23. April 1998

Rede vor dem Deutschen Bundestag bei der Aussprache über den Beschluss der Bundesregierung zur Festlegung des Teilnehmerkreises an der Dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion

 

Herr Präsident,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

erlauben Sie mir bitte, daß ich zu Beginn meiner Rede ein sehr persönliches Wort des Dankes an Hans-Dietrich Genscher richte. Ich will mich bei ihm für seine Rede und natürlich auch für das bedanken, was er für unser Land getan hat. Ich will mich für die Rede bedanken, weil hier, wie ich denke, in einer ungewöhnlich eindrucksvollen Weise ein Zeitzeuge gesprochen hat, einer, der im Auf und Ab seines Lebens eine wichtige Spanne der Geschichte unseres Landes miterfahren und mitgestaltet hat. Wenn man ihn auch heute wieder über Deutschland und Europa sprechen hört - ich war in diesen Tagen in seiner Heimatstadt Halle -, dann spürt man, daß die deutsche Teilung auch sein Leben und vor allem seine europäische Überzeugung geprägt hat. Ich will ihm als Bundeskanzler für seine Arbeit in den Bundesregierungen und natürlich nicht zuletzt - das ist vor allem mein Auftrag - für die gemeinsame Zeit in den Jahren von 1982 bis 1992 danken.

 

Wir haben die Rede eines leidenschaftlichen Patrioten gehört. Er ist einer, der dabei war, der Geschichte am eigenen Leib erlebt hat und deswegen in einer Weise darüber reden kann, ja reden muß, damit - auch im Blick auf kommende Zeiten und Generationen - Erfahrungen der Geschichte nicht untergehen. Hans-Dietrich, Du hast Thomas Mann zitiert. Du selbst bist - das war heute lebendig spürbar - ein deutscher Europäer und ein europäischer Deutscher. Dafür ganz herzlichen Dank.

 

Meine Damen und Herren, es war gut - wenn ich mir erlauben darf, das so zu sagen -, daß Hans-Dietrich Genscher zu diesem Zeitpunkt der Debatte gesprochen hat, weil damit die Bedeutung dieses heutigen Tages und des morgigen Tages im Bundesrat angesprochen worden ist. Dies hier heute ist nicht irgendeine Debatte und nicht irgendeine Entscheidung. In der Politik gerät man häufig in die Versuchung, von säkularen Ereignissen, von Jahrhundertereignissen, zu sprechen. Dies ist ein solches Ereignis.

 

Bei allem Für und Wider, bei allen Notwendigkeiten, über viele wichtige Details zu sprechen, möchte ich allen raten, darüber nachzudenken, was diese Entscheidung über die Wirtschafts- und Währungsunion auch für die politische Union, für die Geschichte unseres Volkes, für die Geschichte der Völker Europas, für den Zusammenhalt von Millionen Europäern in dem in wenigen Jahren beginnenden neuen Jahrhundert bedeutet.

 

Vielleicht kann man sich das an Hand eines Bildes ganz einfach klarmachen. Hier im Saal sind viele, die noch den Sommer 1948 und die Einführung der D-Mark in Erinnerung haben. In ein paar Wochen wird die D-Mark fünfzig Jahre alt. Diese Jahre haben unser Leben in Deutschland mehr geprägt als vieles andere. Die D-Mark - beinahe in der Stunde Null unseres Landes entstanden - ist damals nicht mit großen Erwartungen auf die Welt gekommen: Die ,,Gurus" der damaligen Zeit waren voller Zweifel, ob aus dieser Sache etwas werden könnte.

 

Es waren die Arbeit und die Leistung von Generationen, vor allem auch der Gründergeneration, die die D-Mark zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Deswegen ist es doch verständlich, daß in unserem Land jetzt so viele Fragen stellen, daß Ängste aufkommen vor diesem großen entscheidenden Schritt in eine andere Währung, in ein viel größeres und umfassenderes Währungsgebiet.

 

Dennoch - das wage ich zu behaupten - wird, ausgehend von den Entscheidungen in diesen Tagen, die heute geborene Generation mit dem Euro genauso leben wie wir mit der D-Mark. Sie wird sich in wenigen Jahren, wenn sie erwachsen ist, gar nicht mehr vorstellen können, daß es einmal anders war. Es entsteht so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl der Europäer, wenn in den Ländern der Europäischen Union eine Generation lebt, für die ganz selbstverständlich der Euro ein Zahlungsmittel ist, das in Rom genauso wie in Dublin, hier in Bonn beziehungsweise in Berlin gilt und sicher in kurzer Zeit auch in London, in Warschau und in den Ländern Nordeuropas gültig sein wird.

 

Währungen sind viel mehr als ein Zahlungsmittel. Sie haben auch etwas mit der sozialen Befindlichkeit der Menschen, mit ihrem Lebensschicksal zu tun. Sie haben aber auch etwas mit ihrer kulturellen Identität zu tun und sind Gradmesser politischer Stabilität. Deswegen sprach ich von den Emotionen. Deshalb ist es richtig, daß der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, die Deutsche Bundesbank, alle, die bei diesem Thema besonders engagiert sind, darüber so ausführlich sprechen. Ich bin Hans-Dietrich Genscher dankbar, daß er die Arbeit an diesem Thema in all den Jahren noch einmal so deutlich analysiert hat.

 

Die Zeitgenossen, die aus ganz anderen Gründen durch das Land ziehen und den Euro verteufeln, wollen uns einreden, der Euro sei sozusagen über Nacht gekommen, er sei ein Husarenstück. Keine Spur davon: Es gibt wenige Entscheidungen der jüngeren deutschen Geschichte, die in Politik und Gesellschaft so intensiv diskutiert wurden, deren Vor- und Nachteile so hin- und hergewendet wurden wie das Thema der Wirtschafts- und Währungsunion. Deswegen widerspreche ich nachdrücklich all denen, die den Eindruck erwecken wollen, da werde etwas über unser Volk gestülpt, was das Volk gar nicht will. Ich bin sicher, daß sich die meisten in wenigen Jahren gar nicht mehr vorstellen können - wie seinerzeit bei der D-Mark -, daß es den Euro einmal nicht gab.

 

Ich sage noch etwas: Ich bin ganz sicher - wie wir es schon bei anderen geschichtlichen Ereignissen erlebt haben -, daß diejenigen, die heute nein zum Euro sagen, schon in wenigen Jahren leugnen werden, daß sie je eine solche Meinung vertreten haben.

