23. Oktober 1986

Rede vor dem „Chicago Council on Foreign Relations" in Chicago

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ein Besuch des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland in Chicago - dem politischen, geistigen und wirtschaftlichen Zentrum des mittleren Westens der Vereinigten Staaten - hat Tradition. Konrad Adenauer war bei seinem ersten Besuch in den USA 1953 in Chicago und hat hier gesprochen. Und es ist gut, diese Tradition fortzusetzen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in den Jahren nach dem Krieg zu einem demokratisch und sozial gefestigten Gemeinwesen mit bedeutendem wirtschaftlichen, technischen und technologischen Potential entwickelt. Die Schatten der Vergangenheit unserer Geschichte sind nicht gewichen, aber wir haben einen geachteten Platz unter den Völkern wiedererworben. Die besondere Situation unseres Staates ergibt sich aus der geographischen und strategischen Lage im Herzen Europas und gleichzeitig an der Trennlinie zwischen West und Ost, die nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa teilt. Sie ergibt sich aus der großen wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtung unseres Landes mit den meisten Staaten der Welt.

Nach den Erfahrungen, die wir Deutschen mit dem Nationalsozialismus gemacht haben, kann und will deutsche Politik nicht wertfrei sein: Es sind drei entscheidende Grundwerte, die wir in dieser schnelllebigen, enger werdenden und durch Unruhe gekennzeichneten Welt zu bewahren und zu verteidigen haben: Freiheit - Frieden - und Gerechtigkeit. Das sind nach den Erfahrungen der Deutschen in diesem Jahrhundert politische Orientierungspunkte, mit denen wir auf das Jahr 2000 zugehen.

Grundlage unserer Freiheit und Eckpfeiler unserer Politik heute und in Zukunft ist die feste Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das Atlantische Bündnis. Dieses Bündnis geht zurück auf die mutige und weitblickende Entscheidung der USA unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, sich nicht wie 1918 in die eigene Hemisphäre zurückzuziehen, sondern dauerhaft Verantwortung für das Gleichgewicht und den Frieden in Europa und in der Welt zu übernehmen. Diese historische Leistung der Vereinigten Staaten ist für uns unvergessen. Auch in den vor uns liegenden Jahrzehnten kann angesichts der fortbestehenden militärischen und ideologischen Bedrohung durch die Sowjetunion unsere Freiheit - die europäische und amerikanische Freiheit - nur in der Gemeinsamkeit des Atlantischen Bündnisses gewährleistet werden. Unter dem Dach dieses Bündnisses sind für uns Freundschaft und enge Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika von entscheidender Bedeutung.

Die Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der anderen westeuropäischen Staaten decken sich mit dem amerikanischen Interesse, das politische und militärische Gleichgewicht in Europa zu bewahren und eine Entwicklung zu verhindern, in der die Sowjetunion im globalen Kräfteverhältnis ein Übergewicht erreichen würde. Damit diese Bündnisstrategie glaubhaft bleibt, sind die amerikanische Nukleargarantie und die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa unverzichtbar. Ein Europa ohne die Vereinigten Staaten würde zwangsläufig in politische Abhängigkeit von der Sowjetunion geraten, und damit würde die Statik der Welt auch in den Vereinigten Staaten verändert.

Die überwiegende Mehrheit der Bürger der Bundesrepublik Deutschland unterstützt die Überzeugungen und Grundprinzipien der NATO, wie erst jetzt wieder eine Meinungsumfrage ergab. Wir nehmen unsere Verpflichtungen ernst. Das ist heute so. und das wird auch in Zukunft so bleiben. Nicht alle Beiträge zur gemeinsamen Verteidigung, die wir in der Bundesrepublik leisten, sind in Zahlen zu messen:

Die konventionelle Verteidigungsleistung der Bundesrepublik Deutschland stellt im Zusammenwirken mit den amerikanischen Kräften und Garantien den Kern der Sicherheit Westeuropas dar. Die Bundesrepublik Deutschland hat entscheidenden Anteil an der im Zeichen der nuklearen Parität notwendigen Bemühung, die konventionelle Komponente der Verteidigung zu stärken und die nukleare Schwelle anzuheben.

Die Bundesrepublik ist im Atlantischen Bündnis der exponierteste Partner. Eine an unserer Grenze stationierte sowjetische Panzerdivision hätte bis Hamburg nur 20 Meilen zurückzulegen; das heißt, auf Ihre Verhältnisse übertragen, sie stünde an der Grenze eines Vororts von Chicago.

Die Bundesregierung hat trotz großer Schwierigkeiten den NATO-Doppelbeschluss in seinen beiden Teilen durchgesetzt und damit die Lebens- und Entscheidungsfähigkeit des Bündnisses bekräftigt.

