23. Juni 1991

Festrede auf dem 57. Katholikentag der Diözese Speyer in Johanniskreuz

 

Es ist für mich eine große Freude, dass ich heute die Gelegenheit habe, auf dem Katholikentag der Diözese Speyer im Wald von Johanniskreuz über ein hochaktuelles Thema zu Ihnen zu sprechen: Die Verantwortung der Christen für Europa.

Wir alle sind Zeugen des Umbruchs in Deutschland und in Europa. Was vor wenigen Jahren noch ganz undenkbar war, ist für uns heute fast selbstverständlich: So haben letzte Woche die Bürger von Leningrad in einer Volksabstimmung entschieden, dass ihre Stadt in Zukunft wieder Sankt Petersburg heißen soll. Wenn man diese Erwartung vor zwei Jahren geäußert hätte, dann wäre man schlicht für verrückt erklärt worden. Einen Tag später erklärte der schwedische Ministerpräsident Carlsson im Reichstag in Stockholm, dass Schweden der Europäischen Gemeinschaft beitreten wolle. Auch dies war vor wenigen Jahren völlig undenkbar.

Wir wollen ein vereintes Europa schaffen. Aber ein vereintes Europa wird es nur geben, wenn es ein versöhntes Europa ist. Dieser Katholikentag steht unter dem zukunftsweisenden Leitwort „Unterwegs zu einem versöhnten Europa". Das Wort „Versöhnung" ist religiösen Ursprungs. Es erinnert uns daran, dass wahrer Frieden in den Herzen der Menschen beginnt. Es ist das irdische Abbild der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung. Als Christen sind wir uns bewusst, dass wir nicht das Paradies auf Erden schaffen können. Der wahre Frieden - von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk, zwischen uns und der übrigen Schöpfung -ist also ein Ziel, zu dem wir stets nur „unterwegs" sein können. Wirklichkeitssinn und Zuversicht bestimmen das Handeln des Christen in der Welt. So verstehe ich auch das Leitwort dieses Katholikentages.

Nationale Institutionen - Regierungen und Parlamente - und zwischenstaatliche Einrichtungen sichern den Frieden. Wirtschaftliche Zusammenarbeit kann dazu beitragen, Interessengegensätze zu überwinden. Aber ohne den Beitrag von Millionen einzelner Menschen würde es uns nicht gelingen, ein versöhntes Europa zu bauen. Ein versöhntes Europa - das ist mehr als nur die Abwesenheit von Konflikten oder gar von Krieg. Es bedeutet Einheit in Vielfalt: Einheit im Geiste jener Werte, die unseren Kontinent geprägt haben - auch wenn sie immer wieder durch Machtgier, Egoismus und Fanatismus missachtet worden sind. Gerade hier in der Pfalz, in der deutsch-französischen Grenzregion, weiß man besonders gut, welch kostbares Gut Versöhnung ist. Nach vielen Kriegen, nach Not und Gewalt wissen wir, was es heißt, wenn wir heute sagen: Die Franzosen sind unsere Freunde. Wir sind dankbar für dieses Geschenk der Geschichte an uns - an Deutsche und Franzosen.

Viele großartige Frauen und Männer haben auf diesem schwierigen Weg Beispiel gegeben. Ich möchte hier ganz bewusst das unvergessene Wirken von Abbe Franz Stock in und nach dem Zweiten Weltkrieg würdigen. Dieser katholische Priester aus dem Sauerland hat im besetzten Paris weit über tausend Franzosen, die zur Hinrichtung geführt wurden, auf ihrem letzten Weg begleitet und ihnen als Seelsorger zur Seite gestanden. Nach Kriegsende betreute er deutsche Kriegsgefangene in Frankreich. Er war einer von jenen, die inmitten eines deutschen Kriegsgefangenenlagers jungen Gefangenen auf ihrem Weg zum Priestertum halfen. Er hatte sich in den Dienst der Nächstenliebe, aber auch in den Dienst der Aussöhnung unserer Völker gestellt. Ich halte ihn für einen der herausragenden Brückenbauer zwischen Deutschen und Franzosen. Jeder von uns sollte auf seine Weise die Botschaft Franz Stocks weitergeben und in seinem Leben zu verwirklichen suchen.

Wer hätte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu hoffen gewagt, dass Deutschland und Frankreich ihre angebliche Erbfeindschaft überwinden und eines Tages sogar Motor des europäischen Einigungsprozesses sein würden? Dass es dazu kam, hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen verdanken wir diese Entwicklung der Weitsicht und der Entschlossenheit von großen Persönlichkeiten wie Robert Schuman oder Konrad Adenauer. Zum anderen waren es die vielen - vor allem jungen - Menschen, die die Chance zur Begegnung mit dem Nachbarn ergriffen und damit das Fundament einer dauerhaften Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern schufen.

