23. Mai 1991

Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Edinburgh

 

I.

Ihre Universität gehört zu den bedeutenden Stätten der Forschung und Lehre in Europa. In ihrer über vierhundertjährigen Geschichte hat sie Wissenschaftler von höchstem Rang hervorgebracht, darunter bekannte Nobelpreisträger. Mit Dankbarkeit erinnern wir Deutschen uns insbesondere der Aufnahme von Max Born im Jahr 1936, der hier siebzehn Jahre lang gelehrt und geforscht hat. Die Universität Edinburgh zeichnet sich von jeher aus durch einen weltoffenen Geist. [...] Europäische Gesinnung und Verwurzelung in der eigenen Region sind kein Widerspruch. Europa hat nur Zukunft, wenn es sich an dem Grundsatz „Einheit in der Vielfalt" orientiert. Dies klingt nach Dialektik und Hegel, ist aber in Wahrheit ein pragmatisches Strukturprinzip einer föderalen Ordnung - wie wir sie in Europa anstreben.

Wir Deutsche haben - nicht zuletzt aus Gründen der Geographie und der Geschichte - ein besonderes Interesse daran, dass Europa immer enger zusammenwächst. Schon Bismarck sah die Gefährdungen klar voraus, die sich aus der europäischen Mittellage Deutschlands ergaben. Seine Antwort - noch ganz im Geiste des neunzehnten Jahrhunderts - war ein ständiges Bemühen um ein Gleichgewicht der Kräfte, ein „Spiel mit vielen Kugeln".

Aber diese Balancepolitik überforderte nicht nur die Deutschen. Der Erste Weltkrieg markierte das Scheitern einer Staatenordnung, die sich als unfähig erwiesen hatte, dauerhafte Stabilität hervorzubringen. Hieraus und aus der Katastrophe der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs zogen europäische Staatsmänner wie Jean Monnet, Robert

Schuman und Paul-Henri Spaak, wie Aleide de Gasperi und Konrad Adenauer die einzig richtige Konsequenz: Wo Macht durch gemeinsame Institutionen ausgeübt wird, ist für nationalstaatliche Rivalitäten und für das Dominanzstreben früherer Zeiten kein Platz mehr. Winston Churchill sprach im September 1946 in Zürich von seiner Vision der „Vereinigten Staaten von Europa".

Konrad Adenauer wollte Deutschland nicht nur nach Westen orientieren, sondern in den Westen integrieren, um auf diese Weise dem Schwanken deutscher Politik zwischen Ost und West ein für allemal den Boden zu entziehen. Dass es gelang, dieses Konzept -zusammen mit Frankreich und anderen europäischen Partnern - zu verwirklichen, ist einer der grundlegenden Wendepunkte der Nachkriegsgeschichte, ja der europäischen Geschichte überhaupt.

Die Überlegenheit dieser Politik beruht auf der Verflechtung wirtschaftlicher und politischer Interessen in einer Gemeinschaft, die stark genug ist, sich auch in kritischen Lagen gegenüber den Partikularinteressen ihrer einzelnen Mitglieder zu behaupten. Die europäische Gemeinschaft ist eben mehr als ein loser Zusammenschluss, der dem Auf und Ab der Tagespolitik ausgeliefert ist. Die Gemeinschaft ist vielmehr - und hierauf können wir stolz sein - ein wesentlicher Faktor der Stabilität in ganz Europa, ja in der Weltpolitik. Um die wirtschaftliche Entwicklung in unseren Ländern wäre es wesentlich schlechter bestellt, wenn es den Gemeinsamen Markt als verlässliche Größe nicht gäbe. Europa brauchen wir aber auch in politischer Hinsicht. Dies gilt für Deutschland noch mehr als für jedes andere europäische Land, denn wir haben - gelegen in der Mitte des Kontinents - mehr Nachbarn als jeder andere europäische Staat.