Wir haben, ungeachtet bevorstehender Wahlen, in diesem Jahr wegen der demographischen Entwicklung in unserem Land die Wehrpflicht für junge Männer von 15 auf 18 Monate erhöht. Das ist das einzige Beispiel dieser Art in der Welt.

Das Bündnis funktioniert. Es hat in diesen Jahrzehnten gelernt, auch mit Krisen zu leben. Kritik an einer vermeintlichen Abhängigkeit der europäischen Verbündeten von den Vereinigten Staaten und Zweifel an der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Beistandsverpflichtung sind so alt wie das Bündnis selbst. Ich weiß, dass sich gerade auch jetzt die Allianz in einer schwierigen Phase der Entwicklung befindet. Wir nehmen die Schwierigkeiten, die sich aus den globalen Interessen der Vereinigten Staaten einerseits und der mehr regionalen Ausrichtung vor allem der europäischen Verbündeten auf der anderen Seite ergeben, sehr ernst. Dennoch sehe ich überhaupt keinen Grund oder Anlass zum Pessimismus. Das Wissen um die Probleme und die Chance der freimütigen Diskussion versetzen uns in die Lage, diese Probleme gemeinsam zu lösen.

Es bleibt dabei: Solidarität und Geschlossenheit im Bündnis sind die wirksamste Verteidigung und Abschreckung. Die USA haben unter der Führung von Präsident Reagan zu einem nationalen Selbstbewusstsein zurückgefunden. Aber ich möchte auch sagen, dass die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und anderswo in Europa wieder beginnen, eine optimistische, lebens- und wertebejahende Grundhaltung einzunehmen. Diese so überaus positive Entwicklung ist äußerst bedeutsam für das psychologische Bewusstsein und die Befindlichkeit des Bündnisses.

Die Verteidigung Europas ist immer auch die Verteidigung der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich erwarte trotz der verstärkten Diskussion in den Vereinigten Staaten, dass in absehbarer Zeit amerikanische Truppen nicht einseitig aus Europa abgezogen werden. Dies wäre das falsche Signal zur falschen Zeit an die sowjetische Seite. Wir wissen um die menschlichen und finanziellen Opfer, die die Vereinigten Staaten und ihre Bürger für die Sicherheit Europas erbringen. Wir sind deshalb selbstverständlich bereit, im Rahmen des Bündnisses über die Bedingungen der Aufrechterhaltung dieser wichtigen Kopplung zwischen den Vereinigten Staaten und Europa fair miteinander zu verhandeln. Wir Europäer müssen unseren Beitrag zur eigenen Verteidigung überprüfen und - wenn notwendig - erhöhen. Die Lösung muss auf einer mittleren Linie liegen: Die Europäer müssen schrittweise eine größere Rolle in Europas Verteidigung übernehmen und gleichzeitig ihre engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aufrechterhalten. Entscheidend bleibt, dass sich Amerika und Europa gegenseitig wirksam und für jedermann erkennbar in ihrem Bestand garantieren. Dies ist die Hauptsache. Dies ist der Kern des Bündnisses.

In der Weltpolitik wie auch im privaten Leben gibt es keine Einbahnstraßen. Wir brauchen in unserem Volk ein neues und stärkeres Bewusstsein für die Rolle und Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland in der internationalen Politik der kommenden Jahrzehnte. Unsere Aufgabe wird es sein, deutlich zu machen, dass dies die notwendige Antwort auf die Tatsache sein muss, dass unsere Welt immer enger zusammenwächst und dass wir auch wichtige innenpolitische Aufgaben wie die Bekämpfung des Terrorismus, Umweltschutz oder Drogenbekämpfung nur noch gemeinsam und grenzüberschreitend lösen können. Wir Deutsche wollen unser Land nicht als eine Insel der Glückseligkeit verstehen, die sich aus internationaler Verantwortung und Verpflichtung heraushält. Aus diesem Grund bleibt auch das Ziel eines geeinten und freien Europa unverzichtbar. Wir haben das freie Europa, den Bau der Vereinigten Staaten von Europa von Anfang an als eine politische und wirtschaftliche Einheit verstanden. Europa ist zunächst ein Anspruch an uns selbst, als Deutsche und als Europäer.

Viele Amerikaner verkennen oft die Schwierigkeiten, die sich aus den historisch gewachsenen und nationalen Egoismen in Europa ergeben. Es handelt sich in der Tat um eine schwierige Aufgabe von geschichtlicher Dimension. Es war nicht möglich, in den 30 Jahren, die die Europäische Gemeinschaft jetzt währt, Entwicklungen der Geschichte der europäischen Staaten, die über 300 Jahre gedauert haben und in denen sich diese Staaten weit mehr auseinander- als zusammenlebten, über Nacht zurückzudrehen. Ich plädiere bei allem Verständnis für Skepsis und manchmal Zorn über die so langsame Bewegung in die richtige Richtung dafür, dass wir fair miteinander umgehen. Wer weiß, wie lange es gedauert hat, bis die USA zu den Vereinigten Staaten von Amerika von heute zusammengewachsen sind, der wird verstehen, dass auch Europa seine Zeit braucht.