Noch vor wenigen Jahrzehnten, in meiner eigenen Schulzeit, wurden Kinder in Deutschland und in Frankreich im bösen Geist der angeblichen Erbfeindschaft erzogen. Doch Hass und Feindschaft wurden überwunden, weil die Menschen es so wollten. Über offene Grenzen kamen und kommen sie zusammen, lernten und lernen einander kennen. In freien Begegnungen konnten und können sich Verständnis und Vertrauen entfalten. An meinem 18. Geburtstag im April 1948 benötigte ich noch einen Passierschein, nur um von meiner Heimatstadt Ludwigshafen nach Mannheim zu kommen. Heute überqueren junge Deutsche und junge Franzosen ganz selbstverständlich den Rhein, um Freundschaft zu schließen. Wir können uns das ganze Ausmaß der Öffnung, die wir in Europa schon erreicht haben, gar nicht oft und eindringlich genug vor Augen führen.

Drei Daten in der vergangenen Woche haben uns einmal mehr daran erinnert, dass Ausgleich, Verständigung und Versöhnung zwischen Menschen und Völkern uns nicht einfach in den Schoß fallen, sondern Aufgaben sind, die sich jeder Generation neu stellen: Am vergangenen Montag gedachten wir des 17.Juni 1953. Dieser Tag war und bleibt mehr als nur ein nationaler Gedenktag. Denn er erinnert uns stets auch daran, wie eng unser Schicksal mit dem unserer Nachbarn verflochten ist: 1953 trieb das Verlangen nach Freiheit, Selbstbestimmung und Achtung der Menschenrechte die Menschen im Osten Deutschlands auf die Straße. Die gleiche Sehnsucht bewegte auch die Menschen in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 sowie in Polen 1980 und in den Jahren danach.

Ebenfalls am vergangenen Montag - wir haben diesen Zeitpunkt mit Bedacht gewählt - haben der polnische Ministerpräsident Bielecki und ich den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Zugleich haben beide Regierungen ein Abkommen über das Deutsch-Polnische Jugendwerk geschlossen, auf das ich mich am 6. November vergangenen Jahres mit dem damaligen polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki wahrend unseres Treffens in Frankfurt an der Oder geeinigt hatte. Beide Verträge sind Meilensteine in der Geschichte des deutschen und des polnischen Volkes. Ihre Bedeutung geht jedoch weit über unsere beiden Länder hinaus. Sie sind wichtige Bausteine für das europäische Haus: Ohne deutsch-französische Freundschaft hätte das Werk der Einigung Europas nicht begonnen werden können, ohne deutsch-polnische Partnerschaft wird es sich nicht vollenden lassen. Zwischen dem 17.Juni 1953 und dem 17.Juni 1991 scheinen Welten zu Hegen - und doch sind beide Daten durch die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und nach Versöhnung, nach Versöhnung in Freiheit miteinander verknüpft. So wird der 17.Juni künftig sowohl ein Tag der Mahnung als auch ein Tag der Hoffnung sein.

Gestern jährte sich zum 50. Male der Tag, an dem deutsche Truppen in die Sowjetunion einmarschierten. Wir gedachten des unvorstellbaren Leides, den der von Hitler entfesselte Krieg auch über die Völker der Sowjetunion gebracht hat. Erst vor diesem Hintergrund können wir wirklich ganz ermessen, welch großartige Fortschritte wir während der vergangenen Jahre auch in unserem Verhältnis zur Sowjetunion erreichen konnten. Auf der KSZE-Gipfelkonferenz vom November vergangenen Jahres in Paris haben wir gemeinsam das Ende der Nachkriegszeit feierlich besiegelt. Zuvor hatte die Sowjetunion der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes zugestimmt und das Recht der Deutschen anerkannt, über ihre Bündniszugehörigkeit selbst zu bestimmen. 1994 -fünfzig Jahre, nachdem erstmals sowjetische Truppen deutschen Boden betraten - wird die Sowjetunion ihre Armee aus der ehemaligen DDR abgezogen haben.

Dieser Schritt in eine bessere Zukunft - wie überhaupt die Vielzahl revolutionärer Veränderungen in Europa wahrend der vergangenen Jahre - verleitet inzwischen manchen dazu, das Außergewöhnliche als etwas Selbstverständliches zu betrachten - in Wirklichkeit bezeugte er eine revolutionäre Veränderung in Europa. An einem Tag wie heute sollten wir uns jedoch bewusst machen, dass die Chance zur Versöhnung in Freiheit ein einmaliges Geschenk ist, nach dem sich Millionen von Menschen jahrzehntelang gesehnt haben und sich in anderen Teilen der Welt noch immer sehnen. Gerade wir Deutschen haben allen Grund zur Dankbarkeit, denn diese Entwicklung hat es uns ermöglicht, am 3. Oktober vergangenen Jahres die staatliche Einheit unseres Vaterlandes zu vollenden.

Viele haben unter der kommunistischen Diktatur ihr berufliches Fortkommen und ihre Freiheit dafür geopfert - und nicht wenige ihr Leben dafür eingesetzt -, dass alle Europäer jetzt endlich die Chance haben, in gemeinsamer Freiheit zusammenzuleben. Wenn wir uns das Gefühl der Dankbarkeit bewahren, dann werden wir auch die Kraft finden, das große Werk des Friedens zu vollenden, zu dem jetzt die Fundamente gelegt sind.

