23. Juni 1983

Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation vor dem Deutschen Bundestag

Nationale Einheit im europäischen Rahmen

 

Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Mit diesem Bericht zur Lage der Nation kehrt die Bundesregierung zum ursprünglichen Auftrag des Deutschen Bundestages zurück, alljährlich einen Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen, im geteilten Deutschland vorzulegen.

In den siebziger Jahren hatte der Bericht nur noch den Titel „Bericht zur Lage der Nation" getragen. Der Hinweis auf das geteilte Deutschland war unterblieben. Der Schwerpunkt der Berichterstattung und damit auch der Diskussion hatte sich zunehmend auf die politische Lage der Bundesrepublik Deutschland verlagert.

Heute wenden wir uns wieder dem eigentlichen Zweck dieser Berichterstattung zu. Es geht um Deutschland. Es geht um Selbstbestimmung, um Menschenrechte, und es geht um die Einheit unserer geteilten Nation.

Wir finden uns nicht damit ab, daß deutschen Landsleuten das Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten und daß ihre Menschenrechte verletzt werden.

Wir Deutsche finden uns mit der Teilung unseres Vaterlandes nicht ab.

Wir werden den Auftrag des Grundgesetzes zielstrebig und beharrlich weiter verfolgen, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Wir resignieren nicht, denn wir wissen die Geschichte auf unserer Seite. Der gegenwärtige Zustand ist nicht unabänderlich.

Aus geschichtlicher Erfahrung sind wir uns bewußt, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit nur im Rahmen einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu verwirklichen ist.

Meine Damen und Herren, die Teilung Deutschlands ist immer zugleich die Teilung Europas. Deutschlandpolitik muß sich deshalb immer auch als Beitrag zum europäischen Einigungswerk und damit als europäische Friedenspolitik verstehen.

Die ersten, die nach dieser Einsicht gehandelt haben, waren die Vertriebenen und Flüchtlinge, die als Folge des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verloren hatten. Sie haben damals mit großem Lebensmut die Bundesrepublik Deutschland als ihre neue Heimat angenommen und mit aufgebaut.

Für die Überwindung der deutschen Teilung brauchen wir den Rückhalt im Atlantischen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft. Das Bündnis und das geeinte Europa, wir brauchen sie mehr als andere.

 

Lage in Deutschland

1. Gemeinsame Geschichte

Es gibt zwei Staaten in Deutschland. Aber es gibt nur eine deutsche Nation. Ihre Existenz steht nicht in der Verfügung von Regierungen und Mehrheitsentscheidungen. Sie ist geschichtlich gewachsen, ein Teil der christlichen, der europäischen Kultur, geprägt durch ihre Lage in der Mitte des Kontinents.

Die deutsche Nation war vor dem Nationalstaat da, und sie hat ihn auch überdauert; das ist für unsere Zukunft wichtig.

Die Bundesrepublik Deutschland gehört zum Westen. In der Auffassung der westlichen Welt von der Würde und Freiheit des Menschen hat unsere Verfassung ihr Fundament. In allen Parlamentswahlen seit 1949 haben unsere Bürger die Grundentscheidung für das freie Europa und für das Werk der europäischen Einigung bestätigt.

Wir haben eine Idee von der deutschen Nation, die unvereinbar ist mit dem Bild von Deutschland, das sich die amtliche DDR heute noch macht.

Wir wollen die Nation freier Bürger, die Nation, die Klassengegensätze überwindet, widerstreitende Interessen versöhnt und Gemeinschaft stiftet im Bekenntnis zum geschichtlichen Erbe und zu den Werten und Tugenden, die allen Deutschen eigen und verpflichtend sind.

In dem freiheitlichen Menschenbild des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland erkennen sich die Deutschen - ich meine, alle Deutschen - wieder.

 

2. Gedenktage

Meine Damen und Herren, 1983 jähren sich wichtige Gedenktage, wichtig, weil unübersehbar in ihrer fortwirkenden Bedeutung für unsere Gegenwart:

Übermorgen, am 25. Juni, erinnern wir uns in Krefeld an die Auswanderung der ersten deutschen Familien nach Amerika vor 300 Jahren. In diesen 300 Jahren wuchs ein großes Band, eine gewaltige Verbindung von Menschen im Auf und Ab der Geschichte.