 

Die Verwirklichung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ist hinsichtlich ihrer Konsequenzen für uns Deutsche wie auch für die Europäer die wichtigste und bedeutendste Entscheidung seit der Wiedervereinigung Deutschlands. Ich glaube, daß sie - auf lange Sicht - eine der wichtigsten Entscheidungen des ganzen Jahrhunderts ist. Mit all ihren Wirkungen auf andere Teile der Welt stellt sie die tiefgreifendste Veränderung auf unserem Kontinent dar. Sie ist zugleich der wichtigste Meilenstein im europäischen Einigungsprozeß seit der Gründung der Montanunion 1951 und seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957.

 

Wahr ist, daß dieser Gedanke einer gemeinsamen Währung damals noch eine Vision war und daß kaum jemand geglaubt hat, daß diese Vision noch in diesem Jahrhundert Wirklichkeit wird. Wenn Sie bei Jean Monnet und bei vielen anderen nachlesen, was sie gedacht und vielleicht auch nur geträumt haben, dann haben Sie auch eine Vorstellung davon, wie schnell - trotz all der Jahre, die seitdem vergangen sind - diese Vision Wirklichkeit geworden ist.

 

In diesem Augenblick erinnere ich mich an den Zeitpunkt, als François Mitterrand die sterblichen Überreste von Jean Monnet nach vielen Jahren ins Pantheon überführen ließ. Ich erinnere daran, wie bei dieser Gelegenheit gesagt wurde, welche Vision die Gründergeneration damals gehabt hat. Folgendes möchte ich manchem Skeptiker mit auf den Weg geben: Die Visionäre von damals sind die Realisten von heute. Wir sollten das niemals vergessen!

 

Am Ende dieses Jahrhunderts trifft auch der Satz zu, daß die europäische Einigung für Europa insgesamt und vor allem für uns Deutsche ein Glücksfall der Geschichte ist. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Für Europa insgesamt und vor allem für uns Deutsche ist die europäische Einigung die entscheidende Voraussetzung für ein dauerhaftes Zusammenleben in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Wir Deutsche sollten uns jeden Tag daran erinnern, daß die Deutsche Einheit ohne den Prozeß der europäischen Einigung nie möglich gewesen wäre.

 

Wir sind jetzt auf einem guten Weg, das europäische Haus zu bauen. Der Euro stärkt die Europäische Union als Garanten für Frieden und Freiheit. Er bringt die Teilnehmerstaaten noch enger zusammen. Damit ist zugleich die Herausforderung verbunden, daß Europa und damit auch unser Land, Deutschland, den Aufbruch in die Zukunft schafft. Auch angesichts dramatischer Veränderungen in der Welt gibt es nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln, daß wir, die Deutschen und die Europäer, dies schaffen können, wenn wir es nur wollen und wenn wir es gemeinsam tun. Von der heutigen Entscheidung - ich meine das nicht pathetisch - hängt es wesentlich ab, ob künftige Generationen in Deutschland und in Europa in Frieden und Freiheit, in sozialer Stabilität und auch in Wohlstand leben können.

 

Die Europäische Kommission empfiehlt dem Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs elf Mitgliedstaaten für die Teilnahme am Beginn des Euro am 1. Januar 1999. Das Europäische Währungsinstitut und die Deutsche Bundesbank haben in ihren Stellungnahmen bestätigt, daß die Vorschläge der Kommission stabilitätspolitisch vertretbar sind. Die Bundesregierung beabsichtigt - hierzu bitte ich um Ihre Zustimmung -, beim Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs am 2. Mai 1998 in Brüssel für die Vorschläge der Kommission zu stimmen.

 

Ich behaupte: Die Voraussetzungen für eine stabile europäische Währung waren noch nie so gut wie heute. Die Konvergenzberichte der Europäischen Kommission und des Europäischen Währungsinstituts machen ebenso wie die Stellungnahme der Deutschen Bundesbank übereinstimmend deutlich: Europa ist bereits im Vorfeld der Währungsunion zu einer Stabilitätsgemeinschaft zusammengewachsen.

 

Theo Waigel sprach davon - aber man muß es immer wiederholen, weil es leicht übersehen wird; von manchen aus Leichtfertigkeit, von anderen mit Absicht -: Die Preissteigerungsraten und Zinsen in den Mitgliedsländern sind auf einem historischen Tiefstand. Der durchschnittliche Preisanstieg in der Europäischen Union liegt heute bei 1,5 Prozent; die langfristigen Zinsen liegen bei fünf Prozent. Ich sage das gerne noch einmal laut und deutlich, weil so viele noch vor wenigen Jahren dies alles als gänzlich unmöglich angesehen haben.

 

Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte hat wesentliche Fortschritte gemacht. In 14 EU-Mitgliedstaaten lag das Haushaltsdefizit 1997 unter oder bei drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch wir, die Deutschen, haben auf diesem Weg entscheidende Fortschritte gemacht. Deutschland hat 1997 das Defizitkriterium von drei Prozent mit 2,7 Prozent deutlich unterschritten. Das ist das Ergebnis auch einer konsequenten Reformpolitik, für die die Koalition und die Bundesregierung stehen.

 

Meine Damen und Herren, wenn ich mich an jene Debatte erinnere, die vor weniger als sechs Monaten in diesem Saal stattfand, finde ich, daß es schon an der Zeit wäre, daß der eine oder andere wenigstens sagte - das zu tun ist ja menschlich -: Ich habe mich geirrt; ihr habt einen guten Job gemacht - um es in der Sprache junger Leute zu sagen.

 

In bezug auf das Schuldenstandkriterium liegen wir für 1997 mit 61,3 Prozent - das ist wahr - leicht über dem im Maastricht-Vertrag vorgesehenen Referenzwert von sechzig Prozent. Aber wenn ich mit ausländischen Kollegen über dieses Thema rede, brauche ich keine Minute für eine Begründung. Vielmehr gibt es dort eine allgemeine Bewunderung dafür, daß wir trotz der Belastungen - der von uns gern getragenen Belastungen; füge ich hinzu - durch die Deutsche Einheit dieses Ziel erreicht haben. Sowohl die Europäische Kommission als auch das Europäische Währungsinstitut haben zu Recht hervorgehoben, daß hier die Erblast, die wir von der früheren DDR übernommen haben, ihren Niederschlag gefunden hat.