Es waren vor allem in ihrem Glauben tief verwurzelte Christen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges daran gingen, im freien Teil unseres Kontinents die Europäische Gemeinschaft aufzubauen. Sie handelten im vollen Bewusstsein der geistig-kulturellen Traditionen, die alle Völker Europas miteinander verbinden. Die Europäische Gemeinschaft ist auch inspiriert von der christlichen Überzeugung, dass die Nation ein hohes Gut ist, aber gewiss nicht das Höchste aller Güter. Als Christen glauben wir, dass der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen ist. Dies ist die Quelle seiner unantastbaren Würde. „Sie zu achten und zu schützen", so sagt es das Grundgesetz, „ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Die Würde jedes einzelnen Menschen zu achten und zu schützen, ist darüber hinaus eine gemeinsame Aufgabe aller Nationen.

Auf sich allein gestellt, ist heute wohl kein Staat mehr in der Lage, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen - angefangen bei der Lösung globaler Umweltprobleme, wie beispielsweise der Rettung der Regenwälder, bis hin zu unserer Verpflichtung, den Menschen in der Dritten Welt ein Leben in Würde zu ermöglichen. Zu Recht empfinden wir es heute als absurd, dass in vielen europäischen Bruderkriegen der Vergangenheit jede Nation davon überzeugt war, ein Gott wohlgefälliges Werk zu vollbringen. Die bitteren Erfahrungen vor allem in diesem Jahrhundert haben uns gelehrt, dass Nationalismus und Christentum sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Feindbilder und Hasspropaganda stehen in diametralem Gegensatz zum biblischen Gebot der Nächstenliebe.

Patriotismus kennzeichnet die Haltung des Christen zu seinem eigenen Vaterland, denn Patriotismus bedeutet immer auch Achtung vor der Vaterlandsliebe des Nachbarn und damit die Ablehnung jeder Form nationaler Überheblichkeit. Auf dieser geistigen Grundlage wurde die Europäische Gemeinschaft zum Modell eines Zusammenschlusses freier Nationen, die heute ihre Energien zum gemeinsamen Vorteil bündeln. Im Bewusstsein zu vieler ist die Europäische Gemeinschaft nur ein Zusammenschluss zur wechselseitigen Mehrung des wirtschaftlichen Nutzens. Das ist falsch. In Wahrheit geht es um mehr - um eine geistigpolitische Aufgabe ersten Ranges. In einer europäischen Ordnung der Freiheit und des Friedens ist kein Platz mehr für die Rivalitäten und Grenzstreitigkeiten, wie sie für die Staatenwelt des 19.Jahrhunderts bis tief hinein in unser Jahrhundert charakteristisch waren.

Winston Churchill hat in seiner berühmten Züricher Rede vom September 1946 zu Recht betont, kleine Nationen müssten den gleichen Rang einnehmen wie ihre großen Nachbarn. Die innere Größe einer Nation - auch das ist christliches Gedankengut - bemisst sich eben nicht nach Bevölkerungszahl oder nach der Höhe des Bruttosozialprodukts, sondern nach dem Einsatz eines Volkes für das friedliche Zusammenleben der Nationen. Das europäische Staatensystem vor dem Zweiten Weltkrieg war nicht in der Lage, Stabilität hervorzubringen. Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft wurde die einzig richtige Konsequenz aus dieser Einsicht gezogen. Es handelte sich um eine Revolution von allergrößter Tragweite. Diese Revolution wird erst dann vollendet sein, wenn wir - um es erneut in den Worten von Winston Churchill zu sagen - die „Vereinigten Staaten von Europa" geschaffen haben. Auf dem Weg dorthin sind wir im vergangenen Jahrzehnt - nach einer Phase des Stillstands - große Schritte vorangekommen. Eine wichtige Station wird die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes Ende 1992 für 340 Millionen Menschen sein. Man braucht kein Prophet zu sein, um vorhersagen zu können, dass wir in weniger als zehn Jahren eine Europäische Gemeinschaft erleben werden, die weit über 340 Millionen Einwohner haben wird und neben den Demokratien jenseits des Atlantiks und neben den Staaten im Fernen Osten die dritte große Kraft der Welt sein wird.

Doch wir arbeiten bereits heute an der Gestalt Europas im Jahre 2000. Bis Ende 1991 sollen im Rahmen von zwei Regierungskonferenzen die Grundlagen für eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion sowie für eine Politische Union erarbeitet werden. So wichtig die Fragen der Wirtschaft und Währung auch sind, wir sollten niemals aus dem Auge verlieren, dass wir in Europa vor allem eine Werte- und Kulturgemeinschaft bilden. Wir müssen daher das Bewusstsein für die geistigkulturelle Dimension Europas wieder schärfen. Dies ist auch ein Auftrag an unsere eigene Kirche. Die gemeinsame Kultur ist das stärkste Band, das Europa in Ost und West zusammenhält und auch in Zukunft zusammenschließen wird.

