22. Juli 1997

Rede anlässlich der feierlichen Inbetriebnahme des Warmwalzwerkes der EKO Stahl GmbH in Eisenhüttenstadt

 

Herr Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Präsident Gandois,
lieber Herr Dr. Krüger,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
meine sehr verehrten Damen und Herren
und vor allem: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von EKO Stahl,

 

I.

 

die heutige feierliche Inbetriebnahme des Warmwalzwerkes ist ein gutes Ereignis - für Ihr Unternehmen genauso wie für die Region. Sicher haben Sie gleichwohl Verständnis dafür, daß ich mich von dieser Stelle aus zunächst an die vielen Menschen hier in Eisenhüttenstadt, in Frankfurt an der Oder, im Oderbruch und in den vielen anderen Orten entlang der Oder wende, die in diesen Tagen von einer furchtbaren Flutkatastrophe betroffen sind.

 

Bevor ich hierher zu Ihnen gekommen bin, habe ich mir selbst ein Bild von der Lage gemacht und mit unmittelbar betroffenen Menschen darüber gesprochen, was wir - die Bundesregierung und alle Verantwortlichen in der Bundesrepublik Deutschland - gemeinsam mit der Landesregierung von Brandenburg für sie tun können. Ich werde auch direkt im Anschluß an die Eröffnungsfeierlichkeit noch einmal in die Überflutungsgebiete reisen. Sie werden verstehen, daß mein Besuch bei Ihnen deshalb ein wenig kürzer ausfallen wird als ursprünglich geplant.

 

Meine Damen und Herren, in diesen Tagen der Not - und wir werden noch viele davon zu bestehen haben - ist es ein Gebot der Solidarität, alle Kräfte unseres Volkes zu sammeln und den Menschen an der Oder zu helfen. Dies ist meine Botschaft an Sie als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Das Bundeskabinett wird sich morgen damit befassen, was jetzt weiter zu tun ist. Von dieser Stelle aus sichere ich zu - und zwar in Absprache mit den Verantwortlichen von Bundeswehr und Bundesgrenzschutz sowie von allen zivilen und kommunalen Stellen -, daß wir seitens des Bundes jede nur denkbare Unterstützung geben. Wenn der Einsatz weiterer Soldaten, Männer und Frauen des Bundesgrenzschutzes und anderer Organisationen notwendig ist, wird dies geschehen. Unser wichtigstes Ziel ist es, zu helfen, wo immer wir helfen können. Dies ist der Auftrag dieser Stunde.

 

Meine Damen und Herren, die offizielle Inbetriebnahme des neuen Warmwalzwerkes, die wir heute feiern, ist - ich bekräftige dies noch einmal - ein gutes Ereignis vor allem für die Menschen, die in der Region Eisenhüttenstadt wohnen und arbeiten. Ich sage dies insbesondere vor dem Hintergrund des Auf und Ab, des Kampfes ums Überleben von EKO. Sie, Herr Dr. Krüger, haben dies in Ihrer Ansprache noch einmal geschildert, auch der Betriebsratsvorsitzende und Herr Ministerpräsident Stolpe haben es angesprochen. Ich sage es ebenso mit Blick auf manche Bemerkung auch aus dem Westen Deutschlands, die besser unterblieben wäre. Die Entwicklung hat solche Stimmen widerlegt. Heute können wir feststellen: EKO hat eine gute Zukunft. Dazu gratuliere ich allen Beteiligten.

 

Mit besonderer Herzlichkeit und Sympathie begrüße ich Sie, lieber Herr Präsident Gandois. Sie haben im besten Sinne unternehmerische Weitsicht bewiesen. Sie haben sich zu einem Zeitpunkt für den Standort Eisenhüttenstadt entschieden, zu dem Sie noch nicht wissen konnten, daß vor wenigen Wochen beim Europäischen Rat in Amsterdam die Weichen gestellt würden für den Beitritt unseres Nachbarn Polen in die Europäische Union. Sie konnten auch nicht wissen, daß - wie vor zwei Wochen beim NATO-Gipfel in Madrid geschehen - beschlossen würde, NATO-Beitrittsverhandlungen mit Polen aufzunehmen. Diese Entwicklungen bedeuten, daß diese Grenzregion, die mehr als viele andere deutsche Landschaften in diesem Jahrhundert besonders gelitten hat, aus seiner Randlage wieder in die Mitte des vereinten Europas rücken wird.