Vor sechs Tagen hat der Herr Bundespräsident hier von dieser Stelle aus den 30. Jahrestag des 17. Juni 1953 gewürdigt. Er hat aus diesem Anlaß betont, daß das deutsche Volk an seinem Willen zur Einheit in Freiheit auch nach 30 Jahren geduldig festhält. Denn, so sagte der Bundespräsident:

"Die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und die Deutschen in der DDR sehen nicht die Bundesrepublik und nicht die DDR, sondern Deutschland als ihr Vaterland an."

Meine Damen und Herren, der 17. Juni wirkt politisch weiter. Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses Datum zum Tag der deutschen Einheit, zum nationalen Gedenktag des deutschen Volkes gemacht. Ich möchte feststellen: Dabei bleibt es!

Wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland das Andenken an den Aufstand von 1953 bewahren, dann tun wir das für alle Deutschen - auch für unsere Landsleute in der DDR. „Wir wollen freie Menschen sein", riefen bereits am Vormittag des 16. Juni die Bauarbeiter der Stalinallee.

Wir wollen freie Menschen sein - meine Damen und Herren, bündiger und präziser kann der Wille der Nation nach der gemeinsamen Erfahrung mit der totalitären NS-Diktatur nicht ausgedrückt werden.

Wir alle wissen, daß Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung höchste Werte sind; sie sind auf Dauer nicht teilbar. Darin liegt für uns, für unser Volk - im Sinne der Präambel unseres Grundgesetzes - große Hoffnung.

In diesem Jahr, meine Damen und Herren, erinnert sich unsere Nation aber auch des Aufstiegs der deutschen Diktatur durch Hitlers Machtergreifung vor 50 Jahren. Auch das gehört zur gemeinsamen Geschichte der Deutschen.

Aber der totalitäre Staat, die Diktatur, ist nicht das Ziel der deutschen Geschichte gewesen und nicht ihr letztes Wort geblieben. Er ist Vergangenheit, widerlegt durch seine Taten und überwunden durch die Entscheidung der Deutschen für die Freiheit und die Würde des Menschen.

Ich denke, wirkungsmächtiger vor der Geschichte sind der Glaube und die Ideen, die Martin Luther den Deutschen und der Welt hinterlassen hat. Die Erinnerung an Martin Luther und die Frage, was er für Zeit und Zukunft bedeutet, führen die Deutschen in diesem Jahr zusammen.

Martin Luther ist eine Gestalt der deutschen Geschichte und der Geistesgeschichte der Welt. Vor 500 Jahren in Eisleben geboren, stand er an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Er war kein Mensch der Renaissance, und ihm ging es nicht um Revolution. Er wollte die Kirche erneuern. Seine Bibelübersetzung und seine zahlreichen Schriften haben die deutsche Sprache, haben unsere Sprache lebendig und kraftvoll geformt.

Meine Damen und Herren, Martin Luther steht an den Anfängen der deutschen Kultur der Neuzeit. Wir Deutschen sind so, wie wir sind, ohne die Gestalt des Reformators nicht zu denken. Zu Martin Luthers Gedenken gibt es in beiden Teilen Deutschlands eine Vielzahl wichtiger Veranstaltungen. Bei uns in der Bundesrepublik werden sie vor allem von der Kirche gestaltet.

In der DDR dagegen zeigt das Luther-Jubiläum besonders deutlich das Bemühen um eine parteiische, vom Staat diktierte Aneignung der Geschichte. Die staatliche Sicht auf Luther in der DDR will den Reformator als Vorläufer der sozialistischen Gesellschaft vereinnahmen. Das Luther-Komitee der Evangelischen Kirche in der DDR sagt aber ganz einfach: Luther ist ohne die Kirche nicht zu denken.

Die großen Gedenktage dieses Jahres - dazu gehört auch der hundertste Todestag von Karl Marx - zeigen die Einheit der Nation in ihrer ganzen, in ihrer vieldeutigen Geschichte. Die SED hat seit ihrer Entstehung stets auf das sozialistische Deutschland gepocht. Das ist ihr Ziel bis heute geblieben. Geändert haben sich in den letzten Jahren historische Begründungen. Früher hat sich die DDR nur mit parteiisch ausgewählten Epochen und Gestalten unserer Geschichte identifiziert; alles andere hat sie abgewiesen und verdammt, Preußen nicht anders als Friedrich den Großen, den Aufstieg des Bürgertums nicht anders als Martin Luther.

Wer sich - wie die DDR - der deutschen Geschichte bemächtigen will, um daraus nationale Ansprüche abzuleiten, der muß sich der ganzen deutschen Geschichte stellen.