 

Die Einführung des Euro liegt im ureigensten wirtschaftlichen Interesse auch und nicht zuletzt der Deutschen. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist eine notwendige Antwort Europas auf einen immer schärferen weltweiten Standortwettbewerb zwischen den Ländern und Regionen. Daß in diesen Wochen auf dem amerikanischen Kontinent - das gilt für Südamerika, für Mittelamerika und für Nordamerika - eine Diskussion darüber stattfindet, ob in absehbarer Zeit eine Gemeinschaft gebildet werden könnte, in der man in Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung zusammenarbeitet, zeigt doch, daß die Dinge in Bewegung gekommen sind.

 

Als wir - die Vertreter der europäischen Staaten und der Europäischen Union - kurz vor Ostern mit Vertretern der ASEAN-Länder in London zusammentrafen, war klar zu erkennen, daß in diesem Teil der Welt eine gewaltige Bewegung entstanden ist. Die Dinge entwickeln sich dramatisch. Nicht diejenigen werden die Herausforderung bestehen, die heute bei ihren Zweifeln, so verständlich diese sind, stehenbleiben, sondern diejenigen, die Entscheidungen treffen, mit denen man die Zukunft gewinnen kann. Darum geht es letztlich in diesem Augenblick.

 

Die gemeinsame europäische Währung wird Europa als Raum wirtschaftlichen Wohlstands und monetärer wie sozialer Stabilität festigen. Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich Wachstumskräfte in einem großen Raum entwickeln können.

 

Mit der Euro-Zone - man darf das nicht vergessen - entsteht ein einheitlicher Markt mit gemeinsamer Währung von 300 Millionen Menschen mit einem Anteil von rund zwanzig Prozent am Welteinkommen. Das ist vergleichbar dem Prozentsatz der Vereinigten Staaten von Amerika. Das hat nichts mit mißverstandener europäischer Großmannssucht zu tun, es hat aber damit zu tun, daß wir in eine Situation kommen, die in einer Welt im Zeichen der Globalisierung zu Recht gewaltige Wirkungen entfalten wird.

 

Die gemeinsame Währung wird das Klima für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und Europa nachhaltig verbessern. Der Internationale Währungsfonds hat in der letzten Woche auf seiner Frühjahrstagung in Washington die Einführung des Euro als historische Entscheidung ausdrücklich begrüßt.

 

Meine Damen und Herren, wenn man sich das, was Hans-Dietrich Genscher gesagt hat - man muß sich an die Zeit vor zehn Jahren zurückerinnern, als auch manche unserer amerikanischen Freunde diesen Weg zum Euro beinahe onkelhaft betrachtet haben und in der Wall Street vieles dazu gesagt und geschrieben wurde -, vor Augen führt, kann man erkennen, wie groß der Erfolg ist, den wir erreicht haben.

 

Der Wegfall des Wechselkursrisikos für Unternehmen in den Euro-Ländern ermöglicht jährliche Einsparungen in zweistelliger Milliardenhöhe; denn mit der Einführung des Euro entfallen teure Absicherungen gegen Wechselkursschwankungen. Während meiner Amtszeit bin ich Zeitzeuge der Probleme geworden, die wir beispielsweise zwischen Franzosen und Deutschen mit diesem Thema hatten.

 

Es ist natürlich wahr - ich habe niemanden gehört, der seriös die gegenteilige Meinung vertreten hat; trotzdem muß man es aussprechen -, daß der Euro kein Patentrezept ist, um die Arbeitsmarktprobleme in Europa oder in Deutschland zu lösen. Andere wichtige Entscheidungen müssen hinzukommen, etwa strukturelle Reformen, die überfällig sind, eine moderate Lohnpolitik und vieles andere mehr.

 

Der Internationale Währungsfonds hat auch darauf nachdrücklich hingewiesen: Je flexibler die Märkte, insbesondere der Arbeitsmarkt, sind, desto größer ist die Chance für mehr Beschäftigung. Das hat auch die Deutsche Bundesbank mit klarer Sprache in ihrer Stellungnahme gesagt.

 

Ich will noch einmal das aufnehmen, was in der Debatte bereits gesagt wurde, am Anfang von Theo Waigel. Alle Reformen sind völlig unabhängig von der Wirtschafts- und Währungsunion dringend notwendig. Der Euro aber macht Defizite deutlicher und verstärkt den überfälligen Handlungszwang. Insofern ist er auch von großer psychologischer Bedeutung.

 

Jeder fünfte Arbeitsplatz bei uns in Deutschland hängt vom Export ab. Mehr als vierzig Prozent unserer Ausfuhren gehen in die Länder, die jetzt der Euro-Zone beitreten werden. Wir haben gegenüber diesen Ländern - das muß man sich klarmachen - künftig keine Wechselkursrisiken mehr. Weniger Risiken sind vor allem eine gute Botschaft für exportabhängige Arbeitsplätze in Deutschland.

 

Die Frau Kollegin von der SPD hat heute an einem Beispiel nachgewiesen, wie sich das auswirken wird. Wir sollten in der Tat mehr darüber sprechen, und zwar nicht nur in globalen Betrachtungen, sondern ganz konkret, wie sich das auf die Städte und Regionen unseres Landes auswirken wird; denn gerade die Beschäftigten deutscher Unternehmen waren in der Vergangenheit oft Leidtragende, wenn die D-Mark gegenüber anderen europäischen Währungen massiv aufgewertet wurde. Das heißt, der Euro eröffnet große Chancen für neue wirtschaftliche Dynamik, für dauerhaftes Wachstum und dringend benötigte zukunftssichere Arbeitsplätze im 21. Jahrhundert.

 

Meine Damen und Herren, der Euro und die Europäische Währungsunion sind in gar keiner Weise ein unkalkulierbares Risiko. Von der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht am 7. Februar 1992 bis zur Einführung des Euro am 1. Januar 1999 gibt es einen siebenjährigen Vorbereitungsprozeß. Wir haben alle notwendigen Voraussetzungen für dauerhafte Stabilität getroffen. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit ihren Partnern - sie hat dabei eine wesentliche Rolle gespielt - im Vertrag von Maastricht durchgesetzt, daß die Europäische Zentralbank in Frankfurt so unabhängig ist wie die Deutsche Bundesbank und zuallererst der Stabilität der Währung verpflichtet ist.