Papst Johannes Paul II. hat bei seinem Besuch in Straßburg vor einigen Jahren vom „Genius Europas" gesprochen. Dieser Geist verbindet das Europa der Gemeinschaft mit den Völkern in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Gerade die Menschen dort haben in den Jahrzehnten der Teilung unseres Kontinents nie aufgehört, die kulturelle Einheit Europas zu betonen - und keine Diktatur hat dieses Zusammengehörigkeitsgefühl jemals zerstören können. Polen und Ungarn, Tschechen und Slowaken sowie die Menschen in der ehemaligen DDR haben stets Wert darauf gelegt, dass sie nicht nur geographisch, sondern auch aus ihrem Selbstverständnis, aus ihrer Tradition und aus ihrer Geschichte heraus geistig und kulturell Europäer sind.

Mit unserer Politik der europäischen Einigung - das war schon die Überzeugung Konrad Adenauers - haben wir deshalb stets auch im Interesse der Menschen und Völker in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gehandelt. Heute können sie endlich darangehen, dieses Werk des Friedens in freier Selbstbestimmung mit zu gestalten.

Zu unserer politischen Verantwortung gehört es, den Ländern in Mittel- und Südosteuropa den Weg in die Europäische Gemeinschaft nicht zu versperren - wenn sie diesen Weg gehen wollen und sobald die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft gegeben sind. Deshalb habe ich mich schon frühzeitig dafür eingesetzt, dass die EG mit Polen, Ungarn und der CSFR Assoziierungsverträge abschließt. Aus demselben Grunde haben wir im deutschpolnischen Nachbarschaftsvertrag vereinbart: „Die Bundesrepublik Deutschland steht positiv zur Perspektive eines Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Gemeinschaft, sobald die Voraussetzungen dafür gegeben sind."

Wir wollen allen neuen Demokratien in Mittel- und Südosteuropa bei ihrer „Heimkehr nach Europa" helfen. Dies verlangt von uns natürlich auch die Bereitschaft zu wirtschaftlicher Unterstützung. Ich werde oft gefragt, ob es nicht besser sei, zunächst nur den Menschen in den neuen Bundesländern zu helfen und unsere Unterstützung für die Nachbarn im Osten sowie für die Sowjetunion, aber auch für die Dritte Welt erst einmal zurückzustellen.

Ich halte dem stets entgegen, dass es schädlich für die moralische Reputation der Deutschen in der Welt wäre, wenn wir uns so verhalten würden. Wir würden als ein Volk betrachtet werden, das nur seine eigenen Interessen pflegt. So aber tragen wir nicht nur zur Sicherheit in jenen Ländern bei, sondern auch zum Frieden in Deutschland und in Europa. Es liegt also auch in unserem eigenen Interesse, die wirtschaftlichen und politischen Reformen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu fördern. Wie wollen wir eigentlich - um nur ein besonders wichtiges Beispiel zu nennen - mit unseren polnischen Nachbarn in Eintracht zusammenleben, wenn an Oder und Neiße eine neue Wohlstandsgrenze entsteht? Immerhin haben Deutschland und Polen jetzt eine gemeinsame Grenze von 500 Kilometern.

Es geht also nicht nur um wirtschaftliche Fragen. Wir wollen, dass die Menschen - vor allem aus der jungen Generation - zueinander kommen. Deshalb soll unsere Grenze zu Polen und zur CSFR so offen werden wie die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, wo wir es nach Jahrhunderten schmerzlicher Trennung zwischen dem Saarland und Lothringen, der Pfalz, Baden und dem Elsaß mittlerweile als fast selbstverständlich nehmen.

Die Schaffung eines versöhnten Europas setzt insbesondere voraus, dass die Opfer von Krieg, Fremdherrschaft und Vertreibung ihre Herzen auch gegenüber jenen öffnen, die ihnen Unrecht angetan haben. Es gibt keinen Anspruch auf Vergebung und Versöhnung. Um so bewegender ist es, wenn Opfer diesen Schritt wagen und damit den Teufelskreis von Hass und Gewalt durchbrechen. Dieses Vorbild gibt uns allen Orientierung.

Gerade auch die deutschen Heimatvertriebenen haben in ihrer Stuttgarter Charta von 1950 schon früh ein wegweisendes Bekenntnis zur Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn und zur Schaffung eines geeinten Europas abgelegt. Sie erklärten damals: „Die Vertriebenen werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Volker ohne Furcht und Zwang leben können... Wir Heimat vertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat." Nicht Rache, nicht Vergeltung: Mit diesen Worten haben sie ihre eindeutige Antwort auf die schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit gegeben. Sie haben damit vor aller Welt bekundet, dass die Saat des Hasses und der Gewalt - die Saat Hitlers und Stalins - kein neues Unrecht hervorbringen darf.

Heute sind in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße polnische Familien in zweiter und dritter Generation ansässig, diese Gebiete sind ihnen zur Heimat geworden. Wir Deutsche wollen nicht, dass Krieg und Elend, Blut und Tod immer wieder aufgerechnet werden. Wir wollen nach vorne schauen, auf die Zukunft kommender Generationen in Deutschland und in Polen. Der jungen polnischen Generation, die heute in Pommern, Schlesien und anderswo lebt, rufen wir zu: Wir wollen Frieden, wir wollen Verständigung, wir wollen Aussöhnung! Wir wollen ein freies und einiges Europa!

