23. Januar 1998

Erklärung auf der Pressekonferenz zum Abschluss des Ostseeratsgipfels in Riga

 

Meine Damen und Herren,

ich bin sehr froh, daß ich heute in Riga sein kann, der Hauptstadt Lettlands - eine Stadt, die Geschichte atmet, auch die Geschichte der Hanse. Für mich ist dieser Besuch auch eine Begegnung mit unserer Geschichte. Ich habe es gerade Ihrem Staatspräsidenten gesagt: Zu den verbrecherischen Taten Hitlers gehört der Verrat an den baltischen Staaten gegenüber Stalin. Ich habe das nie vergessen.

Die Bundesrepublik Deutschland und vor allem ich selbst haben von Anfang an - das heißt seit 1991 - den Weg der baltischen Länder in Richtung Europa unterstützt. Ich bin weniger gereist als meine Kollegen. Ich habe auch weniger öffentliche Ankündigungen gemacht. Aber wer in diesen Jahren Zeitzeuge war, der weiß, daß die Unterstützung der Bundesrepublik und auch die Unterstützung, die ich selbst geben konnte, ganz wichtig waren - bis hin zu der Etappe, die wir vor wenigen Wochen in Luxemburg abgeschlossen haben.

Ich möchte mich zunächst bei unseren lettischen Gastgebern bedanken, beim Ministerpräsidenten und beim Staatspräsidenten; natürlich auch beim dänischen Vorsitz, der diesen Ostseeratsgipfel vorbereitet hat.

Es ist unser zweites informelles Treffen nach der ersten Begegnung 1996 in Visby. Ich habe diese Idee immer unterstützt, weil es für mich ganz wichtig ist, daß die Ostseeanrainerstaaten die Chance haben, möglichst eng und intensiv zusammenzuarbeiten. Der Ostseeraum ist eine Region mit großer und wechselvoller Geschichte. Riga ist ein lebendiges Beispiel für diese Geschichte. Die Tatsache, daß dieses Treffen hier und heute in Riga stattfindet, belegt eindrucksvoll, wie sehr Europa in den letzten Jahren zusammengewachsen ist und welch ein Glück es ist, daß die Teilung unseres Kontinents überwunden wurde.

Das Baltikum ist eine Region der europäischen Geschichte. Sie wurde über Jahrhunderte an den Rand gedrängt und ist jetzt in das Zentrum Europas zurückgekehrt. Zu den großen Stunden der Europäischen Union gehören jene am 13. Dezember 1997 in Luxemburg, als man klar formuliert hat: "Die mittel- und osteuropäischen Reformstaaten" - also auch Polen und die baltischen Länder - "gehören zur europäischen Familie." Für ihren Weg in die Europäische Union gibt es jetzt einen klaren Fahrplan. Insofern war das Treffen in Luxemburg in der Tat von historischer Dimension. Für mich persönlich schwingen in diesem Augenblick viele Erinnerungen mit - beispielsweise die Erinnerung an die Zeit vor zehn Jahren, als wir noch am Endpunkt des Kalten Krieges in der Auseinandersetzung Ost-West standen und wir in Deutschland über die Stationierung einer neuen Kurzstreckenrakete diskutierten. Wenn man sich überlegt, daß wir heute hier in Riga in einem freien und unabhängigen Lettland unter Einbeziehung Rußlands zusammentreffen, dann kann man ermessen, welchen großartigen Weg wir in den letzten Jahren in Europa genommen haben.

Natürlich ist vor allem die Europäische Union dazu berufen, die Entwicklung weiter voranzutreiben. Aber auch der Ostseerat, die regionale Zusammenarbeit im Ostseeraum, kann und muß entscheidend dazu beitragen. Ich habe es oft gesagt - das hat nicht jeder in der Europäischen Union gern gehört, aber es ist so -: Die Ostsee ist genauso wie das Mittelmeer ein europäisches Meer. Der Ostseeraum mit weit über 50 Millionen Menschen besitzt eine große wirtschaftliche und kulturelle Zukunft, ein gewaltiges Potential. Hier gibt es große Zukunftschancen. Sie liegen vor allem auch in der regionalen Zusammenarbeit.

Für Fortschritte in der Ostseeregion gibt es gute Anzeichen. Der Erfolg des Reformkurses in den mittel- und osteuropäischen Ländern hat dem Handel im Ostseeraum einen beachtlichen Aufschwung gebracht. Schon heute gehört er zu einer der dynamischsten Wachstumsregionen. Die zehn Ostseeanrainerstaaten verfügen über 30 Prozent der Wirtschaftskraft Europas. Und der deutsche Export in die baltischen Länder hat in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres um circa 50 Prozent, nach Polen um rund 30 Prozent zugenommen.