 

In jener entscheidenden Sitzung war es auch eine Botschaft der Staats- und Regierungschefs unserer Partnerländer, als sie zustimmten - und das ist manchen nicht leichtgefallen -, daß diese neue Europäische Zentralbank ihren Sitz in Frankfurt haben soll. Das hatte auch einen symbolischen Charakter. Es war im übrigen eine Reverenz an die Deutschen und ihre Währungspolitik in fünf Jahrzehnten. Auch das gehört ja zum Bild. Es war - das kann ich schon beurteilen -, für manchen zähneknirschend, auch eine Reverenz gegenüber der Geldpolitik der Deutschen Bundesbank. Auch das gehört zur Entwicklung dieser Jahre.

 

Meine Damen und Herren, lesen Sie nur einmal nach - es liegt ja alles jetzt ein paar Jahre zurück -, was an Kommentaren in Paris - ich nenne jetzt Paris, könnte aber auch andere Hauptstädte nennen - geschrieben wurde bei dem Gedanken, daß die Notenbank völlig unabhängig und nur der Stabilität der Währung verpflichtet ist: Das haben viele als einen Anschlag auf die Tradition ihres eigenen Landes verstanden, als einen Anschlag auf die Souveränität. Und das waren nicht nur irgendwelche Stimmen, das waren wesentliche Stimmen der europäischen Politik. Sie hören davon jetzt nichts mehr. Diese Entscheidung ist inzwischen akzeptiert. Dafür sollten wir dankbar sein und den Menschen überall in Deutschland sagen, daß dies, was hier geregelt und entschieden wurde, in ihrem Sinne ist.

 

Die Bundesregierung hat mit ihrem konsequenten Eintreten erreicht, daß die Stabilitätskriterien des Vertrags von Maastricht strikt eingehalten werden. Mit diesem Argument, natürlich ohne Bezugnahme auf die Bundesregierung, wird heute in allen europäischen Parlamenten für den Euro geworben. Die Meinung hat sich hier völlig verändert. Es sind Prozesse eingetreten, die eine Annäherung im Denken und im Handeln zeigen, für die wir eigentlich nur dankbar sein können.

 

Ganz persönlich will ich dafür auch Theo Waigel danken, denn er hat mit einer unglaublichen Energie und Unverdrossenheit, auch im eigenen Lande nicht immer verstanden

 

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Vor allem in Bayern!)

 

- das gehört auch zur Wahrheit in dieser Zeit -, in einer großartigen Weise diese Politik durchgesetzt.

 

- Frau Kollegin, ich weiß nicht, warum Sie jetzt ,,Bayern" dazwischenrufen. Bayern gehört zu Deutschland. Bayern ist ein Land, das bei der Bevölkerungswanderung innerhalb Deutschlands die allergrößten Gewinne macht. Ich kenne so viele Nichtbayern, deren Traum darin besteht, in München oder an den bayerischen Seen zu leben, womöglich noch in bayerischen Lederhosen herumzulaufen. Das ist doch eine nicht zu übersehende Wahrheit. Ich verstehe überhaupt nicht, Frau Kollegin, warum Sie das Geschäft Ihrer Kollegin, die dort Landesvorsitzende ist und für das Amt der Ministerpräsidentin kandidiert, so erschweren.

 

Meine Damen und Herren, nach der vertraglichen Regelung gibt es keine Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten und keine zusätzlichen Finanztransfers. Heute hat einer unserer Kollegen von seiner Erfahrung im Europäischen Parlament berichtet. Wenn Sie quer durch alle Parteien mit den Kollegen im Europäischen Parlament reden, wissen Sie, daß dieser Satz einen Moment des Innehaltens verdient:

 

Nach den vertraglichen Regelungen gibt es keine Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten und keine zusätzlichen Finanztransfers.

 

Man muß doch einmal ehrlich sagen, was wir mit dieser Entscheidung anderen zugemutet haben; denn auch andere haben bestimmte Lebensgewohnheiten. Unterschiede gibt es nicht nur bei uns in Deutschland im Verhältnis der Bundesländer untereinander; diese gibt es auch im Verhältnis der europäischen Staaten untereinander. Trotzdem gilt dieser Satz, der eine große Bedeutung hat; denn damit ist im Vorfeld bereits viel für die Funktionsfähigkeit und die Stabilität der Währungsunion erreicht worden.

 

Wichtig ist nun, daß das Erreichte gesichert und die Nachhaltigkeit der Konvergenz gewährleistet wird. Die Bundesregierung hat in ihrem Beschluß am 27. März 1998 zu dem Thema des Teilnehmerkreises der Wirtschafts- und Währungsunion ausdrücklich festgestellt - ich zitiere -:

 

... auch weiterhin die vom Maastricht-Vertrag geforderte Nachhaltigkeit der erreichten Konvergenz nachdrücklich zu vertreten und ihr besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

 

Wir erwarten - lassen Sie mich das hier klar aussprechen - in diesem Zusammenhang, daß diejenigen unserer Partnerstaaten, die noch eine besonders hohe Gesamtverschuldung aufweisen, ihre Politik einer weiteren Konsolidierung der Staatsfinanzen beharrlich fortsetzen und daß die Zusagen eingehalten werden.

 

Meine Damen und Herren, ich empfinde es als nicht sehr geschickt und nicht sehr klug, wenn man angesichts der Leistung anderer Länder in den letzten Jahren - ich beziehe mich hier besonders gerne auf Italien - in einer Weise über andere redet, die für mich unerträglich ist.

 

Ich kann nur sagen: Das, was gegenwärtig in Italien geschieht, was mit der Finanzplanung eingeleitet wurde, die das Kabinett am 17. April 1998 beschlossen hat, getragen von einer breiten Mehrheit der politischen Kräfte dieses Landes, übrigens auch einer breiten Unterstützung der Bevölkerung dieses Landes - es ist hier viel von der Akzeptanz in der Bevölkerung gesprochen worden -, verdient Respekt und Vertrauen: nämlich Rückführung des Haushaltsdefizits und der Kampf gegen den Schuldenstand.

 

Ich bin ganz sicher, daß sich ungeachtet der parteipolitischen Grundeinstellung die wesentlichen politischen Kräfte Italiens, übrigens genauso wie in Belgien, sehr wohl bewußt sind, daß dies eine Herausforderung ist, die vernünftig bewältigt werden muß. Ich habe das Vertrauen, daß es so sein wird. Ich will es hier ganz klar aussprechen.

 

Ich erwähne dies alles nicht aus irgendwelchen beckmesserischen Gründen, sondern weil wir Deutsche aus Erfahrung wissen, daß die nachhaltige Konsolidierung der Staatsfinanzen für eine dauerhafte Stabilität und für ein reibungsloses Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion elementar ist; denn der gemeinsame Währungsraum bedeutet grundlegend neue wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entwicklungen.