Wir müssen, um die Zukunft zu meistern, mit unserer Geschichte leben, wie sie nun einmal war, und wir müssen versuchen, daraus zu lernen.

Ich finde, es ist gut, daß in den beiden Staaten in Deutschland der Blick wieder mehr auf die gemeinsame Geschichte gerichtet wird. Denn in ihrer Geschichte, in ihrer Sprache und in ihren Werten ist die Einheit der Nation unverlierbar.

Ein Regime, das sich mit Mauer und Stacheldraht umgibt, mag die Geschichte umschreiben wollen. Bestehen wird es vor der Geschichte nicht. Solche Regime - das zeigt die Geschichte - werden vom Freiheitswillen der Menschen und Völker überlebt.

 

3. Berlin

Dieses Wissen begründet auch unsere Zuversicht und begründet den Lebensmut der Menschen im freien Teil Berlins.

Die Lage unserer Nation spiegelt sich im Schicksal der Stadt Berlin. Seit Kriegsende geteilt, gehört die Stadt zwei verschiedenen politischen Welten an, die sich hier auf engstem Raum gegeneinander darstellen und abgrenzen.

Die Mauer in Berlin ist zum weltweit bekannten Symbol der gewaltsamen Teilung Deutschlands geworden.

1987 wird Berlin 750 Jahre alt. Dieses Jubiläum wird an die in einer langen Stadtgeschichte gewachsenen Bindungen mitten in Deutschland erinnern. Ich hoffe, daß unser gemeinsames Ziel, zu diesem Zeitpunkt das Deutsche Historische Museum in Berlin zu eröffnen, erreichbar sein wird.

Berlin bleibt Gradmesser für die Ost-West-Beziehungen, Berlin bleibt das Symbol für die offene deutsche Frage. Deshalb wollen wir die Lebensfähigkeit der Stadt sichern, ihre Attraktivität wirtschaftlich, kulturell und politisch fördern.

Die Festigung und Weiterentwicklung der Bindungen Berlins an den Bund bleibt eine Aufgabe von nationalem Rang.

Unser besonderes Anliegen ist die Aufrechterhaltung einer stabilen Lage in und um Berlin. Dazu gehört vor allem der ungehinderte Verkehr auf den Zugangswegen. Die strikte Einhaltung und volle Anwendung des Viermächte-Abkommens über Berlin ist von entscheidender Bedeutung für die Qualität der Ost-West-Beziehungen.

Wir stellen dankbar fest, daß das Schlußkommuniqué der NATO-Ministerratstagung, die am 9. und 10. Juni, also vor wenigen Tagen, in Paris stattfand, erneut zeigt, daß diese Haltung von unseren Verbündeten ohne jeden Vorbehalt geteilt wird.

Die wirtschaftliche Lage Berlins, die seit Jahren Anlaß zu Besorgnis gibt, zeigt erstmals wieder leicht positive Ansätze.

Die Bundesregierung und der Berliner Senat - ich sage ganz bewußt: ich folge hier auch jenen Anregungen, die mein Amtsvorgänger gegeben hat - haben in vertrauensvollem Zusammenwirken verbesserte Rahmenbedingungen geschaffen. Ich gehe deshalb davon aus, daß die deutsche, aber auch die ausländische Wirtschaft Berlin als attraktiven Industriestandort wieder stärker in ihre Unternehmensplanungen einbezieht.

Die Berliner Wirtschaftskonferenz Ende 1982, die erste in meiner Amtszeit, hat diese Erwartungen bereits bestätigt, und ich freue mich darüber, daß die von der deutschen Industrie angekündigten Investitionsvorhaben schneller umgesetzt werden konnten, als seinerzeit zu erwarten war.

Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch Bereiche, die uns weiterhin Sorgen bereiten, so

- der überproportionale Abbau von Arbeitsplätzen insbesondere in der gewerblichen Wirtschaft Berlins,
- die hohe Arbeitslosenquote, die mit 11,6 Prozent im Mai deutlich über dem Bundesdurchschnitt lag, und
- die rückläufige Zuwanderung westdeutscher Arbeitnehmer in die Stadt.

Die Bundesregierung und der Berliner Senat haben eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um die Lebensfähigkeit der Stadt durch neue, zukunftsorientierte Arbeitsplätze zu sichern.

Hier möchte ich nur die zum 1. Januar 1983 in Kraft getretene Novellierung des Berlinförderungsgesetzes und das vom Berliner Senat beschlossene Struktur- und Ausbildungsprogramm nennen. Damit sind Weichen für Erneuerung und Modernisierung der Berliner Wirtschaft gestellt.