Im Mittelpunkt unserer Diskussionen anläßlich dieses zweiten Gipfeltreffens des Ostseerates standen die Möglichkeiten zur Intensivierung der wirtschaftlichen Kooperation und der kulturellen Zusammenarbeit sowie die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Das war ja das erste Arbeitsthema, das wir beim letzten Mal in Visby vorgeschlagen haben. Mein Kollege Lipponen aus Finnland hat vorgeschlagen, die Zusammenarbeit zwischen den regionalen Organisationen und der Europäischen Union zu intensivieren sowie die Einbeziehung Rußlands in die europäischen Strukturen voranzubringen. Ich will das auch hier noch einmal besonders betonen.

Es ist wichtig, daß wir das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der Europäischen Union mit Rußland, das seit dem 1. Dezember 1997 in Kraft ist, als eine große Chance auch für den Ostseeraum begreifen.

Es bestand in unseren Diskussionen Einigkeit darüber, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Ostseeraum weiter ausgebaut werden muß, um vor allem das destabilisierende Wohlstandsgefälle in dieser Region zu überwinden. Wir haben auch volle Übereinstimmung dahingehend erzielt, daß die europäischen und die internationalen Finanzinstitutionen bei ihren künftigen Aktivitäten im Ostseeraum regionale Aspekte stärker berücksichtigen müssen, zum Beispiel auch bei der Förderung von Infrastrukturprojekten. In der Diskussion hat die Bedeutung des Aufbaus einer wirtschaftlich effizienten und umweltverträglichen Energiewirtschaft in der Region eine große Rolle gespielt. Ich denke, daß sich Ende dieses Jahres die Energieminister mit diesem Thema auf Einladung des norwegischen Kollegen in Norwegen beschäftigen werden.

Ein wichtiger Punkt in unseren Gesprächen war die Zusammenarbeit im Hochschulbereich. Die östlichen Ostseeanrainer brauchen Universitäten, die dem wissenschaftlichen Nachwuchs und den künftig Lehrenden vor allem in den Bereichen der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften eine europäische Perspektive geben. Diesem Ziel dient auch die 1993 durch eine deutsch-dänische Initiative gegründete Euro-Fakultät an den Universitäten in Riga, Tartu, Vilna und Kaliningrad. Die Euro-Fakultät ist ein wahrhaft europäisches Projekt. Sie ist eine Investition in die Zukunft. Ich will auch hinweisen auf das dichte Netzwerk von Kooperationen deutscher Universitäten mit Partnerhochschulen im Ostseeraum.

Ein zentraler Punkt unserer Beratungen war das Thema Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Dies ist ein Thema, das für ganz Europa, nicht zuletzt auch für uns Deutsche von besonderer Bedeutung ist. Es hat auch im Rahmen der Zusammenarbeit der Ostseeanrainer einen hohen Stellenwert.

Bei dem Gipfeltreffen 1996 in Visby haben wir eine Arbeitsgruppe von persönlichen Beauftragten der Regierungschefs eingesetzt. In dieser Gruppe nahm für Deutschland Staatsminister Schmidbauer aus dem Kanzleramt teil. Er hat eine ganz exzellente Arbeit geleistet. Der vorgelegte Bericht, über den völliges Einvernehmen bestand, zeigt, daß wichtige Voraussetzungen für eine bessere Zusammenarbeit geschaffen wurden. Wir haben das Mandat dieser Arbeitsgruppe für das nächste Jahr verlängert. Wir wollen erreichen, daß die Gruppe der persönlichen Beauftragten die Zusammenarbeit im Bereich der Inneren Sicherheit, auch mit Drittstaaten, noch weiter voranbringt.

Ich werde gleich noch ein ausführliches Gespräch - neben dem Gespräch, das ich eben mit Präsident Ulmanis hatte - mit den Regierungschefs der drei baltischen Staaten führen. Es geht mir darum, den Kollegen aus den drei baltischen Ländern noch einmal zu sagen, wie sehr wir respektieren und würdigen, unter welch schwierigen Verhältnissen und Umständen hier die Reformen vorankommen. Aus den Erfahrungen in den neuen Ländern wissen wir - bei uns zu Hause allerdings unter wesentlich günstigeren Bedingungen -, wie schwierig, aber auch wie bedeutsam das Vorankommen von Reformen ist.

Ich will den Regierungschefs vor allem noch einmal versichern, daß es unser Interesse ist - das deutsche und mein Interesse -, daß die volle Mitgliedschaft in der Europäischen Union für diese Länder in einer sehr nahen Zukunft Wirklichkeit wird. Von außen können wir helfen, die eigentlichen Entscheidungen müssen aber hier fallen. Wir können Hilfe zur Selbsthilfe geben. Das wollen wir tun. Für mich steht jedenfalls einmal mehr fest, daß die baltischen Staaten ein Herzstück Europas sind und daß wir in diesem Sinn versuchen, die notwendige Unterstützung zu geben.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 10. 9. Februar 1998.