 

Dies alles unterstreicht, daß Sie, Herr Präsident, hier eine gute Standortwahl getroffen haben. Ich gratuliere Ihnen auch, weil Sie sich damit gegen eine Vielzahl von Skeptikern durchgesetzt haben, die Ihnen abgeraten haben. Die heutige Veranstaltung haben Sie unter das Thema gestellt: Aufbruch ins neue Jahrtausend. Diesen Weg gehen Sie gemeinsam mit hochqualifizierten und motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die etwas leisten wollen und können - ganz in der Tradition der Eltern und Großeltern, die ihren Fleiß und Aufbauwillen in den vergangenen fünf Jahrzehnten immer wieder unter Beweis gestellt haben.

 

Meine Damen und Herren, das neue Warmwalzwerk mit einem Investitionsvolumen von 630 Millionen D-Mark ist das Kernstück des Erneuerungsprogramms von EKO Stahl. Mit der heutigen offiziellen Inbetriebnahme ist das ehrgeizige Ziel erreicht worden, an diesem Ort ein hochmodernes und konkurrenzfähiges Hüttenwerk zu schaffen. Dies ist auch für mich selbst ein Anlaß zur Freude, denn ich habe mich auch persönlich für die Zukunft des Stahlstandortes Eisenhüttenstadt eingesetzt. Sie, Herr Betriebsratsvorsitzender, haben in diesem Zusammenhang in Ihrer Rede Worte des Dankes an mich gerichtet. Dies ist - anders als Sie vorhin vermutet haben - beileibe kein Ausnahmefall. Eine Ausnahme ist allerdings, daß ein Betriebsratsvorsitzender dies nicht hinter verschlossenen Türen sagt, sondern klar und deutlich in der Öffentlichkeit ausspricht.

 

Bund und Land unterstützen die gesamte Modernisierung des Hüttenwerks mit 660 Millionen D-Mark. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch all jenen danken, die mitgeholfen haben, das Erneuerungsprogramm schnell umzusetzen. Ich denke dabei an die Baufirmen und die Genehmigungsbehörden, die es gemeinsam erreicht haben, das neue Warmwalzwerk in einer vorbildlich kurzen Genehmigungs- und Bauzeit von nur 24 Monaten zu errichten. Gerade in Westdeutschland kann man sich ein positives Beispiel daran nehmen, wie mit vernünftiger Zusammenarbeit viel für den eigenen Standort erreicht werden kann.

 

Ein Wort des Dankes gilt ebenso der EU-Kommission in Brüssel, die in einer verständnisvollen Weise die besondere Situation von EKO Stahl erkannt und konstruktiv mitgeholfen hat, die Zukunft des Unternehmens zu sichern. Vor allem aber danke ich Gewerkschaft und Betriebsrat. Ministerpräsident Stolpe hat in seiner Ansprache an die vielen Beschäftigten erinnert, die den Weg der Erneuerung von EKO Stahl nicht bis zum Ende mitgehen konnten. Betriebsrat und Gewerkschaft haben diesen schmerzlichen, aber unvermeidlichen Strukturwandel solidarisch mitgetragen - und sie haben damit ein Beispiel gegeben, von dem auch ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen etwas lernen können.

 

Heute können wir sagen, daß sich die Anstrengungen der letzten Jahre gelohnt haben. Im EKO Stahlwerk Eisenhüttenstadt sind moderne und zukunftsfähige Arbeitsplätze für über 2500 Menschen geschaffen worden. In ehemaligen EKO-Betriebseinheiten, die jetzt selbständige Unternehmen sind, arbeitet darüber hinaus noch einmal fast die gleiche Zahl von Beschäftigten.

 

II.

 

Meine Damen und Herren, die Modernisierung von EKO Stahl ist ein weiterer bedeutender Schritt im wirtschaftlichen Aufholprozeß der neuen Länder. Vor fast sieben Jahren - am 1. Juli 1990 - ist die innerdeutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft getreten. Dies war der Startschuß für die Einführung der D-Mark und der Sozialen Marktwirtschaft auf dem Gebiet der damaligen DDR. In den vergangenen sieben Jahren hat es neben unbestreitbaren Erfolgen natürlich auch Schwierigkeiten, Sorgen, ja Verbitterungen gegeben, die uns manchmal den Blick auf das Erreichte verstellen. Gerade die vielen Besucher aber, die Jahr für Jahr hierher in die neuen Länder kommen, äußern sich immer wieder anerkennend über die großen Fortschritte, die seither erzielt worden sind.