Das vereinte Deutschland kann gegenüber Polen an gute, ja an beste Traditionen anknüpfen: Die Beziehungen zwischen beiden Völkern sind in der Vergangenheit keineswegs nur von Zwietracht, von kriegerischen Konflikten und vom Leid der Menschen überschattet gewesen. Im Gegenteil: Es gab lange Perioden fruchtbaren Austauschs, ja eines harmonischen Miteinanders. Wir müssen auch endlich begreifen, was der polnische Dichter und Denker Cyprian Kamil Norwid im 19.Jahrhundert festgestellt hat: „Eine Nation besteht nicht nur aus dem, was sie von anderen unterscheidet, sondern auch aus dem, was sie mit anderen verbindet."

Auch in schlimmster Zeit hat es Deutsche gegeben, die Menschlichkeit gegenüber Polen geübt haben. Neben den vielen, die sich als Werkzeuge des Verbrechens missbrauchen ließen, gab es auch allemal „Zehn Gerechte", wie der Titel eines polnischen Erinnerungsbuches über die deutsche Besatzungszeit heißt. Es waren deutsche Patrioten, die 1830 - wahrend des polnischen Freiheitskampfes - gebannt und voller Hoffnung auf den Sieg der polnischen Sache setzten. Es waren polnische und auch französische Patrioten, die 1832 hier in unserer Heimat auf dem Hambacher Schloss an der Seite der Deutschen standen. Es war das Vorparlament der Frankfurter Paulskirche 1848, das die Befreiung Polens zur „heiligen Pflicht des deutschen Volkes" erklärte.

Diese Erfahrungen, das gemeinsame Ringen von Polen und Deutschen um Freiheit, sind von den Verbrechen in unserem Jahrhundert zum Teil verschüttet worden - die Erinnerung an sie darf nicht verlorengehen. Es gilt, sie im Gedächtnis der Völker zu neuem Leben zu erwecken. Wir dürfen nicht zu Gefangenen eines Denkens werden, das mit den dunklen Seiten der Vergangenheit nur die halbe Wahrheit zur Kenntnis nimmt. Wahrhaftigkeit ist oberstes Gebot, wenn die Aussöhnung zwischen den Völkern gelingen soll. Die Verständigung zwischen Deutschen und Polen darf niemanden ausschließen, sie muss auch gerade die Heimatvertriebenen einbeziehen. Denn wer könnte mehr für Verständigung und Aussöhnung tun als die deutschen Heimatvertriebenen oder als diejenigen Deutschen, die noch jenseits von Oder und Neiße ihre Heimat haben, oder als ihre polnischen Nachbarn?

Gemeinsam muss es uns darum gehen, in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße ein Modell des friedlichen Zusammenlebens in Europa zu gestalten. Wir könnten dort Zeichen setzen, wie in einem Europa der Vielfalt die verschiedenen Völker und Kulturen einträchtig zusammenleben. Auch hierzu enthält der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag wegweisende Regelungen - Regelungen, die uns Deutschen verständlicherweise besonders am Herzen lagen und die wir von den früher in Polen herrschenden Kommunisten jahrzehntelang vergeblich gefordert haben. Die deutsche Minderheit in Polen darf jetzt „ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck bringen", bewahren und weiterentwickeln. Deutschland und Polen verwirklichen die internationalen Standards zum Schütze und zur Förderung von ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Minderheiten.

Der politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel in Mittel-, Ost- und Südosteuropa stellt uns vor eine enorme geistige Herausforderung. Er ist ein Sieg für die Ideale von Freiheit, Menschenrechten und Selbstbestimmung. Aber wir dürfen auch nicht die Augen vor der Gefahr verschließen, dass mancherorts die alten Dämonen - Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus - zu neuem Leben erwachen. Deshalb bin ich auch so empört über das schamlose Auftreten von Neo-Nazis, leider gerade auch in den neuen Bundesländern - wie erst kürzlich in Dresden. Diese Leute haben aus der Geschichte dieses Jahrhunderts nichts gelernt - und ich bin froh darüber, dass sie in der Bevölkerung unseres Landes keinerlei Rückhalt finden.

Überall in Europa muss die Liebe zum eigenen Vaterland untrennbar verknüpft sein mit der Liebe zur Freiheit - und mit der Achtung vor der Würde des Nachbarn. Dies ist das Fundament einer europäischen Friedensordnung, in der die Menschen und Völker in gemeinsamer Freiheit zusammenleben - das Fundament eines „Hauses der Freiheit für alle Europäer", wie es Konrad Adenauer im Jahre 1961 so weitsichtig ausgedrückt hat.

Eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung muss sowohl die Demokratien Nordamerikas als auch die Völker der Sowjetunion einschließen. Wir wollen die transatlantische Partnerschaft weiter ausbauen. Europa braucht Amerika auch in Zukunft - und ich füge hinzu: Amerika braucht Europa. Ich möchte heute ausdrücklich den Soldaten unserer Verbündeten - Amerikanern und Franzosen - dafür danken, dass sie an der Seite unserer Bundeswehr in vielen Jahrzehnten die Freiheit der Menschen in den westlichen Bundesländern geschützt haben. Gerade hier in Rheinland-Pfalz leben wir mit amerikanischen wie mit französischen Soldaten und deren Angehörigen in guter Nachbarschaft und Freundschaft zusammen. Die Rolle und die Verantwortung der USA, Kanadas und unserer anderen Verbündeten in der Nato, in und für Europa - für den Frieden und die Sicherheit unseres Kontinents und vor allem auch für das geeinte Deutschland in seiner Mitte - bleiben von existentieller Bedeutung.

Eine der großen Herausforderungen in den kommenden Jahren wird darin bestehen, die Sowjetunion mehr und mehr in die Gestaltung der europäischen Zukunft einzubeziehen. Jahrzehnte des Ost-West-Konfliktes haben so manchen vergessen lassen, dass viele Völker der Sowjetunion nicht nur geographisch, sondern auch durch Geschichte und Kultur mit Europa verbunden sind. Bis in unsere Gegenwart hinein haben sie unersetzliche Beiträge zu unserem europäischen Kulturerbe geleistet. Die Werke von Wassily Kandinsky und Dimitrij Schostakowitsch gehören allen Europäern. In den Romanen von Alexander Solschenizyn und Boris Pasternak spiegeln sich nicht nur bewegende Teile der europäischen Geschichte, sie sind auch ein Bekenntnis zur Humanität und Würde des einzelnen. Marc Chagall hat mit seinen großartigen Werken - ich denke dabei nicht zuletzt an die Kirchenfenster in Mainz und Metz - Brücken der Kunst zwischen den europäischen Völkern geschlagen. Er verkörpert damit wie wenige die gemeinsame christlich-jüdische Tradition Europas.

Vor drei Jahren beging Russland das tausendjährige Jubiläum seiner Christianisierung. Einmal mehr wurden wir daran erinnert, dass dieses große Volk jene geistige Grundlage mit uns teilt, auf der die Idee von der unveräußerlichen Würde jedes einzelnen Menschen beruht. Die historisch-kulturelle Verbundenheit vieler Völker in der Sowjetunion mit Europa hat also eine lange Tradition. Sie kann jetzt für die Zukunft endlich auch politisch wieder fruchtbar gemacht werden. Heute und in Zukunft müssen die deutsch-sowjetischen Beziehungen dem gemeinsamen Ziel aller Europäer dienen, in freier Selbstbestimmung ein Europa der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit zu bauen. Dieses Ziel kommt in drei grundlegenden Dokumenten des vergangenen Jahres zum Ausdruck: dem „Zwei-plus-Vier"-Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, dem deutsch-sowjetischen Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit sowie der „Charta von Paris für ein neues Europa".

Wir wollen den Völkern der Sowjetunion und den Menschen in der Sowjetunion bei der Lösung ihrer Probleme helfen. Es handelt sich um gewaltige Probleme. Das verlangt Geduld und Durchstehvermögen. Deswegen bekenne ich mich nachdrücklich zu einer Politik, die aktive Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Ich sage bewusst Selbsthilfe, weil die Entscheidungen für die Reformen in der Sowjetunion selbst durchgesetzt werden müssen - und weil wir von außen nur Anstöße und Hilfen im Rahmen unserer Möglichkeiten geben können. Ich bin sicher, dass Präsident Gorbatschow die Politik des „Neuen Denkens" und den außenpolitischen Kurs der Kooperation fortsetzen möchte. Nach meiner festen Überzeugung weiß er, dass es kein Zurück mehr gibt. Auch die sowjetische Führung muss erkennen, dass sich das Recht auf Selbstbestimmung durchsetzen wird - auch für die baltischen Völker.

Wenn wir von Versöhnung sprechen, dann richten sich die Blicke auch auf unser eigenes Vaterland. Denn wer nicht zum Frieden im Innern fähig ist, der ist auch nicht in der Lage, anderen ein guter Nachbar zu sein. Dieses Wissen nimmt uns als Christen besonders in die Pflicht. Es waren vor allem die Kirchen, die den Menschen in der ehemaligen DDR bei ihrem friedlichen Kampf gegen die Unterdrückung durch das SED-Regime den Rücken stärkten. Heute stehen sie - wie wir alle - vor der Herausforderung, die beiden mehr als vierzig Jahre lang getrennten Teile unseres Vaterlandes auch in geistig-moralischer Hinsicht wieder zusammenzuführen. Diese Aufgabe ist nach meiner Überzeugung wesentlich schwerer - und sie wird mehr Zeit in Anspruch nehmen - als die Vollendung der wirtschaftlich-sozialen Einheit unseres Vaterlandes.