Wir sind glücklich darüber, dass alle Regierungen der Vereinigten Staaten nach dem Krieg diese Entwicklung auf dem Weg zum Bau der Vereinigten Staaten von Europa unterstützt haben. Ronald Reagan hat in seiner Ansprache vor dem Europäischen Parlament am 8. Mai 1985 die Meinung Amerikas dazu verdeutlicht. Er sagte: „Ich stehe heute hier, um Ihnen zu versichern, dass Amerika wie vor 40 Jahren der Einheit Europas verschrieben bleibt. Wir betrachten ein starkes und vereintes Europa auch weiterhin nicht als einen Rivalen, sondern als einen um so stärkeren Partner ... Ein starkes Europa bedeutet ein stärkerer Westen."

Dies ist die richtige Dimension unserer Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. In der Tat haben vor allem wir, die Deutschen, die Einigungsbestrebungen Europas nie als etwas verstanden, was gegen die Vereinigten Staaten gerichtet wäre. Im Gegenteil: Die Stärkung Europas und die Stärkung der Atlantischen Allianz bedingen sich gegenseitig. Wir sind heute dem Bild der Allianz, die auf zwei Pfeilern ruht, dem amerikanischen und dem europäischen, wesentlich näher als vor 20 Jahren.

Der Kern der europäischen Integration ist die enge Bindung und Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Dies ist ein historisches Ereignis nach vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten bitterer Bruderkriege. Es ist eine Bindung, in der wir nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaft, Kultur und Hochtechnologie, sondern auch im militärischen und sicherheitspolitischen Bereich immer enger zusammenarbeiten. In diesen Zusammenhang gehören ferner die stets wachsenden Bindungen der Bundesrepublik zu Großbritannien, Italien und den anderen Partnerländern in der Europäischen Gemeinschaft. Hier erwachsen uns Möglichkeiten für die im europäisch-amerikanischen Verhältnis, auch in der internationalen Politik notwendige Arbeitsteilung. Es soll nicht übersehen werden, dass Europa bereits heute wertvolle Beiträge dazu leisten kann und auf diesem Feld vieles an internationaler Arbeitsteilung bereitgestellt hat. Ich erinnere an die Abkommen von Lome und die Zusammenarbeit mit den ASEAN-Staaten. Wir wollen auf diesem Wege fortfahren. Es ist notwenig, dass die rund 230 Millionen Europäer in der Gemeinschaft ihre eigene Rolle übernehmen und verantwortlich ausüben. Noch ist die Zeit für eine integrierte europäische Verteidigung oder gar für eine europäische Friedensstreitmacht nicht reif. Aber ich bin sicher, diese Zeit wird kommen.

Die Kernfragen des West-Ost-Verhältnisses, der Auseinandersetzung zwischen der freien Welt und der kommunistischen Ideologie, sind Freiheit und Sicherheit. Eine wirkliche Gestaltung des Friedens kann nicht ohne Vertrauen und Vertrauensbildung und Zusammenarbeit geschehen. Nach dem Harmel-Konzept des NATO-Bündnisses gehören neben das Streben nach gesicherter Verteidigungsfähigkeit die Bemühungen um den Abbau der Gegensätze im West-Ost-Verhältnis durch Dialog und Zusammenarbeit. Der Dialog und - wenn möglich - der Ausgleich mit unseren europäischen Nachbarn im Osten gehörten von Anfang an zum Verständnis der Rolle der Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen die Gespräche und die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas, auch mit der Sowjetunion, auf allen Ebenen, und wir wollen sie - wenn möglich - vertiefen. Dieses Angebot gilt selbstverständlich, wobei wir uns über den Ausgangspunkt immer klar bleiben: Wir sind Realisten.

Wir haben es bei all diesen Verhandlungen und Gesprächen mit kommunistischen Systemen zu tun. So geht es bei dieser Auseinandersetzung auch letztlich immer um eine Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Unfreiheit. Das Ja zu Gesprächen mit der Sowjetunion, das Ja zu notwendigen Abmachungen mit der Sowjetunion darf nicht vergessen machen, dass dies ein kommunistisches Regime ist.

Aus all dem ergibt sich natürlich eine verschärfte Rivalität zwischen West und Ost mit mancherlei Besonderheiten, die uns auch in Zukunft erhalten bleiben werden.