Ein wichtiges Ereignis für Berlin war die Unterzeichnung der kommerziellen Verträge über die Lieferung von Erdgas aus der Sowjetunion. Sie schaffen weitere Grundlagen für die langfristige und kostengünstige Energieversorgung der Berliner Wirtschaft. Diese Vereinbarungen tragen dazu bei, im Rahmen der innerdeutschen Beziehungen die Situation von Berlin zu erleichtern und zu verbessern.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Einbeziehung der S-Bahn in das Berliner Nahverkehrssystem. Das Bundeskabinett hat - in Übereinstimmung mit dem Berliner Senat - am 1. Juni dem dazu erarbeiteten Konzept zugestimmt.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird sich auch in Zukunft im Rahmen der Berlin-Hilfe an der Finanzierung des Berliner Haushalts beteiligen. Diese Hilfe ist für uns ein selbstverständlicher Akt unserer Solidarität mit den Menschen einer Stadt, die in ihrer geographischen Lage von den Auswirkungen der Teilung Deutschlands in besonderem Maße betroffen ist.

 

4. Verhältnis der beiden Staaten in Deutschland

Zehn Jahre nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrages mit der DDR sind die beiden Staaten in Deutschland von dem dort formulierten Ziel „normaler gutnachbarlicher Beziehungen" nach wie vor weit entfernt.

Normalität kann nicht entstehen, solange es an der Grenze mitten durch Deutschland Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl und Schikanen gibt.

Gutnachbarliche Beziehungen kann es nicht geben, solange Landsleute aus der DDR immer wieder Leben und persönliche Freiheit aufs Spiel setzen, weil ihnen elementare Menschenrechte vorenthalten werden.

Dazu können und dazu werden wir nicht schweigen, denn Friede kann nicht gedeihen, wo Menschenrechte mißachtet werden. Auch die Schlußakte der KSZE von Helsinki und die Menschenrechtsdokumente in allen anderen Bereichen stellen diesen Zusammenhang immer wieder eindeutig her.

Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen ist trotz nunmehr 38 Jahre währender Teilung unseres Vaterlandes unverändert lebendig. Dies zeigen die vielfältigen Verbindungen, die nichtstaatliche Organisationen auf ihren Ebenen in die DDR aufgebaut haben und unterhalten.

Ich möchte hier ganz besonders die grenzüberschreitende Partnerschaft der Kirchen innerhalb Deutschlands dankbar würdigen. Bis hin zu den Gemeindemitgliedern werden hier nicht nur Kontakte gepflegt, sondern wird zusammengearbeitet und tatkräftige Hilfe geleistet.

Aus all dem ergibt sich: Praktische Deutschlandpolitik kann nur als Politik des Dialogs, des Ausgleichs und der Zusammenarbeit erfolgreich sein. Den Zustand, wie er heute ist, wollen wir nicht bloß verwalten. Mit konkreten Schritten wollen wir die Teilung erträglicher machen und vor allem weniger gefährlich. Wir wollen dies tun in mitmenschlicher Verantwortung für die Deutschen in der DDR, die unsere Nächsten, also mehr als unsere Nachbarn sind.

Über ein geregeltes Nebeneinander hinaus erstreben wir einen Zustand des Zusammenlebens in Deutschland,

- in dem das gewachsene Geflecht der Beziehungen sich verdichtet und weiter verfestigt,
- einen Zustand, in dem beide Seiten durch ausgewogenes Geben und Nehmen ihrer Verantwortung für die Menschen gerecht werden,
- einen Zustand, der für beide Seiten Verpflichtungen enthält, auf die sie sich verlassen können.

Wer sich zum Erbe der gemeinsamen deutschen Geschichte bekennt, kann sich dem nicht verschließen. Auch das gehört zur historischen Kontinuität.

In den Regierungserklärungen vom Oktober 1982 und Mai 1983 habe ich die Grundsätze bezeichnet, die für unsere Deutschlandpolitik bestimmend sind. Die Bundesregierung wird die Verträge mit der DDR als Instrument aktiver Friedenspolitik im Interesse der Menschen im geteilten Deutschland nutzen.

Deutschlandpolitik muß ausgehen von den realen Machtverhältnissen in unserer Zeit. Aber, meine Damen und Herren, zu der Macht der Tatsachen zählen nicht nur die Politik der Regierungen und die Stärke der Waffen, sondern auch der Wille der deutschen Nation zur Einheit.