Auch in Großbritannien gab es in der Vergangenheit immer wieder Stimmen, die angesichts der Teilung vor einem deutschen Abdriften nach Osten warnten. Ich habe dieser Behauptung immer die These entgegengestellt, dass deutsche Einheit und europäische Einigung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Diese These hat sich als richtig erwiesen: Wir haben die deutsche Einheit auf friedliche Weise wiederhergestellt und zugleich der europäischen Einigung neuen Schub verliehen. Auch diejenigen, die durch die deutsche Einheit die Einheit des westlichen Bündnisses bedroht sahen, wurden widerlegt: Deutschland ist auch nach der Vereinigung Mitglied der Atlantischen Allianz geblieben, und die Allianz selbst hat klar unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage ist, sich den neuen Bedingungen in Europa anzupassen.

Dies sind fundamentale Weichenstellungen gewesen, deren Bedeutung weit über Deutschland und Europa hinausgeht. Nicht zuletzt haben wir dadurch die Chancen für den Fortgang der Reformprozesse in Mittel-, Ost- und Südosteuropa offengehalten. Was mancher vergisst: Der revolutionäre Aufbruch dort wurde wesentlich von der Hoffnung getragen, Anschluss an die erfolgreiche Entwicklung im westlichen Europa zu finden.

Wir Deutsche können stolz darauf sein, an diesem Aufbruch entscheidend mitgewirkt zu haben: Im Herbst 1989 haben sich die Menschen in der ehemaligen DDR mit dem mutigen Ruf" Wir sind das Volk" und „Wir sind ein Volk" Freiheit und Demokratie erkämpft und den Weg für die Einheit Deutschlands geebnet.

Wir wissen, dass dieser Tag nur möglich war, weil unsere Freunde über vierzig Jahre lang zusammen mit uns Freiheit und Frieden in Europa verteidigt haben. Wir werden dies nicht vergessen, und ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich unsere Dankbarkeit gegenüber dem Vereinigten Königreich zum Ausdruck bringen, das in diesem Jahrhundert so viel für die Freiheit der Europäer getan hat. Die deutsche Einheit haben wir vielen zu verdanken, insbesondere auch den Drei Mächten USA, Frankreich und Großbritannien. Darüber hinaus möchte ich ausdrücklich den Beitrag von Präsident Gorbatschow würdigen.

II.

Der Wiederaufbau im östlichen Teil Deutschlands wird in den nächsten Jahren größte Anstrengungen fordern. Das Erbe, das wir nach vierzig Jahren Sozialismus übernehmen, ist bedrückend: Eine in weiten Teilen nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft, vom Verfall bedrohte Dörfer und Städte, Verkehrswege in katastrophalem Zustand, eine aufs äußerste belastete Umwelt.

Wie in der Zeit nach der Währungsreform 1948, die zum sogenannten „Wirtschaftswunder" führte, setzen wir auch heute auf die Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft. Die Bundesregierung fördert den raschen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Ländern mit erheblichen finanziellen Mitteln. In den achtzehn Monaten von Mitte 1990 bis Ende dieses Jahres stellen wir hierfür über 100 Milliarden DM - das sind über 30 Milliarden Pfund - zur Verfügung.

Was wir aber jetzt vor allem brauchen, sind private Investitionen -auch aus unseren europäischen Partnerländern. Nie zuvor gab es in Deutschland so attraktive Förderbedingungen für Investoren aus aller Welt. Wir kommen inzwischen auch gut voran: So haben wir beachtliche Fortschritte erzielt bei der äußerst schwierigen Aufgabe der Privatisierung und Sanierung der Staatsbetriebe der ehemaligen DDR.