 

Es ist nicht zu verbergen, und es muß klar sein: Die geldpolitische Zuständigkeit liegt künftig auf der europäischen Ebene. Es ist keine eigenständige nationale Wechselkurspolitik mehr möglich. Das heißt für viele Staaten im Raum der Währungsunion, daß sie ihr Verhalten anpassen müssen, auch weil mehr Transparenz im gemeinsamen Währungsraum besteht.

 

Deshalb muß auch die Haushaltspolitik intensiver überwacht und die Wirtschaftspolitik der Teilnehmerstaaten sorgfältiger abgestimmt werden. Dazu wurden die notwendigen Voraussetzungen beim Europäischen Rat in Dublin und in Amsterdam geschaffen. Trotz einer engeren Koordination und trotz gewisser Harmonisierungsnotwendigkeiten, etwa beim Erfassen von Kapitaleinkünften - in Sachen Steueroasen sind wir mit Sicherheit nicht auseinander -, darf kein Mißverständnis aufkommen: Die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik bleibt in nationaler Verantwortung. Ich habe in diesen Tagen mit großem Interesse gelesen, daß sich auch mein Amtsvorgänger genau in diesem Sinne geäußert hat.

 

Uns nimmt niemand unsere Hausaufgaben ab. Wer jetzt nicht die notwendigen Reformen vorantreibt, sondern in ein Gerede über europäische und internationale Absprachen flüchtet, der wird keinen Fortschritt bewirken und das Ziel nicht erreichen. Wer heute etwa überstürzt hohe, europaweite Standards im Sozialbereich fordert, der muß mir die Antwort geben, wie er das mit der These verbindet, daß die Transferunion abzulehnen sei. Er provoziert sie mit einer solchen These geradezu. Im übrigen habe ich in dieser Frage trotz Wahlkampfzeiten die volle Unterstützung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Die Gewerkschaften wissen schon, was damit auf den Weg kommen könnte.

 

Ich bin überzeugt, daß die Erfolgsgeschichte der D-Mark in unserem Land mit einer Erfolgsgeschichte des Euro weitergeht. Die Vorzüge, die wir mit der D-Mark erarbeitet haben und an der D-Mark - zu Recht - schätzen, gehen nicht verloren. Sie werden in ein größeres Ganzes zum Vorteil Deutschlands und zum Vorteil Europas eingebracht.

 

Meine Damen und Herren, die Zukunft unseres Landes ist gerade in dieser Zeit nur mit Mut, Grundsatztreue und Weitsicht zu gewinnen. Mit dem Opportunismus des Tages kann man vielleicht auf eine kurze Frist Geschäfte machen. Auf die Dauer gelingt dies nicht. Der Zusammenhang ist eindeutig: Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion ist die konsequente Fortentwicklung des europäischen Einigungswerkes. Dieses Einigungswerk hatte von Anfang an immer ganz klar eine politische Priorität und Dimension. Was bisher wirtschaftlich erreicht wurde und was weiterhin erreicht werden kann, ist auf die Dauer nur zu bewahren, wenn es auch politisch abgesichert ist. In vielen streitigen Diskussionen mit einer früheren Kollegin im Europäischen Rat haben wir dieses Thema immer wieder erörtert.

 

Die weitere Ausgestaltung der politischen Union ist notwendigerweise ebenso unser Ziel wie jetzt die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion. Beides, meine Damen und Herren, muß Schritt für Schritt umgesetzt werden, und beides bildet einen Zusammenhang. Gerade die Erfahrungen der deutschen Geschichte, nicht zuletzt der des 19. Jahrhunderts, zeigen doch, daß gemeinsame Währungen eine Katalysatorfunktion in wichtigen Bereichen der Politik haben können. Für den Bau des Hauses Europa müssen wir die Chance nutzen, die sich jetzt bietet. Niemand soll glauben, daß diese Chance automatisch wiederkommt, wenn wir sie jetzt nicht nutzen. Sie kommt nicht wieder!

 

Wer an eine völlige Vollendung der politischen Union glaubt und meint, zuvor solle man ein Vorhaben wie die Einführung des Euro nicht verwirklichen - so wird es in diesen Tagen immer wieder gesagt -, der wird erleben, daß am Ende gar nichts erreicht wird. Ich habe - lassen Sie mich das offen aussprechen - mich aufmerksam im Land umgehört und Land und Leute beobachtet. Gelegentlich habe ich schon den Eindruck, daß manche ihre Gegnerschaft zur Währungsunion vorschieben, weil sie in Wirklichkeit die politische Union gar nicht wollen.

 

Ich habe für die Bundesregierung schon im September 1992 im Bundestag klar formuliert, wie die Handlungsfelder der europäischen Einigung in der Zeit nach Maastricht auszusehen haben.

 

Erstens: Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion. Das tun wir jetzt.

 

Zweitens: Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Das spricht sich unendlich leicht aus. Aber sehr viel schwieriger ist es - das erkennt jeder -, diese Politik Schritt für Schritt voranzubringen. Denn auf diesem konkreten Feld zeigen sich die Folgen der Geschichte bis hin zu ganz einfachen Fragen: Was leisten wir etwa an Hilfe für die Dritte Welt im Rahmen der Europäischen Union? Da spielt es eben eine enorme Rolle - das ist doch die Wahrheit! -, ob man bis zuletzt Kolonialmacht war und bestimmte Verpflichtungen eingegangen ist; oder ob man zuletzt, wie die Deutschen - nicht aus eigener Einsicht, sondern durch den Zwang der Geschichte -, nicht mehr Kolonialmacht war.

 

Bei den Problemen, die jetzt im früheren Jugoslawien in ihrer ganzen Bitterkeit vorhanden sind, spielt es eben eine Rolle, welche früheren Bündnisse, Pakte und Sonderbeziehungen es gab. Wir können doch die Geschichte in einer solchen Frage nicht einfach beiseite schieben. Sie bleibt bestehen mit all dem, was sie in diesem Bereich an Blut und Tränen als Spuren hinterlassen hat.

 

Drittens: Ausbau der Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit. Für mich ist das - ich kann es nicht leidenschaftlich genug sagen - eine der wichtigsten Fragen der europäischen Entwicklung; denn die Bürger in allen europäischen Ländern zahlen vor allem aus zwei Gründen viel - bei uns: zuviel - Steuern: Die äußere und die innere Sicherheit ihres Landes soll gewährleistet sein.