 

Die positive Bilanz des Aufbaus Ost ist das Ergebnis einer beispiellosen gemeinsamen Kraftanstrengung der Deutschen in den alten und den neuen Ländern. Von 1991 bis Ende 1997 werden öffentliche Transfers von netto rund 900 Milliarden D-Mark in den Aufholprozeß Ostdeutschlands investiert worden sein. Dies ist ein in der Geschichte einmaliger Vorgang - auch wenn man fairerweise gleich hinzufügen muß, daß in dieser Rechnung auch Leistungen enthalten sind, die in ähnlicher Form ebenfalls die Bürger in den alten Ländern erhalten.

 

In den vergangenen sieben Jahren haben wir gemeinsam viel erreicht, zum Beispiel beim Neuaufbau der Verkehrsinfrastruktur. Im Zeitraum von 1991 bis 1996 wurden insgesamt 65 Milliarden D-Mark in ein modernes Schienen-, Straßen- und Wasserstraßennetz in den neuen Ländern investiert. Rund 45 Prozent der gesamtdeutschen Verkehrsinvestitionen gehen hierher - gemessen an Bevölkerungszahl und Fläche ein weit überproportionaler Anteil.

 

Ich bekenne mich klar und deutlich zum Vorrang für Investitionen in den neuen Ländern. Solidarität in Deutschland heißt auch, daß jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Sonnenseite der deutschen Geschichte gelebt haben, die Verpflichtung haben, denjenigen beim Aufholprozeß zu helfen, die dieses Glück nicht hatten. Die große Mehrzahl der Menschen in Westdeutschland nimmt diese Verpflichtung ernst. Die meisten Bürgerinnen und Bürger in meiner Heimatstadt Ludwigshafen zum Beispiel verstehen, daß dort jetzt keine neue Brücke über den Rhein gebaut werden kann, sondern daß zuerst Straßen und Schienenwege in den neuen Ländern modernisiert werden müssen.

 

Die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit behalten trotz der schwierigen Haushaltslage Priorität. Im Dezember dieses Jahres werde ich nicht weit von hier die neue Autobahngrenzbrücke bei Frankfurt an der Oder gemeinsam mit Repräsentanten unserer polnischen Nachbarn für den Verkehr freigeben. Damit wird ein für diese Region lästiger Engpaß für Reisende von und nach Polen endlich beseitigt.

 

Mit einem Wort: Die neuen Länder sind auf einem guten Wege, wenngleich natürlich noch eine große Strecke zurückzulegen ist. Der Aufschwung Ost wird sich in diesem Jahr fortsetzen - wenn auch mit verlangsamtem Tempo. Die Bauwirtschaft verliert mit dem Fortschreiten des Aufholprozesses an Gewicht, während Dienstleistungen und Industrie sich dagegen dynamisch entwickeln. Allerdings reicht dies noch nicht aus, die Lücke zu füllen, die durch die ruhigere Gangart der Baukonjunktur entstanden ist.

 

Die Bundesregierung wird ihre Unterstützung für den Aufbau Ost deshalb auch in Zukunft auf hohem Niveau fortsetzen. Das Förderkonzept Ost für den Zeitraum 1999 bis 2004 ist nach der Zustimmung des Bundesrates am 4. Juli 1997 nun unter Dach und Fach. Damit haben Investoren jetzt Planungssicherheit bei den Förderbedingungen für die nächsten siebeneinhalb Jahre. Ich bin sicher, daß dies dem Aufbau Ost zusätzlichen Schwung gibt. Ein weiteres positives Signal für den Standort Ostdeutschland wäre es, wenn wir bei der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer in den alten Ländern jetzt endlich vorankommen würden, damit diese Steuer in den neuen Ländern gar nicht erst eingeführt werden muß.

 

In diesen Tagen haben wir auch ein gutes Ergebnis für die Braunkohle-Altlastensanierung in der Lausitz und im mitteldeutschen Revier erzielt. Viele Bergleute haben hier eine neue Beschäftigung gefunden. Bund und ostdeutsche Braunkohle-Erzeugerländer haben sich jetzt auf ein Finanzvolumen für die Braunkohlesanierung in Höhe von insgesamt sechs Milliarden D-Mark für den Zeitraum 1998 bis 2002 verständigt. Damit können nach Expertenschätzung in diesem Zeitraum 12000 Arbeitsplätze gesichert werden. Auch dies ist ein gutes Beispiel dafür, daß wir beim Aufbau Ost vorankommen.

 

Einen weiteren positiven Schritt haben vor zwei Monaten Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsam getan. In Berlin haben wir am 22. Mai 1997 die "Gemeinsame Initiative für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland" vorgestellt. Darin verpflichten sich die Tarifpartner, ihre Abschlüsse am Beschäftigungsaufbau und der Leistungskraft der Betriebe zu orientieren. Dies ist - gemessen an der Tarifpolitik der letzten Jahre in Deutschland - ein bedeutender Fortschritt. Ein wichtiges Signal in diese Richtung ist der vor einer Woche in der ostdeutschen Bauwirtschaft erzielte Tarifabschluß. Das Durchbrechen des starren Stufenplans zur Lohnangleichung an Westniveau und die vereinbarte Tariföffnungsklausel verstärken die Chance, bestehende Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen.