Selbstverständlich kann Geld allein den Wandel nicht bewirken. Es kommt vor allem auf die Menschen selbst an: Gefragt sind jetzt Tugenden wie Pioniergeist, Bürgersinn und Solidarität. Gleiche wirtschaftliche, soziale und ökologische Lebensverhältnisse in ganz Deutschland lassen sich nicht in wenigen Monaten erreichen, wir werden es aber in drei bis fünf Jahren geschafft haben. Meine Zuversicht gründet sich auf eine Erfahrung, die wir in Deutschland vor vierzig Jahren schon einmal gemacht haben: Wir haben damals im westlichen Teil unseres Landes unter viel schwierigeren Bedingungen den Neuaufbau geschafft. Wir wissen, dass der notwendige Strukturwandel im Osten Deutschlands für die Menschen zeitweilige Arbeitslosigkeit und damit schwierige Probleme mit sich bringt. Dass wir aber auf dem richtigen Weg sind, beweist die Tatsache, dass in den vergangenen zwölf Monaten schon mehr als eine Million neuer Arbeitsplätze im östlichen Teil unseres Landes entstanden sind. Ich bin gewiss, dass die neuen Bundesländer in den nächsten Jahren zu einer der attraktivsten europäischen Wirtschaftsregionen gehören werden.

Es geht bei dem Wiederaufbau in den neuen Bundesländern nicht nur um deutsche Zukunft - es geht um ein wichtiges Stück europäischer Zukunft. Schon heute zeigt sich, dass die deutsche Einheit in erheblichem Ausmaß auch unseren ausländischen Wirtschafts- und Handelspartnern zugute kommt. Insbesondere unsere europäischen Nachbarn haben ihre Exporte nach Deutschland in den letzten Monaten beträchtlich erhöhen können. Unser Beitrag zum Wirtschaftswachstum in den europäischen Industrieländern lag im zweiten Halbjahr 1990 - auf ein Jahr hochgerechnet - bei rund 45 Milliarden DM. Deutschland ist damit - nicht zuletzt dank dem Vereinigungsprozess -zur Zeit die europäische Konjunkturlokomotive.

Freilich geht es nicht allein um die Bewältigung der ökonomischen und der ökologischen Probleme - wobei letztere mit Sicherheit noch lange auf uns lasten werden. Schwieriger noch ist die Bewältigung der Hinterlassenschaft von vierzig Jahren kommunistischer Diktatur im geistigen und kulturellen Leben. Über vier Jahrzehnte hinweg haben die Deutschen in Ost und West ihr Leben unter ganz unterschiedlichen Bedingungen gestaltet. Sie zusammenzuführen, ist eine der großen Aufgaben der neunziger Jahre, und auch sie hat eine europäische Dimension.

Hierbei denke ich nicht zuletzt an unsere Nachbarn in Mittel- und Südosteuropa. Wenn wir Erfolge erzielen, dann werden auch Polen, Ungarn und die CSFR ermutigt, in ihren Anstrengungen unbeirrt fortzufahren. Wir alle haben Probleme zu Hause, aber wir sollten eines nicht aus dem Auge verlieren: Wenn der in Gang gekommene Reformprozess in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sich verlangsamen würde oder gar zum Stillstand käme, hätte dies fatale Folgen für uns alle in Europa. Deshalb gehört die Unterstützung der Reformbemühungen dieser Länder zu den prioritären Aufgaben einer gemeinsamen europäischen und westlichen Politik.

Wir müssen die Anstrengungen für diesen Teil Europas intensivieren, wenn wir nicht diese große geschichtliche Chance vergeben wollen. Das vereinte Deutschland unterstützt die Reformstaaten in Mittel- und Südosteuropa auf ihrem Weg zu stabiler Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft mit erheblichen Mitteln. Wir haben hierfür über 25 Milliarden DM aufgewandt. So haben wir uns beispielsweise für eine großzügige Regelung der polnischen Schulden im Rahmen des Pariser Clubs eingesetzt, wobei wir selbst den größten Anteil bestreiten.

Wir wollen nicht, dass mitten in Europa neue Grenzen - diesmal zwischen „arm und reich" - entstehen. Dies ist aber nicht nur eine wirtschaftliche Fragestellung. Ebenso wichtig ist, dass die Menschen wieder zueinander kommen. Daher haben wir die Grenzen für unsere Nachbarn, CSFR und Polen, geöffnet. Die entsprechende Regelung für Polen trat zu Beginn des vergangenen Monats in Kraft. Ich würde es begrüßen, wenn sich möglichst bald alle EG-Staaten diesem Schritt anschließen würden. Zur „Heimkehr nach Europa" von Ländern wie Ungarn, der CSFR oder Polen gehört schließlich auch, dass die Europäische Gemeinschaft ihnen nicht die Tür verschließt, sobald sie die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllen.