 

Wir müssen endlich begreifen, daß die internationale Kriminalität heute ganz andere Ausmaße angenommen hat, als das noch vor einigen Jahren der Fall war. Wenn ich das sage, dann ist das kein Mißtrauen und schon gar keine Kritik an der Arbeit der Polizeiorgane und der Polizeibeamtinnen und -beamten in unserem Lande, auch keine Kritik an all den sonstigen Einrichtungen, die für die Sicherheit verantwortlich sind.

 

Jacques Delors ist vorhin zu Recht mehrmals erwähnt worden. In einer seiner letzten Reden als Präsident der Europäischen Kommission hat er auf dramatische Weise auf die Gefahr der Internationalisierung der Kriminalität, also etwa auf die Drogenmafia und auf die internationale Geldwäsche, hingewiesen. Es soll doch niemand glauben, daß wir diesen Herausforderungen mit den Mitteln begegnen können, die es zu Beginn dieses Jahrhunderts gab. Die Welt hat sich verändert, und der Bürger erwartet zu Recht, daß sein Staat etwas tut. Wenn dauernd von der Akzeptanz Europas gesprochen wird, so muß ich sagen, daß eine wichtige Frage von vielen Bürgern lautet: Wird dieses Europa - diese Europäische Union - die innere Sicherheit gewährleisten können?

 

In bezug auf die Stärkung der demokratischen Verankerung der Europäischen Union, insbesondere mit Blick auf das Europäische Parlament, haben wir erhebliche Fortschritte gemacht. Man muß aber in einer solchen Stunde fairerweise auch berücksichtigen, daß die Spielregeln dort ganz andere sind. Es gibt viele - übrigens auch in diesem Hause -, die Maßstäbe an dieses Parlament anlegen, die es nicht erfüllen kann, weil die normale Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition in ihm nicht stattfindet. Aber dennoch hat das Europäische Parlament in den zurückliegenden Jahrzehnten entscheidend zur Einigung Europas und zum Verständnis untereinander beigetragen: zwischen den einzelnen Gruppierungen und nationalen Parteien und zwischen den Bruder- und Schwesterparteien in Europa. Wir wollen diese Bemühungen nicht geringachten, das Parlament weiterhin unterstützen und auf diesem Weg vorangehen.

 

Ich habe schon mit einem kurzen Satz auf die Fortentwicklung der Institutionen hingewiesen. Natürlich haben wir in diesem Bereich erhebliche Fortschritte gemacht. Aber es ist doch ganz selbstverständlich, daß mit diesen Institutionen eine Menge an nationalen Besonderheiten verbunden ist. So kann man etwa über die Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips sehr viel leichter reden, wenn man ein bestimmtes Problem im eigenen Land nicht hat.

 

In der entscheidenden Nacht von Amsterdam haben wir im Hinblick auf eine wichtige Entscheidung im Asylrecht das Einstimmigkeitsprinzip nicht aufgegeben, weil die Problemlage in Deutschland völlig anders ist als in anderen europäischen Ländern. 1996 hatten wir in Deutschland allein 116000 neue Asylbewerber, während es in der übrigen Europäischen Union zusammen nur 110000 waren. Ich habe meinen Kollegen aus gutem Grund und leidenschaftlich gesagt: Unter normalen Verhältnissen ist das eine Sache, die viel Sinn macht. Aber man kann nicht etwa in Dublin darüber entscheiden, wie die Asylsituation in Deutschland zu sein hat. Das ist doch eine Frage, die etwas mit Akzeptanz zu tun hat.

 

Ich spreche hier ganz bewußt das Thema an, das mir von allen Themen im Augenblick die meisten Sorgen macht: die Handhabung eines recht verstandenen Subsidiaritätsprinzips im Rahmen der Weiterentwicklung der Europäischen Union. Das hat nichts - um es klar auszusprechen - mit dem Willen zur Renationalisierung zu tun. Ich finde, dieses Schlagwort ist völlig fehl am Platz. Aber ich vermisse in bestimmten Bereichen in Brüssel - ich sage das einmal so pauschal - ein Verständnis dafür, daß Europa nur dann eine gute Entwicklung nimmt, wenn es ein föderal gegliedertes Europa ist. Wir jedenfalls wollen nicht Kompetenzen an Brüssel abgeben, die dort nicht hingehören.

 

Unser Wunsch in Europa war immer - das ist eine gute Erfahrung aus der Geschichte der Bundesrepublik -, so mühsam der Umgang mit Föderalismus im Alltag ist, so unterschiedlich die föderalen Betrachtungsweisen sind - je nach Standort, den man gerade einnimmt, je nach Funktion oder Position: Entscheidungen müssen bürgernah getroffen werden; Verantwortlichen vor Ort dürfen keine Entscheidungen weggenommen werden, die diese besser treffen können als alle anderen, weil sie mit den Problemen am besten vertraut sind. Das ist unser Verständnis von Subsidiarität.

 

Man kann sich über dieses oder jenes im Umgang mit Bundesländern ärgern - ich kenne das inzwischen von zwei Seiten -, aber, meine Damen und Herren, unsere gegenwärtige bundesstaatliche Ordnung hat auch damit zu tun, daß die Väter und Mütter des Grundgesetzes kluge Leute waren, die etwas von der Geschichte verstanden haben, die nicht kurzfristige Entscheidungen getroffen, sondern etwas geschaffen haben, was fünfzig Jahre Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht hat. Das ist doch wahr!

 

Deshalb sind wir keine Störenfriede, wenn wir darauf hinweisen, daß es unterschiedliche geschichtliche Modelle gibt, daß die klassischen romanischen Staaten Europas, die sehr früh zum Nationalstaat gefunden haben, im Gegensatz zu den Deutschen eine völlig andere Tradition haben. In Paris wird zum Beispiel viel mehr auf zentraler Ebene entschieden als bei uns. Wir wollen die unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen in den Ländern Europas - ebenso wie in Deutschland - bewahren. Wir wollen keinen Zentralstaat, sondern eine föderale Europäische Union.