 

Darüber hinaus haben sich Industrie und Handel verbindliche Vorgaben gesetzt, um ihre Investitionen dort zu steigern und ihre Bezüge aus den neuen Ländern zu erhöhen. Am 1. September 1997 werde ich in Düsseldorf die Konsumgütermesse Ost eröffnen, die ich Anfang dieses Jahres in einem Spitzengespräch mit westdeutschen Handelsunternehmen angeregt habe. Dort können Hersteller aus den neuen Ländern Einkäufern aus Westdeutschland und dem Ausland ihre Produkte vorstellen, ihr Können unter Beweis stellen und neue Kunden gewinnen. Auch dies ist ein weiterer Schritt auf dem langen und schwierigen, aber ebenso dem erfolgreichen Weg zum Aufbau Ost.

 

III.

 

Meine Damen und Herren, vor einem Jahrzehnt, im Jahr 1987, lag für mich - und dies geht den meisten von Ihnen sicher ebenso - die Vorstellung, daß wir heute gemeinsam in Eisenhüttenstadt die Inbetriebnahme eines neuen Warmwalzwerkes feiern würden, in weiter Ferne. Im Jahr 1990 ist die Vision der Deutschen Einheit Wirklichkeit geworden. Ebenfalls vor etwa einem Jahrzehnt haben wir noch Diskussionen darüber geführt, ob wir auf dem damaligen Bundesgebiet Kurzstreckenraketen des Typs Lance stationieren. Ich habe dies damals aus einer Reihe von Gründen entschieden abgelehnt. Heute weiß kaum jemand mehr in Deutschland, wofür der Begriff Lance-Rakete gestanden hat. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, an dem wir ermessen können, welche enorme Wegstrecke wir in den vergangenen zehn Jahren zurückgelegt haben.

 

Entscheidend war dabei, daß wir die großen nationalen Herausforderungen - ungeachtet aller auch notwendigen Auseinandersetzungen des Tages - eben nicht im unversöhnlichen Gegeneinander, sondern mit der Bereitschaft zum konstruktiven Miteinander angegangen sind. Gesprächsfähigkeit und gemeinsames Handeln - in diesem Geist werden wir auch die anstehenden Probleme lösen und dem wiedervereinigten Deutschland eine gute Zukunft sichern.

 

Ich denke dabei zum Beispiel an das Thema Ausbildung. In diesem Jahr suchen 630000 Jugendliche eine Lehrstelle. Dies sind 13000 mehr als in den vergangenen Jahren. Bis zum Jahr 2005 wird die Zahl der Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen, noch weiter steigen. Industrien, Unternehmen, Handwerksbetriebe und -kammern, Gewerkschaften und Betriebsräte - alle sind gefordert, alles zu tun, damit junge Frauen und Männer in Deutschland heute und in Zukunft eine Lehrstelle erhalten, wenn sie dies wollen und die notwendigen Voraussetzungen erfüllen.

 

Die Bundesregierung und die neuen Länder werden in diesem Jahr mit ihrem Mitte Mai beschlossenen Aktionsprogramm Lehrstellen-Ost 15000 zusätzliche Ausbildungsplätze fördern, da ein Ausgleich auf dem ostdeutschen Lehrstellenmarkt noch nicht aus eigener Kraft möglich ist. Meine Bitte an alle Anwesenden ist es, sich an der großen Aufgabe, eine ausreichende Zahl von Lehrstellen bereitzustellen, aktiv zu beteiligen - und zwar nicht nur mit dem Rechenstift in der Hand. Dies sage ich bewußt auch an die Adresse der Großbetriebe in unserem Land. Wir alle stehen in der Verantwortung dafür, jungen Menschen mit einer qualifizierten Ausbildung das Tor zu einer guten Zukunft zu öffnen. Dies ist nicht zuletzt eine Frage an die moralische Kraft unseres Volkes.

 

Meine Damen und Herren, Deutschland befindet sich zweieinhalb Jahre vor Beginn des neuen Jahrtausends inmitten tiefgreifender Veränderungen in der Welt. Wir müssen uns zum Beispiel auf die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft einstellen. Die Gewichte im Welthandel verschieben sich. Deutschland ist nicht schlechter geworden, aber andere Länder haben aufgeholt und holen weiter auf. Die alte Bundesrepublik ist in den fünf Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach den USA zur zweitgrößten Exportnation der Welt herangewachsen. Darauf sind wir stets stolz gewesen.