Wir wollen auch der Sowjetunion bei der Lösung ihrer Probleme helfen. Ich bin sicher, dass Michail Gorbatschow die Politik des „Neuen Denkens" und den außenpolitischen Kurs der Kooperation fortsetzen möchte. Nach meiner festen Überzeugung weiß er, dass es kein Zurück mehr gibt. Auch die sowjetische Führung muss - und wird gewiss - erkennen, dass sich das Recht auf Selbstbestimmung durchsetzen wird. Es kann jedoch nicht unser Ziel sein - und es wäre töricht, unsere Politik darauf auszurichten -, zu einer Auflösung der Sowjetunion im Ganzen beizutragen.

III.

Die Stabilität Europas hängt entscheidend davon ab, dass wir die Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft im Innern und nach außen wesentlich stärken. Nur so können wir die kommenden Herausforderungen bestehen. Wir sind auf diesem Weg bereits ein großes Stück vorangekommen. Wir haben die Gemeinschaft aus der Stagnation der frühen achtziger Jahre herausgeführt und eine neue Dynamik in Gang gesetzt. Der Europäische Binnenmarkt mit 340 Millionen Bürgern wird am 31. Dezember 1992 vollendet sein. Dieser Markt trägt bereits heute erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung in ganz Europa bei. Damit erreichen wir ein wichtiges Etappenziel auf dem Wege zur Europäischen Union.

Vor uns liegen entscheidende Aufgaben: Die beiden Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion und über die Politische Union wollen wir noch bis Ende des Jahres abschließen und zum Erfolg führen. Für mich bilden diese Konferenzen eine Einheit: Der Vertrag über die Politische Union darf in seinem Handlungsrahmen und in seinen wesentlichen Zielsetzungen nicht hinter der Wirtschafts- und Währungsunion zurückstehen.

Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion und die damit verbundene Schaffung einer einheitlichen europäischen Wahrung wird ein neuer entscheidender Einschnitt in der Entwicklung der Gemeinschaft seit den Römischen Verträgen sein. Es versteht sich daher von selbst, dass wir an die damit verbundenen Fragen mit größter Sorgfalt herangehen. Unverzichtbar sind für uns:

  • Die wirtschaftspolitische und wirtschaftliche Konvergenz aller Mitgliedstaaten,
  • die Haushaltsdisziplin seitens aller Regierungen der Gemeinschaft und schließlich
  • eine unabhängige, vorrangig der Geldwertstabilität verpflichtete Europäische Zentralbank.

Genauso wichtig für uns Deutsche sind vergleichbare Fortschritte auf dem Weg zur Politischen Union. Unsere Bemühungen gelten in besonderem Maße der Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments. Seine Kompetenzen müssen deutlich erweitert und denen der nationalen Parlamente stufenweise mehr und mehr angenähert werden. Dies bedeutet - entgegen einem weit verbreiteten Irrtum - keine Schwächung der Stellung der nationalen Parlamente. Es geht ausschließlich darum, die Entscheidungen auf europäischer Ebene einer wirksamen Kontrolle durch das Europäische Parlament zu unterwerfen und damit ein offensichtliches Defizit zu beheben. Ich bin überzeugt, dass dies gerade auch im Vereinigten Königreich mit seiner jahrhundertealten parlamentarischen Tradition, die vielen Staaten zum Vorbild wurde, auf Verständnis stößt.

Zur Europäischen Union gehört auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Nur wenn die Europäer mit einer Stimme sprechen und gemeinsam handeln, werden sie ihr Interesse in der Welt wirkungsvoll zur Geltung bringen und aktiv zur Lösung der großen Probleme unserer Zeit beitragen können. [...]