Nicht nur die Rechtslage, sondern auch die geschichtliche Kraft dieses Willens unseres Volkes hält die deutsche Frage offen.

Wer anders spricht, kann weder für seine Freunde im Westen noch für unsere Nachbarn im Osten glaubwürdig sein.

Generalsekretär Honecker hat sich auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1983 dafür ausgesprochen, diejenigen Fragen in Angriff zu nehmen, die jetzt lösbar sind, und andere zurückzustellen.

Ich halte es in der Tat für richtig, daß wir uns auf diejenigen Fragen konzentrieren, die ohne Preisgabe unserer elementaren Grundsätze mit Kompromissen lösbar sind. Zusammenarbeit, meine Damen und Herren, liegt - wo immer sie möglich ist - im wohlverstandenen Interesse beider Staaten in Deutschland.

Die politische Führung der DDR muß wissen: Die Bundesregierung hält sich strikt an das Grundgesetz und an Geist und Buchstaben des Grundlagenvertrages und der übrigen rechtsverbindlichen Vereinbarungen. Aber Vertragstreue erwarten wir selbstverständlich auch von der DDR.

Seit dem letzten Bericht zur Lage der Nation gab es keinen Stillstand - trotz fortbestehender Belastungen und trotz neuer Beeinträchtigungen des Klimas. Wir setzen uns auch in Zukunft intensiv für die Familienzusammenführung ein.

Die DDR hat in jüngster Zeit wiederholt Mitbürger ausgebürgert und zwangsweise in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben, die sich in der Friedensbewegung in der DDR engagiert haben. Wir werden diesen Vorgang immer wieder klar und deutlich auch gegenüber der DDR ansprechen.

Auch im vergangenen Jahr sind wieder weniger Menschen aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR gereist: 1982 nur noch fünf Millionen gegenüber früher acht Millionen. Hier wirkt sich immer noch die Erhöhung und Ausweitung des Mindestumtausches vom Oktober 1980 aus. Sie trifft gerade Menschen mit geringem Einkommen und Kinderreiche besonders hart. Wir bestehen mit Nachdruck auf der Senkung der Mindestumtauschsätze.

In diesem Jahr kam es zu schwerwiegenden Vorfällen im Berlin-Transitverkehr und im Reiseverkehr in die DDR. Der Tod von zwei Menschen hat uns alle tief betroffen gemacht. Er hat die Probleme harter Grenzkontrollen erneut in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt.

Die Entwicklung im Reiseverkehr in die DDR kann uns nicht zufriedenstellen. Zwar hat die DDR im vergangenen Jahr einige kleine Erleichterungen eingeführt. Einen nennenswerten Zuwachs im Reiseverkehr haben diese Maßnahmen indes nicht bewirkt.

Im Reiseverkehr in die DDR haben Klagen über Schikanen, über hohe Zollstrafen seit einiger Zeit erheblich zugenommen. Die Bundesregierung hat dieses Thema aus Anlaß der jüngsten Fälle auf politischer Ebene gegenüber der DDR zur Sprache gebracht. Wir werden das immer wieder und entschieden tun, bis diese Vorkommnisse abgestellt sind.

Ich füge aber auch hinzu, daß die ersten Anzeichen für Verbesserungen, die wir beobachten, auf eine dauerhafte Entwicklung hinweisen.

Im Transitverkehr mit Berlin macht uns vor allem die starke Zunahme der Verdachtskontrollen Sorge. Die Bundesregierung hat sich mit großem Nachdruck in der Transitkommission und auf politischer Ebene gegenüber der DDR-Regierung gegen diese Praxis gewandt.

Die Belastungen - auch das gehört in diesen Bericht - im Transitverkehr unterstreichen vor allem auch die Bedeutung des Luftweges als des einzigen freien und unkontrollierten Zugangs von und nach Berlin.

Die Bundesregierung hat den von der Vorgängerregierung beschlossenen stufenweisen Abbau der Subventionen für Flüge von und nach Berlin rückgängig gemacht. Sie hat dafür im Bundeshaushalt 1983 einen Betrag von 95 Millionen DM bereitgestellt.

Der Reiseverkehr aus der DDR in das Bundesgebiet hat seit Anfang der siebziger Jahre nicht wesentlich zugenommen. Die weitaus meisten Reisenden sind ältere Menschen, überwiegend Rentner; sie sind uns herzlich willkommen.

