigen Belastungen fertig werden, die aus gegenseitigen Abhängigkeiten resultieren. Wie so oft in europäischen Fragen, haben Frankreich und Deutschland auch in diesem Bereich eine wichtige Aufgabe übernommen.

Die Vereinbarung über einen deutsch-französischen Finanz- und Wirtschaftsrat entspringt dem berechtigten Wunsch nach einer größeren Harmonisierung der Wirtschaftspolitiken beider Länder und ihrer Position in internationalen Finanz- und Wirtschaftsfragen. Dieser neue Impuls soll dazu beitragen, den nationalen Egoismus zu überwinden und praktische Solidarität - auf der Grundlage gemeinsamer Interessen - zu verwirklichen. Damit wollen wir auch ein Beispiel für andere setzen -und ich hoffe, dass sich möglichst viele andere in Europa diesem Beispiel anschließen werden.

Zu unserer Vision von Europa gehört schließlich auch der Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung - einer Friedensordnung, in der die Menschen in gemeinsamer Freiheit und auf der Grundlage der Menschenrechte zusammenfinden können. Nur so können wir die Teilung Europas, nur so können wir auch die Teilung Deutschlands wirklich überwinden - und ich weiß, dass diese Teilung in den Augen vieler Franzosen nicht weniger widernatürlich ist als in den Augen der Deutschen.

Gerade wir Deutschen haben in unserer Geschichte zahlreiche Erfahrungen mit föderalistischen Strukturen gemacht, die heute wieder sehr aktuell sind. Der Kern der deutschen wie der europäischen Frage ist und bleibt die Freiheit. Dieselbe Freiheit, die als Leitidee Deutschen und Franzosen gemeinsam ist und die sie zusammengeführt hat, wollen wir für das gesamte Europa. Wir tragen Verantwortung für die Ideale der freiheitlichen Demokratie und für die Wahrung der Menschenrechte - in Europa und weltweit. Vereinen wir unsere Bemühungen, um so dieser Verantwortung gerecht zu werden.

Deutsche und Franzosen müssen gemeinsam den Kern einer Europäischen Union bilden - einer Union, die sich nicht einfach als gemeinsamer Markt begreift, sondern als Gemeinschaft von Werten einer freiheitlichen, rechts- und sozialstaatlichen Demokratie. Wir müssen fähig sein, unsere Interessen in immer stärkerem Maße zu bündeln und als Gemeinschaft des Handelns aufzutreten. Wir laden unsere europäischen Partner herzlich ein, an diesem Werk mitzuarbeiten - wir werden uns nicht davon abbringen lassen, diese Union voranzubringen und sie gemeinsam mit jenen zu vollenden, die daran mitwirken wollen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es heute -zwölf Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts, das in zwei Weltkriegen Millionen Tote und so viel Not, Leid und Tränen sah, - der historische Auftrag an unsere Generation ist, nach der Verwirklichung dieser europäischen Idee zu streben. Nur so können wir Frieden und Freiheit für unsere Länder und Völker, für unseren Kontinent auf Dauer sichern.

Dieser Anstrengung werden wir uns stellen, so wie wir es uns vor 25 Jahren im Deutsch-Französischen Vertrag versprochen haben. Deutsche und Franzosen wollen gemeinsam eine Zukunft in Freiheit gestalten - im Bewusstsein geschichtlicher Erfahrungen und unserer Verantwortung für Europa und für die Generationen, die nach uns kommen.

Es lebe die deutsch-französische Freundschaft, es lebe Europa.