Dieses Ziel lässt sich nicht von heute auf morgen erreichen. Aber es muss uns gelingen, in den kommenden Jahren Schritt für Schritt auch in diesem Bereich weitere entscheidende Fortschritte zu erzielen. Eine gemeinsame Außenpolitik muss auf Dauer auch eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfassen. Dabei darf die Schutzfunktion der Atlantischen Allianz für die europäische Sicherheit nicht relativiert werden. Die Atlantische Allianz und die Präsenz der USA in Europa bleiben für unsere Sicherheit unverzichtbar. Europa muss allerdings bereit sein, mehr Verantwortung innerhalb der Allianz zu übernehmen. Sowohl zur Stärkung des Europäischen Pfeilers in der Allianz wie auch zur Entwicklung einer sicherheitspolitischen Dimension in der Gemeinschaft bietet es sich an, die Westeuropäische Union zu nutzen.

Ich halte es für unerlässlich, über diese Fragen einen vertrauensvollen und intensiven Dialog mit unseren Freunden und Partnern in Nordamerika zu entwickeln, um jegliche Missverständnisse von vornherein auszuschließen. Das bestehende und bewährte Atlantische Bündnis soll in keiner Weise geschwächt oder gar durch eine eigene europäische Struktur ersetzt werden. Ich wende mich entschieden gegen alle Überlegungen, partielle Zuständigkeiten zu schaffen, die dem Prinzip der Unteilbarkeit unserer gemeinsamen Sicherheit zuwiderlaufen und die nur dazu führen würden, den transatlantischen Sicherheitsverbund aufzulösen.

In einem weiteren Bereich der Politischen Union sind Fortschritte zwingend notwendig und im Grunde seit langem überfällig. Es geht um die engere Zusammenarbeit in Kernbereichen der Innen- und Justizpolitik. Wer ja sagt zum großen europäischen Markt, zur Vereinfachung und zum Wegfall der Grenzkontrollen - muss auch ja sagen zu einer neuen Qualität in der europäischen Zusammenarbeit in diesem Bereich.

Wir brauchen insbesondere dringend eine gemeinsame europäische Polizei, die in den Kernbereichen der inneren Sicherheit - ich nenne nur den Kampf gegen die Drogenmafia oder gegen die internationale organisierte Kriminalität - direkt in den Mitgliedstaaten agieren kann.

Ich wünsche mir, dass wir im Dezember dieses Jahres auf dem Europäischen Gipfel in Maastricht die Vertragsverhandlungen zur Politischen Union sowie zur Wirtschafts- und Währungsunion erfolgreich abschließen. Dann könnten die Verträge im Jahre 1992 von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden und - stufenweise - bis zum Ende dieses Jahrzehnts umgesetzt werden.

Es gibt in manchen Feldern der beiden Regierungskonferenzen noch Unterschiede im Ansatz und in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung zwischen Großbritannien und uns, aber auch unter den Mitgliedstaaten insgesamt. Aber ich bin überzeugt: Unsere beiden Länder wollen den Erfolg der beiden Konferenzen, den Europa braucht, um für die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, besser gewappnet zu sein. Dies bedeutet auch, dass wir gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten und vertretbaren Kompromissen suchen müssen und werden.

Ich begrüße die offene und konstruktive Haltung der britischen Regierung, insbesondere von Premierminister Major. Zu Recht betont er, dass der natürliche Platz Großbritanniens mitten in Europa ist - und ich füge hinzu: Europa braucht Großbritannien - ohne seine tatkräftige Mithilfe kann ein vereintes Europa auf Dauer nicht gedeihen. [...] Für die europäische Entwicklung ist John Major ein Glücksfall.

IV.

Wenn wir Deutsche unserer Verantwortung als eine der großen Demokratien und Industrienationen des Westens gerecht werden wollen, dann müssen wir auch unseren Beitrag zur Lösung der weltweiten Probleme leisten. Mit Erfolg haben wir uns bisher besonders aktiv für wirtschaftliche Stabilität in der Welt eingesetzt. Vom vereinten Deutschland wird jetzt auch mehr Mitwirkung an der Lösung internationaler Fragen erwartet.