Eine erfreuliche Entwicklung können wir bei Reisen jüngerer Menschen in dringenden Familienangelegenheiten feststellen. In manchen Fällen genehmigt die DDR Reisen jüngerer Menschen inzwischen etwas großzügiger als bisher. In den ersten Monaten dieses Jahres waren es doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum 1982. Gleichwohl bleibt die Zahl bei nur 46.000 Reisen im vergangenen Jahr auch weiterhin unzureichend.

Wichtigstes Ziel - und ich unterstreiche das auch sehr persönlich - unserer Politik im Ost-West-Reiseverkehr bleibt deshalb die Erweiterung der Reisemöglichkeiten auch für jüngere Menschen.

Solange die persönliche Begegnung der Menschen im geteilten Deutschland nur unter Schwierigkeiten möglich ist, könnte der innerdeutsche Post- und Fernmeldeverkehr die Grenze durch Deutschland wenigstens etwas durchlässiger machen. Aber trotz einiger Verbesserungen ist zum Beispiel die Zahl der Fernsprechleitungen für einen reibungslosen Telefonverkehr noch immer nicht ausreichend. Die Bundesregierung wird sich daher bemühen, auch auf diesem Gebiet Fortschritte im Interesse der Menschen zu erreichen.

Meine Damen und Herren, um es noch einmal deutlich zu sagen: Alle Fortschritte bei den Bemühungen, über die Grenze in Deutschland hinweg Verbindungen und Kommunikation zwischen den Menschen zu vermehren und zu erleichtern, ändern nichts daran, daß diese Grenze unerträglich bleibt.

Das gilt nicht nur für die Menschen in Deutschland, das gilt in zunehmendem Maß auch für die natürlichen Lebensgrundlagen unseres Landes.

Sie pfleglich zu behandeln, sie zu erhalten und unversehrt an die nachwachsenden Generationen weiterzugeben, muß der gemeinsame Auftrag der Verantwortlichen in beiden Teilen Deutschlands sein.

Hier geht es um ein gemeinsames, ein gesamtdeutsches Lebensinteresse, das nicht notleidend werden darf.

Alle Staaten in Europa - in Ost und West - werden mehr und mehr mit Umweltschutzproblemen konfrontiert, die kein Staat für sich allein lösen kann. Umweltbelastungen machen nicht an Grenzen halt. Die großräumige Luftverunreinigung und die alarmierenden Waldschäden bereiten nicht nur uns schwere Sorgen.

Bei gutem Willen, so denke ich, können die beiden Staaten in Deutschland ein Beispiel dafür geben, was Zusammenarbeit beim Umweltschutz zum Wohl der Bürger zu leisten vermag.

Deshalb muß das im Grundlagenvertrag vorgesehene Umweltabkommen mit der DDR endlich zustande kommen. Bis dahin wird die Bundesregierung jede Gelegenheit nützen, um mit der DDR bei besonders dringlichen Problemen konkrete Verbesserungen zu erzielen. Ich verweise auf die Gespräche über die Schadstoffbelastung von Elbe und Werra.

Gestern konnte in Leipzig ein erstes Fachgespräch über Fragen der Rauchgasentschwefelung geführt werden. Ein weiteres soll im Juli 1983 in Bonn folgen. Ich habe die Hoffnung und vor allem den Wunsch, daß diese Gespräche dazu beitragen werden, die Luftreinhaltung auf beiden Seiten der Grenze zu verbessern.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, unsere Bereitschaft zu langfristigen Abmachungen gilt auch für Umweltprobleme im Energiebereich. Die Bundesregierung sucht deshalb weiterhin das Gespräch über die Sicherheit kerntechnischer Anlagen sowie über Fragen des Strahlen- und des Katastrophenschutzes.

Möglichst vielfältige Kontakte und Zusammenarbeit im Bereich von Kultur, Bildung, Wissenschaft und Technik und nicht zuletzt des Sports tragen zum besseren Verständnis zwischen den Menschen bei.

Die DDR hat sich im September 1982 bereit erklärt, die 1975 unterbrochenen Verhandlungen über ein Kulturabkommen wieder aufzunehmen. Wir wissen, daß diese Gespräche ganz besonders schwierig sein werden. Aber wir wünschen, daß die Verhandlungen jetzt endlich beginnen.

Die Beziehungen auf dem Gebiet des Sports hält der Deutsche Sportbund - und ich stimme ihm zu - für noch nicht befriedigend. Wir wünschen dringend, daß möglichst viele Sportler, möglichst viele junge Leute aus beiden Teilen Deutschlands Gelegenheit haben, sich im sportlichen Vergleich zu begegnen.