Ich habe aber nicht den geringsten Zweifel, dass wir dort in drei, vier, fünf Jahren blühende Landschaften haben werden. Die große Frage wird sein, ob wir Deutsche die notwendige Geduld aufbringen werden, aufeinander zuzugehen, einander zu verstehen, und ob wir auch fähig sein werden, dort, wo es Not tut, zu teilen. Wir, die wir auf der Sonnenseite deutscher Geschichte in Frieden und in Freiheit über vierzig Jahre leben konnten, dürfen nicht vergessen, dass unsere Landsleute in Görlitz, in Leipzig, in Dresden, in Zwickau und in Brandenburg ein ganz anderes Schicksal hatten, dass eine kommunistisch-sozialistische Diktatur tiefe Wunden in die Herzen der Menschen geschlagen hat. In den Schulen, am Arbeitsplatz und überall dort, wo menschliche Begegnung stattfand, hat die allumfassende Gewalt der Staatssicherheit die Menschen in ihrer Würde zutiefst gedemütigt. Wir sollten uns hüten, aufgrund des Glücks unserer Freiheit hier vorschnell Urteile abzugeben. Es wird noch viele Jahre dauern, bis die Wunden in den Herzen der Deutschen verheilt und auch die Trümmer der kommunistischen Ideologie beiseite geräumt sein werden. Aber die Einheit der Nation wird erst dann wirklich durchgesetzt sein, wenn wir diesen notwendigen Prozess gemeinsam gemeistert haben.

Für Karl Marx war die Religion nur ein Instrument der Mächtigen: Sie diene, so meinte er, lediglich dazu, Menschen in Armut und Elend auf eine jenseitige Glückseligkeit zu vertrösten. Für uns Christen jedoch ist der Glaube untrennbar mit dem Auftrag verbunden, die Welt zu gestalten und am Werk des Schöpfers mitzuarbeiten. Religion ist eben nicht „Opium für das Volk", wie es Marxisten immer wieder behauptet haben. Im Gegenteil: Sie ist der eigentliche Ursprung der Verantwortung, die den Christen in der Welt und für die Welt auferlegt ist. Heute können wir feststellen: Marx hat sich mit der Vorhersage geirrt, die Tage der Religion seien gezählt. Es ist alles ganz anders gekommen. Unter der kommunistischen Diktatur mussten die Menschen am eigenen Leibe erfahren, dass der Marxismus auf die Frage nach dem Sinn des Lebens keine Antwort weiß. Antwort fanden und finden sie aber im christlichen Glauben. Es gibt eben nicht nur den Hunger nach Brot. Schon im 5. Buch Mose und beim Evangelisten Matthäus heißt es: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht."

Ob es um die Bewahrung der Natur, ja der ganzen Schöpfung zum Wohle kommender Generationen geht, um die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit oder den Schutz des menschlichen - auch des ungeborenen - Lebens: In all diesen drängenden Zukunftsfragen kann gerade das christliche Verständnis vom Menschen uns wegweisende Antworten vermitteln. Für den Christen ist die Welt von Gott geschaffen und dem Menschen treuhänderisch übergeben worden. Der Schöpfungsauftrag, sich die Erde Untertan zu machen, meint nicht Ausbeutung und Unterdrückung. Vielmehr verpflichtet er uns, die Schöpfung zu bewahren, zu pflegen und zu gestalten. Auch die christliche Überzeugung, dass das von Gott geschenkte und angenommene menschliche Leben unverfügbar ist, muss praktische Konsequenzen haben.

Zum Glück besteht in Deutschland ein breiter Konsens darüber, dass die sogenannte „Eugenik", also die Manipulation menschlicher Erbsubstanz zur Züchtung eines „neuen Menschen", ein Anschlag auf die Würde des Menschen ist. Gerade wir Deutschen haben nicht vergessen, wohin die perverse Idee vom „lebensunwerten Leben" letztlich geführt hat - und führen wird. Unverfügbarkeit menschlichen Lebens - das bedeutet auch, dass menschliches Leben nie bloßes Mittel zum Zweck sein darf.

Bei all diesen Fragen stellen wir leider einen Widerspruch im öffentlichen Bewusstsein fest. Viele, die sonst die staatlichen Organe rigoros auf ihre Verantwortung für den Schutz des Lebens hinweisen, wollen von dieser Verantwortung auf einmal nichts wissen, wenn es um das ungeborene Kind geht. Sie sprechen dem Staat - und das ist eine der großen Unaufrichtigkeiten unserer Zeit - geradezu das Recht ab, sich wertebildend für das ungeborene Kind einzusetzen. Dabei bedarf gerade das ungeborene Kind des Schutzes durch Staat und Gesellschaft. Wie wollen wir eigentlich zur Versöhnung im Innern und zum Frieden mit der Schöpfung fähig sein, wenn wir ausgerechnet der schwächsten Form menschlichen Lebens unsere Liebe und Fürsorge entziehen?

Der Staat hat die Aufgabe, inneren Frieden zu stiften. Und deshalb muss er auch für die Grundwerte, wie sie in der Verfassung ihren Niederschlag finden, aktiv eintreten. Staatliche Institutionen können grundlegende sittliche Gebote nicht einfach aufheben oder abschaffen. Sie sollen deren Erfüllung ermöglichen und fördern. Zwar lässt sich ein ethischer Konsens nicht einfach von oben verordnen. Wir wollen keine Indoktrination - aber das ist kein Freibrief für Gleichgültigkeit in fundamentalen Fragen der Ethik.