Angesichts der aktuellen weltpolitischen Entwicklungen wäre es ein verhängnisvoller Fehler, wenn wir vor den neuen Gefährdungen von Frieden und Freiheit die Augen verschlössen. Für uns Deutsche gibt es keine Nische in der Weltpolitik. Wir wollen unseren Beitrag leisten zu einer Welt des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit.

Die weltpolitische Entwicklung seit dem Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 vor gerade sieben Monaten hat Deutschland wenig Zeit gelassen, sich an seine neue Rolle zu gewöhnen. Wir haben von Anfang an einen erheblichen Beitrag zum Gelingen der militärischen Operationen am Golf geleistet. Das gilt vor allem für die massive logistische Unterstützung, die die deutsche Bundeswehr erbracht hat. Ich darf darüber hinaus an unseren finanziellen Beitrag zur Lastenteilung im Golfkonflikt erinnern, der sich auf insgesamt 18 Milliarden DM, das heißt rund 6 Milliarden Pfund, belief.

Dass wir nicht - wie andere - militärisch am Golf präsent waren, hat uns - auch hier im Vereinigten Königreich - Kritik eingebracht. Der Grund liegt in einer streitigen Diskussion über die Auslegung unserer Verfassung. Es ist mein Ziel, dass diese Diskussion möglichst bald durch eine entsprechende Klarstellung in unserem Grundgesetz beendet wird. Die neue Verantwortung des vereinten Deutschland fordert von uns Deutschen auch die Bereitschaft, an konkreten Maßnahmen zur Sicherung von Frieden und Stabilität in der Welt mitzuwirken.

Die ebenso großartigen wie dramatischen Entwicklungen in Europa und in Deutschland dürfen unseren Blick nicht von den wachsenden Problemen der Dritten Welt ablenken. Wir müssen deshalb auch in Zukunft eine Entwicklungspolitik fortsetzen, die den Ärmsten und Schwächsten tatkräftig zur Seite steht - und die ihnen vor allem hilft, sich selbst zu helfen.

Es geht auch hier um Investitionen in unsere gemeinsame Zukunft. Vor diesem Hintergrund habe ich auf den vergangenen Weltwirtschaftsgipfeln - zuerst beim Gipfel von Toronto 1988 - vorgeschlagen, das Thema Umweltschutz mit Schuldenfragen zu verknüpfen. So sollten zum Beispiel Schuldenerlasse für Länder der Dritten Welt auch davon abhängig gemacht werden, dass freiwerdende Mittel möglichst für konkrete Umweltmaßnahmen eingesetzt werden. Die Vernichtung der tropischen Regenwälder und das Ozonloch über der Antarktis betreffen die Menschen in allen Kontinenten gleichermaßen. Die Gefahr weltweiter Klimaveränderungen rührt ohne Unterschied an den Lebensnerv aller Völker. Wir brauchen deshalb eine weltumspannende Umweltpartnerschaft.

V.

Wir haben die große Chance, eine Weltordnung des politischen Ausgleichs und des friedlichen wirtschaftlichen Wettbewerbs zu schaffen. Dies übersteigt die Kräfte jedes einzelnen von uns. Deutschland ist bereit - gemeinsam mit Großbritannien, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern, in enger Zusammenarbeit mit Nordamerika -seinen Beitrag zu leisten, eine Welt zu gestalten, in der mehr Freiheit herrscht und der Frieden sicherer ist.

Diese Herausforderung richtet sich ganz besonders an die junge Generation. [...] Mit Blick auf die Einheit Europas und seine Zukunftsaufgaben ist es ganz entscheidend, dass die jungen Europäer -junge Briten und junge Deutsche - in dieser Perspektive denken und handeln lernen. In diesem Sinne wünsche ich allen Studentinnen und Studenten hier in Edinburgh - und überall im Vereinigten Königreich und in Deutschland - Glück und Gottes Segen auf ihrem Lebensweg.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 60 (29. Mai 1991).