 

Das wiedervereinigte Deutschland hat alle Chancen, auch in Zukunft einen Spitzenplatz zu halten - wenn wir die Zeichen der Zeit erkennen, umdenken und entsprechend handeln. Notwendige Reformen dulden keinen Aufschub, sie müssen jetzt durchgesetzt werden. Darin dürfen wir uns auch von denjenigen nicht beirren lassen, die uns einreden wollen, angesichts der bevorstehenden Urlaubszeit oder gar einer anstehenden Bundestagswahl könnten wir nichts tun. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft - die Grenze zu Polen liegt nur wenige Kilometer von hier entfernt - und ebenso in vielen anderen Ländern Mittel- und Osteuropas finden dramatische Veränderungen statt. Natürlich gibt es in Polen, in der Tschechischen Republik, in Ungarn, in der Ukraine und in Rußland - ich nenne nur diese Beispiele - überall noch große Probleme. Wahr ist aber ebenso, daß sich diese Völker auf den Weg gemacht haben und dort neue Wettbewerber heranwachsen, die uns mit viel niedrigeren Löhnen - auch wenn sich dies mit der Zeit ändern wird - und steigender Qualität zunehmend Konkurrenz machen.

 

Deutschland hat nach wie vor gute Voraussetzungen im Wettbewerb der Standorte. Wir haben eine ausgezeichnete Infrastruktur, und unsere Arbeitnehmer in Deutschland sind hochqualifiziert. Wir verfügen außerdem über eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem leistungsfähigen Mittelstand. Nicht zuletzt sind wir ein wirtschaftlich stabiles Land mit einem guten sozialen Klima. Hinzu kommt: Die Wirtschaftsperspektive hat sich spürbar verbessert. Die Konjunktur springt wieder an. Die Mehrzahl der Konjunkturexperten erwartet in diesem Jahr ein reales Wachstum in ganz Deutschland in der Größenordnung von zweieinhalb Prozent. Für das nächste Jahr werden bis zu drei Prozent prognostiziert.

 

All dies zeigt: Wir haben alle Chancen, um die anstehenden Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft zu bewältigen. Die zentralen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind das Schaffen neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze und das rechtzeitige Einstellen auf den tiefgreifenden Wandel im Altersaufbau unserer Bevölkerung. Tatsache ist: Deutschland gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa. Gleichzeitig steigt - und dies ist natürlich eine erfreuliche Entwicklung - die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen. Es ist unsere Pflicht, bereits heute die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen, vor allem bei der Rentenversicherung und in unserem Gesundheitssystem.

 

Dazu gehört, der Eigenverantwortung in unseren sozialen Sicherungssystemen wieder stärker Geltung zu verschaffen. Jede dritte D-Mark, die in Deutschland erwirtschaftet wird, wird für Sozialleistungen ausgegeben. Dies sind weit über 1000 Milliarden D-Mark. Es gibt kaum ein vergleichbares Land auf der Erde, das eine solche Bilanz vorweisen kann. Die Kehrseite sind zu hohe Lohnzusatzkosten, die zunehmend Arbeitsplätze in Deutschland gefährden. Hier müssen wir gegensteuern! Die Bundesregierung hat deshalb die Reform des Gesundheitssystems auf den Weg gebracht. Deshalb werden wir auch die Rentenreform durchsetzen. Dies hat überhaupt nichts mit einem Abbau des Sozialstaats zu tun. Es geht vielmehr darum, denjenigen, die arbeiten wollen und können, die Chance auf einen neuen Arbeitsplatz zu eröffnen.

 

Meine Damen und Herren, wir werden Deutschland eine gute Zukunft sichern, wenn wir mit Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen jetzt das Erforderliche leisten. EKO Stahl ist dafür ein gutes Beispiel: Ohne diese Tugenden wäre die heutige Feier nicht möglich gewesen. Die Region Eisenhüttenstadt, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Grenzland geworden ist und unter der Teilung mehr gelitten hat als viele andere Regionen in Deutschland und die jetzt im zusammenwachsenden Europa eine neue positive Perspektive gewinnt, steht beispielhaft für die großartigen Entwicklungen und Chancen unseres Landes an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Ich wünsche dieser Landschaft - einer der großen Kulturlandschaften Europas - eine gute Zukunft. Uns allen wünsche ich auf diesem Weg Gottes Segen.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 68. 18. August 1997.