In jeder Gesellschaft gibt es nun einmal Konflikte und unterschiedliche Überzeugungen. Wir können diese Konflikte nur auf der Grundlage gemeinsamer Grundüberzeugungen human und gerecht lösen. Andernfalls wären die Leidtragenden die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Das Füreinander-Einstehen der Generationen, die Partnerschaft zwischen Mann und Frau und nicht zuletzt die Liebe und der gegenseitige Respekt zwischen Eltern und Kindern - dies alles kann unsere Gesellschaft nur prägen, wenn es sich zuvor in der Familie bewährt hat. Hier erlernen die Menschen soziale Tugenden - Einstellungen gegenüber den Mitmenschen wie Mitgefühl, Toleranz und Versöhnungsbereitschaft. Es gibt keinen Lernort, der diese Aufgabe der Familie ersetzen kann. Ebenso wenig können Staat und Gesellschaft dem einzelnen Christen seine Verantwortung für das Wohl des Ganzen abnehmen. Unsere Pflicht als Christen ist es, „Sauerteig" zu sein, „Salz der Erde" -und zwar jeder an seinem Platz, ob in Familie oder Schule, in Wissenschaft oder Kunst, in Handwerk oder Industrie, in Landwirtschaft oder Politik.

Wir müssen auch der Tatsache ins Auge sehen, dass Europa heute kein christlicher Kontinent mehr ist - in dem Sinne, wie es das Abendland vor bald 500 Jahren war, als Christoph Columbus Amerika entdeckte. In weiten Teilen Europas sind die Menschen dem Christentum systematisch entfremdet worden. Ihnen auf der Suche nach dem Sinn des Daseins neue Orientierung zu geben, ist auch eine eminent politische Aufgabe: In das geistige Vakuum, das der Kommunismus vor allem im Osten Europas hinterlassen hat, dürfen jetzt keine neuen totalitären Heilslehren einströmen. Als Christen bejahen wir die Glaubens- und Gewissensfreiheit jedes einzelnen Menschen, und deshalb bejahen wir auch die Vielfalt in unserer freiheitlichen Gesellschaft. Die Glaubensund Gewissensfreiheit gibt uns allerdings auch das Recht, für unsere eigenen Überzeugungen einzustehen und für sie zu werben. Das ist die große Chance, die sich den christlichen Kirchen auf dem Weg zu einem versöhnten Europa bietet.

Wir sollten im übrigen nicht vergessen, dass der Begriff des „christlichen Abendlandes" lange Zeit vor allem ein Kampfbegriff in der Auseinandersetzung Europas mit der Welt des Islam gewesen ist. Heute ist ein Land wie die Türkei unser Partner in der Atlantischen Allianz und Mitglied des Europarates. Mehr und mehr wird uns bewusst, dass der Dialog zwischen den Religionen immer auch Dienst am Frieden ist. Ich denke dabei nicht nur an unsere muslimischen Mitbürger in Deutschland: Wir werden dauerhaften Frieden im Nahen und Mittleren Osten - einer für das künftige Schicksal Europas so entscheidenden Weltgegend - nur dann erreichen können, wenn die drei großen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam sich auf ihre gemeinsamen Wurzeln besinnen und im Geiste der Brüderlichkeit nach vernünftigen Lösungen für die gegenwärtigen Konflikte suchen.

Auch auf unserem eigenen Kontinent brauchen wir das ökumenische Gespräch: Ich wünsche mir vor allem, dass die katholischen und die evangelischen Christen noch starker als bisher die neuen Chancen zum Dialog mit den orthodoxen Christen in Europa nutzen. Es geht gewissermaßen darum, einen ökumenischen Bogen von den Klöstern und Kapellen Irlands bis hin zu den Kirchen und Kathedralen von Kiew und Moskau zu schlagen. Das ist eine Aufgabe, die langen Atem erfordert. Aber sie ist - neben vielen anderen - notwendig, damit unser Kontinent auf gemeinsamer geistiger Grundlage ganz zu sich selbst findet.

Heute dürfen wir dankbar bekennen, dass wir jetzt die Chance haben, einer jungen Generation in Europa und in Deutschland zu sagen: Ihr habt die Chance, die kaum je zuvor eine andere Generation in Deutschland und in Europa hatte - die Chance auf ein ganzes Leben in Frieden und Freiheit. Wenn wir gemeinsam mit Augenmaß und Entschlossenheit diese Chance wahrnehmen, dann werden wir in den kommenden Jahren auf dem Weg zum versöhnten Europa entscheidende Schritte vorankommen, dann wird ein Traum Wirklichkeit, den die Besten in Europa geträumt haben. Ich bitte Sie alle, dabei mitzuhelfen.

Quelle: Broschüre, hrsg. vom Bischöflichen Ordinariat Speyer, ebd. 1991, S. 13-32.