 

Zur Erweiterung der Europäischen Union: Meine Damen und Herren, mir mißfällt, daß die Diskussion in Europa zum Teil so geführt wird - natürlich geht es dabei immer auch um Geld; das ist richtig -, als hätten wir die Zeit vor 1990 völlig vergessen. Hans-Dietrich Genscher war es, der heute daran erinnert hat, was die Ungarn und Polen für uns getan haben. Meine Damen und Herren, die Solidarnoæ ist zu einem Zeitpunkt aufgestanden, als viele in Europa noch nicht im Traum daran dachten, daß dieser Monolith des Kommunismus zusammenbrechen könnte.

 

Wenn wir jetzt, da wir über die Erweiterung der Europäischen Union diskutieren - ich will es einmal personalisieren -, dem polnischen Ministerpräsidenten begegnen - einem Mann, der lange Zeit im Untergrund lebte, um für die Freiheit und für die Solidarnoæ zu kämpfen -, kann ich ihm dann sagen: ,,Hör' mal, es ist noch Zeit, ihr müßt noch warten, wir müssen noch unsere eigenen Angelegenheiten in Ordnung bringen"? Wir haben doch den Polen, den Ungarn und anderen gesagt: "Wenn ihr nur das Joch des Kommunismus abschüttelt, seid ihr herzlich willkommen." Dies gilt heute ebenso wie vor zehn Jahren.

 

Seit dem Inkrafttreten des Maastricht-Vertrages sind wir bei der Vollendung des Binnenmarktes und mit dem Beitritt Österreichs, Schwedens und Finnlands ganz wesentlich vorangekommen. Immer wenn ich über dieses Thema nachdenke, bedauere ich zutiefst, daß die Kurzsichtigkeit von Europäern in der Union mit dazu geführt hat, daß Norwegen seinen Beitritt noch nicht erreicht hat. Ich wünsche mir, daß das trotz alledem bald nachgeholt wird.

 

Ich nenne im Gefolge des Maastricht-Vertrages insbesondere auch den Vertrag von Amsterdam, dem der Deutsche Bundestag erst vor wenigen Wochen mit überwältigender Mehrheit zugestimmt hat. Wahr ist - all diese Einwände kenne ich -, daß in Amsterdam nicht alles erreicht wurde, was wünschenswert war. Wer solche Verhandlungen führt, weiß, daß man immer wieder an einen bestimmten Punkt ankommt, an dem man sagen muß - übrigens genauso wie in der nationalen Politik -: Dies geht heute nicht; das müssen wir uns für die Zukunft aufbewahren. - Aber ich bin ganz sicher, daß wir vor allem in den Fragen der inneren Sicherheit und der Außen- und Sicherheitspolitik wichtige Schritte getan haben. Die Integration des Schengener Übereinkommens in das europäische Vertragswerk und der Aufbau von Europol sind ein ganz entscheidender Impuls.

 

Auch will ich, meine Damen und Herren, noch einmal erwähnen, daß die in Amsterdam niedergelegten Reformschritte bei den Institutionen, vor allem beim Europäischen Parlament, auf eine gute Entwicklung der Zukunft deuten und daß vor allem die Erweiterung der Europäischen Union um die Länder Mittel- und Osteuropas ganz entscheidend ist. Wir sind dabei nicht stehengeblieben. Kurze Zeit danach - vor wenigen Wochen ist der Erweiterungsprozeß offiziell eröffnet worden - hat die Europäische Union die Verhandlungen über den Beitritt von Polen, der Tschechischen Republik, von Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern aufgenommen.

 

Ich bin dankbar dafür, daß der Bundestag und der Bundesrat auch dem Beitritt Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns zur NATO zugestimmt haben. Die Tatsache, daß Polen, die Tschechische Republik und Ungarn jetzt Teil der NATO werden, ist in der Hektik des politischen Alltags in unserem Lande fast untergegangen.

 

Meine Damen und Herren, es war heute viel von der Zeit vor zehn Jahren die Rede. Daß die Ereignisse der letzten Jahre natürlich nicht mit großer Freude, aber doch mit einer, wenn Sie es so wollen, duldenden Hinnahme Rußlands unter Führung von Präsident Jelzin geschehen sind, ist auch wahr. Es ist gerade für uns Deutsche ein riesiger Erfolg, daß sich hier ein Sicherheitssystem entwickelt und Rußland - es ist unser wichtigster und mächtigster Nachbar im Osten, und die Nachbarschaft der Ukraine gehört in diese Betrachtungsweise mit hinein - sich mit auf diesen Weg begeben hat.

 

Wenn Sie hier das Fazit ziehen, stellen Sie fest: Der europäische Integrationsprozeß hat innerhalb weniger Jahre eine beachtliche Wegstrecke zurückgelegt. Ich weiß auch, daß uns noch ganz wichtige Abschnitte bevorstehen, nicht zuletzt auch mit Blick auf die Akzeptanz der Bürger unseres Landes.

 

Die Europäische Kommission wird im November dieses Jahres einen Entwurf der künftigen Finanzausstattung der Europäischen Union vorlegen. Ich plädiere dafür, daß wir über diese Frage genauso ernsthaft und gelassen miteinander diskutieren, wie wir die Diskussion mit den Bundesländern über einen Stabilitätspakt geführt haben. Ich kann nicht verstehen, warum wir in Europa mit anderen Denkkategorien an die Sache herangehen sollten. Fair ist, daß man darüber redet, was der einzelne gerechterweise beiträgt und beitragen kann.

 

Im Rahmen der Agenda 2000 - der Begriff verschleiert etwas die Probleme - sind enorme Entwicklungen im Bereich der Strukturpolitik der Gemeinschaft, der Fortentwicklung der Agrarpolitik und vieles andere angesprochen. Stichwort Strukturpolitik: Ich kann überhaupt nicht verstehen, daß wir ein System aufgeben sollen, das über 45 Jahre in der Bundesrepublik funktioniert hat, das zu einem gewissen Wettbewerb, auch mit positiven Ergebnissen für die Bürger, geführt hat. Das soll jetzt an eine zentrale Stelle in Europa abgegeben werden. Das werden wir nicht tun. Das entspricht nicht unseren Vorstellungen.

 

Zur Entscheidung über die künftige Finanzausstattung will ich nur ganz einfach sagen: Sie muß sich an den Grundsätzen der Solidarität und der Lastenteilung orientieren. Ein solches System muß ehrlicherweise auch erfolgreiche Entwicklungen einbeziehen. Es gibt eine Reihe von Ländern in der Europäischen Union, die im Blick auf ihren finanziellen Status und ihre wirtschaftliche Kraft - nicht zuletzt wegen ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union - heute positiver dastehen als noch vor zehn oder 15 Jahren. Deswegen kann man nicht sagen: Was einmal so gewesen ist, muß auch so bleiben. Eine faire Lastenteilung heißt vielmehr auch, einen fairen Status der wirklichen Lage zu erstellen.