In den Rechtshilfeverhandlungen mit der DDR hat die Bundesregierung Vorschläge unterbreitet, die sich auf die derzeit lösbaren Fragen konzentrieren und für beide Seiten praktikable Lösungen anbieten.

Der innerdeutsche Handel bietet Chancen für beide Seiten. Er ist ein wichtiges Element der Beziehungen zur DDR und bringt gerade auch der DDR vielfältigen Nutzen. 1982 wurde mit einem Handelsumsatz von über 14 Milliarden DM eine Zuwachsrate von 13 Prozent erreicht. Das kann günstige Aussichten für die Zukunft eröffnen.

Die Bundesregierung ist bereit, die innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen auf der Grundlage der bestehenden Abkommen auszubauen und ihre kontinuierliche Entwicklung zum beiderseitigen Vorteil zu fördern. Diese Beziehungen sind über alle Veränderungen der internationalen Lage hinweg ein Element der Stetigkeit und der Berechenbarkeit für beide Seiten.

Wir wissen, daß die DDR bei der Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik andere politische Ziele verfolgt als wir. Abgrenzung steht gegen mehr Freizügigkeit, und wir wollen mehr Freizügigkeit für Menschen, für Informationen, für Gedanken, für Meinungen.

Freizügigkeit, in diesem umfassenden Sinne verstanden, dient dem Frieden. Je mehr die Menschen voneinander wissen, desto besser können sie sich verstehen und desto lebendiger bleibt das Gefühl der Verbundenheit, desto schwerer ist es, sie durch Feindbilder zu manipulieren.

Aber auch an uns hier in der Bundesrepublik liegt es, die DDR, diesen anderen Teil deutscher Wirklichkeit, nicht hinter einer Mauer des Vergessens sich selbst zu überlassen. Was in der DDR geschieht, wie die Menschen dort leben, was sie denken und empfinden - das alles ist Teil der deutschen Gegenwart.

Ich möchte hier ausdrücklich ein Wort des Dankes an die Korrespondenten aus der Bundesrepublik Deutschland sagen, die sich trotz mancher Einschränkungen durch die Behörden der DDR tatkräftig bemühen, die Öffentlichkeit über die DDR zu informieren.

Die Bundesregierung wird sich dementsprechend auch weiterhin für eine Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten von Journalisten einsetzen.

Meine Damen und Herren, jeder von uns macht die Erfahrung bei Begegnungen mit Mitbürgern aus der jüngeren und mittleren Generation, daß es eine erhebliche Unkenntnis über die Verhältnisse in der DDR gibt. Politische Bildung in den Schulen, Medien und nicht zuletzt die Parteien und die Politiker sollten das Ihrige dazu beitragen, um diesen Mangel zu beheben. Vor allem sollten Schulen und Lehrer mehr als bisher die Gelegenheit zu Schülerreisen in die DDR und zu persönlichem Kontakt mit Jugendlichen dort nutzen.

Damit das klar ist: Ich spreche hier nicht nur die Lehrer und die Eltern und die Schüler an, ich spreche hier auch ganz bewußt die Kultusministerien und die Kultusminister der deutschen Bundesländer an.

Ich glaube, wenn in all diesen Bereichen wieder die Überzeugung wächst, daß es wichtig ist, daß junge Leute hinausfahren in die Welt, daß sie Paris, Rom, daß sie Stockholm, daß sie London kennenlernen, daß es aber noch wichtiger ist, daß sie einmal in ihrem jungen Leben in Dresden, Leipzig und auf der Wartburg waren, dann haben wir einen wichtigen Beitrag zur Einheit der Nation geleistet.

Wir alle müssen die Bereitschaft fördern, die Realität der DDR als alltägliche Lebenswirklichkeit unserer Landsleute kennenzulernen, die Alltagssorgen, die die Menschen dort bewegen, und natürlich auch ihre Meinungen und ihre Urteile über uns. Auch dies, meine Damen und Herren, gehört zum gesamtdeutschen Bewußtsein.

Unsere Landsleute in der DDR sind Deutsche so gut wie wir. Ihr Schicksal, ihr Leben, ihr Denken geht uns etwas an.

Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit, die der Grundlagenvertrag eröffnet, sind noch längst nicht ausgeschöpft. In der Regierungserklärung vom Mai habe ich festgestellt, daß Gespräche auf allen Ebenen nützlich sein können. Die Bundesregierung hat deshalb jede Gelegenheit zum Dialog mit der Regierung der DDR wahrgenommen.