 

Wir werden dabei unsere vitalen Interessen wahren. Es gibt auch keinen Grund, daß wir uns dauernd dafür entschuldigen, meine Damen und Herren. Im Gegenteil: Wenn wir unsere vitalen Interessen nicht anmelden und nicht vertreten, gewinnen wir nicht mehr Sympathie und Achtung, sondern das genaue Gegenteil. Jedermann erwartet, daß auch wir unsere Interessen vertreten.

 

Das ist unsere Aufgabe. Denken wir nur an die Herausforderung angesichts der besonders schwierigen Lage der deutschen Landwirtschaft. Es ist verständlich, daß wir uns hier besonders als Sachwalter betätigen. Deutsche Interessen zu vertreten heißt immer auch, deutsche Interessen in die europäischen Interessen einzuordnen. Wer glaubt, er könne deutsche Interessen radikal zu Lasten des übrigen Europa vertreten, denkt kurzsichtig und falsch. Beides gehört zusammen.

 

Meine Damen und Herren, es ist wahr, daß es sich nach dem Kalender so ergibt, daß die deutsche Präsidentschaft vom 1. Januar des kommendes Jahres bis zum Sommer eine ganz wichtige Funktion wahrnimmt. Nicht, daß ich glaube, wir könnten allein die Zukunft gestalten, aber die deutsche Präsidentschaft stellt hier sozusagen einen Eckpfeiler dar. Deswegen ist es verständlich, daß wir, die Bundesregierung und die Koalition, das klare Ziel haben, daß wir, die wir besonders bewährt, erfahren und erprobt sind, diese Präsidentschaft gut führen.

 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD)

 

- Jetzt warten Sie doch mit Demutsgebärde das Wahlergebnis ab. Sie haben Ihre Hoffnungen, wir haben die unseren, warten wir es ab.

 

Meine Damen und Herren, wir werden schon in wenigen Wochen beim Europäischen Rat in Cardiff im Juni beginnen, das vorzubereiten, was ich gerade angedeutet habe. Wir werden dabei sehr schwierige Diskussionen haben, etwa im institutionellen Bereich, wenn es um Größe und Struktur der Kommission geht - das ist nicht irgendein Thema; das hat viel mit nationalem Prestige zu tun - wenn es um die Arbeitsweise des Rates, die Stimmengewichtung und auch die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen geht.

 

Über das Subsidiaritätsprinzip habe ich gesprochen. Das wird ein zentraler Punkt der Tagung in Cardiff sein, weil wir jetzt klar Schiff machen müssen, ob wir an diesem Punkt Irrwege, die ich sehe und die ich kritisiere, weitergehen - das wird mit mir nicht zu machen sein - oder ob wir uns zu einem vernünftigen Miteinander auch mit manchen in der Kommission zusammenfinden. Wir wollen keinen europäischen Zentralstaat, keinen europäischen Überstaat. Wir wollen die Europäische Union so, wie sie bei ihrer Gründung gedacht war.

 

Meine Damen und Herren, wir, die Deutschen, haben mehr Gründe zum Bau des Hauses Europa als alle unsere Nachbarn. Wir haben die längsten Grenzen, wir haben die meisten Nachbarn. Wir haben unsere eigene Geschichte, mit großartigen und mit schlimmen Kapiteln. Vor allem die schlimmen Kapitel sind in der Erinnerung der Menschen geblieben. Deswegen möchte ich uns allen raten, bei den Entscheidungen, die wir jetzt treffen, immer daran zu denken, daß in unseren europäischen Nachbarländern noch eine Generation lebt, die eine sehr konkrete Erinnerung an diese Kapitel hat, die Schlimmes im Umgang mit Deutschen erfahren hat. Es ist doch eine großartige Sache, daß die allermeisten von ihnen inzwischen von einem anderen Deutschland sprechen. Das ist unser Deutschland. Es ist, so denke ich, unser gemeinsames Verdienst, daß es sich so entwickelt hat.

 

In einer Konferenz im Dezember 1989 fiel jener unvergeßliche Satz: Zweimal haben wir sie geschlagen, und sie sind wieder da. - Dieser Satz gehört zur Geschichte, aber nicht mehr zur Gegenwart und - wie wir gemeinsam hoffen - auch nicht zur Zukunft. Deswegen tragen wir, die Deutschen, in dem Prozeß der europäischen Einigung eine besondere Verantwortung. Wir tragen sie auch aus anderen Gründen, die unübersehbar sind: Wir sind mit achtzig Millionen Menschen mit Abstand der bevölkerungsreichste Staat Europas. Wir sind trotz all unserer Probleme wirtschaftlich eines der stärksten Länder. In der Gesamtschau sind wir ein Land, das auf Zukunft ausgerichtet ist. Viele schauen auf uns.

 

In einigen Jahren werden wir ein neues Jahrhundert beginnen. Nachdem das Zeitalter der Hegemoniepolitik endgültig vorbei ist, muß dies ein Jahrhundert des Miteinanders, der Partnerschaft und der Gemeinschaft sein. Deswegen ist es wichtig, diese Entscheidung heute im Bundestag und morgen im Bundesrat zu treffen.

 

Ich habe in dieser Stunde vielen zu danken, die uns auf diesem Weg begleitet beziehungsweise ihn aktiv mitgestaltet haben. Wie Theo Waigel habe ich vor allem alle meine Amtsvorgänger zu erwähnen: von Konrad Adenauer über Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt bis hin zu Helmut Schmidt. Ganz herzlich danke ich - vor allem für die letzten zehn Jahre - Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel, der dessen Nachfolge angetreten hat, und vor allem auch Theo Waigel, der in seinem Amt besondere Verantwortung übernommen und getragen hat.

 

Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Sie uns diese Chance, die eine wahrhaft historische Chance ist, für den Frieden und die Freiheit, für den Wohlstand und für die soziale Stabilität in Europa und in Deutschland nutzen. Die Europäische Kommission hat am 25. März vorgeschlagen, die Dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Januar 1999 mit elf Mitgliedstaaten zu beginnen. Die Bundesregierung beabsichtigt, dieser Empfehlung zu folgen. Sie bittet den Deutschen Bundestag und - morgen - den Bundesrat, dies zustimmend zur Kenntnis zu nehmen.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 27. 29. April 1998.