Ich erinnere auch in diesem Zusammenhang an meine Kontakte mit Generalsekretär Honecker vor und nach dem Aufschub seines Besuchs in der Bundesrepublik Deutschland. Ich erinnere an die Begegnungen, die Mitglieder dieser Bundesregierung mit hochrangigen Gesprächspartnern aus der DDR-Führung hatten.

 

Deutschlandpolitik als europäische Friedenspolitik

Deutschlandpolitik ist europäische Friedenspolitik. Sie ist eine Politik für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, für die Überwindung der Teilung Deutschlands und der Spaltung Europas. Zu dieser Politik gibt es keine Alternative.

Die Erfahrungen unseres Volkes mit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges haben uns zu überzeugten Anhängern einer strikten Politik des Gewaltverzichts und der Friedenssicherung gemacht. Wir, die Deutschen, haben die Lektion der Geschichte gelernt. Unser oberstes Ziel ist und bleibt die Wahrung von Frieden und Freiheit.

Wir wissen um die tiefe Friedenssehnsucht der Menschen in beiden Staaten in Deutschland. Ich begrüße dankbar, daß sich die Kirchen über Konfessionen und Grenze hinweg in sehr grundsätzlicher Weise dieses Themas annehmen und damit auch die Sorgen und Ängste vieler, nicht zuletzt aus der jungen Generation, zum Ausdruck bringen. Auch das ist ein wichtiger Beitrag für Deutschland.

Frieden in Freiheit ist Voraussetzung für Fortschritte in allen Bereichen. Gewalt, Erpressung und Drohung dürfen niemals mehr ein Mittel deutscher Politik sein.

Die Bundesrepublik Deutschland hat auf Gewalt als Mittel der Politik verzichtet. Krieg ist für uns kein Mittel der Politik.

Wir wünschen uns, daß die Jugend in diesem Geiste in beiden Teilen Deutschlands heranwächst. Wir wünschen uns vor allem, daß die DDR damit aufhört, junge Menschen zum Haß auf den „Klassenfeind" zu erziehen.

Dabei erinnere ich daran: Die beiden Staaten in Deutschland tragen eine große Verantwortung für die Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt.

Unsere Rolle in Europa, aber auch die Lage des geteilten Deutschlands erfordern historische Einsicht, damit sich die politische Gestaltung von der Wirklichkeit nicht trennt. Sie erfordert einen zuverlässigen Kompaß für den hindernisreichen Weg, bis sich Deutschlands Einheit in einer europäischen Friedensordnung vollenden kann.

Es sind die Ideen, es sind die Ideale, die ein Volk bewegen, die Geschichte bewegen. Unsere Nation schöpft Kraft aus den gemeinsamen Werten, die ihre Identität mitbestimmen.

Deutschland ist immer ein Land der Mitte gewesen, über Jahrhunderte hindurch allen Einflüssen offen, in alle Richtungen wirkend und stets eingebunden in einen größeren europäischen Rahmen.

Die deutsche Frage war zu jeder Zeit auch eine existentielle Frage des europäischen Gleichgewichts. Dies wird immer so sein. Wer dies verkennt, wer einen neutralistischen deutschen Sonderweg in der Mitte Europas für möglich hält, der steigt aus geschichtlicher Erfahrung aus. Er erliegt einem unseligen nationalistischen Irrtum.

Wir brauchen die Einigung Europas, wie die Völker Europas die Überwindung der deutschen Teilung nötig haben. Unsere Nachbarn, unsere Verbündeten und unsere Partner wissen, daß die Lösung der deutschen Frage auch in ihrem Interesse liegt.

Zu den Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland gehört die Idee der europäischen Einigung. Dieses Ziel gilt unverändert.

Indem sie aufeinander zugehen und indem sie ihre Möglichkeiten einer Zusammenarbeit nutzen, schaffen beide Staaten in Deutschland eine notwendige Voraussetzung für die europäische Friedensordnung.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir brauchen heute in unserer Generation den Mut und die Kraft, über den Tag, über die Gegenwart hinauszudenken. Die geschichtliche Leistung unserer Generation wird später daran gemessen werden, ob es uns gelingt, die politische Einigung Europas, die Freiheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und den Fortbestand der deutschen Nation zusammenzudenken und in die politische Wirklichkeit unseres Volkes umzusetzen.

 

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 221-239.