Wenn wir jedoch den Frieden in Freiheit sichern wollen, müssen wir alle Chancen nutzen, dort, wo gemeinsame Interessen bestehen, sie in praktische Politik umzusetzen. Ich will es noch anders formulieren: Da Kriege in unserer Zeit, vor allem in den Krisenzonen in Europa, nicht mehr führbar sind ohne die Apokalypse des Atomkriegs und des Untergangs, müssen wir alles tun, damit Kriege nicht mehr geführt werden. Das heißt, dass wir miteinander sprechen und verhandeln müssen. Es gibt keine Alternative zu dieser Politik.

Zwischen Ost und West ist in diesen Tagen die Zeit zu grundsätzlichen Entscheidungen herangereift. Heute besteht trotz aller Kontroversen eine Dichte von Ost-West-Kontakten wie seit vielen Jahren, seit Jahrzehnten nicht mehr. Dies gilt nicht zuletzt für die Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten, den USA und der Sowjetunion. Durch das Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow in Genf, durch das Treffen vor wenigen Tagen in Reykjavik ist eine Entwicklung in Gang gesetzt worden, die eine eigene - wenn wir es klug anfassen - ausgleichende und friedenserhaltende Dynamik in sich trägt. Dieses Treffen von Reykjavik erweist sich deutlich ais eine wichtige Zwischenetappe des West-Ost-Dialogs. Der Präsident und der Generalsekretär haben übereinstimmend festgestellt, dass in Island vor allem im Rüstungskontrollbereich beachtliche Fortschritte erzielt wurden und dass der Dialog und die Verhandlungen auf der Grundlage des Erreichten weitergehen werden. Die Tür zu einem weiteren Gipfeltreffen wurde von beiden Seiten bewusst offengehalten. Hier zeichnet sich eine Chance für die Zukunft ab. In der Tat, bei all dem, was an Kritik an Reykjavik geäußert wurde, gilt die Feststellung: Es sind jetzt Vorschläge auf den Tisch gekommen, die vor ein oder zwei Jahren, selbst vor sechs Monaten noch undenkbar waren. Und dies betrifft alle Bereiche der Rüstungskontrollgebiete. Diese Vorschläge bleiben auf dem Tisch. Sie müssen jetzt sorgsam geprüft, sorgsam diskutiert, auch sorgsam zwischen den Bündnispartnern erörtert werden. Sie müssen in Genf in den Fachbereichen in Verhandlungen umgesetzt werden.

Es gibt eine gute Chance, zu konkreten Verhandlungen zu kommen. Ich stimme George Shultz bei, der in diesen Tagen gesagt hat: Die Menschheit ist jetzt möglicherweise an einer Wasserscheide angelangt. Wenn wir es klug anfassen, mit Mut, aber auch mit Verantwortungsbewusstsein und großem Realismus, haben wir eine Chance, jetzt zugunsten kommender Generationen von dieser Wasserscheide - ich bleibe im Bild - das Wasser in eine richtige Richtung abfließen zu lassen. Wir werden viel Geduld brauchen und wissen müssen, dass es seine Zeit dauern wird, bis das Wasser das große Meer erreicht hat.

Zu diesem Prozess des West-Ost-Dialogs müssen alle Staaten beitragen, nicht nur die Weltmächte, auch die mittleren und kleineren Staaten Europas. Gerade wir in Deutschland, in einem geteilten Land, in dem in Berlin wie überall in der Bundesrepublik und in der DDR sich jede internationale Spannung und Verschärfung des Klimas wie in einem Seismographen einer Erdbebenwarte niederschlägt, sind ganz unmittelbar daran interessiert, dass diese Verhandlungen zum Erfolg führen.

Wir stehen zur Freiheit und zu den Opfern zur Verteidigung der Freiheit. Wir wissen, dass es Freiheit nicht zum Nulltarif gibt. Aber wir wissen auch, dass es Zeit ist, die Waffenberge abzubauen, von denen wir alle nur hoffen und beten können, dass wir sie nie gebrauchen müssen.

Das bevorstehende Treffen im Rahmen der KSZE in Wien wird eine weitere Chance sein, auf diesem Weg einen Impuls zu geben. Dabei spielen vor allem die humanitären Probleme, die Fragen der Menschenrechte eine große Rolle. Ich will auch hier in Chicago die Gelegenheit wahrnehmen, mich bei Ronald Reagan dafür zu bedanken, dass er in Reykjavik die Frage der Menschenrechte in der großen Tradition der Bürger der Vereinigten Staaten mit Entschiedenheit angesprochen hat. Ich will ihm danken im Hinblick auf die vielen jüdischen Sowjetbürger, die das Land verlassen möchten und in Israel eine neue Heimat finden wollen. Und ich will ihm danken aus der Sicht meiner deutschen Landsleute, die seit Jahren und Jahrzehnten in der Sowjetunion leben und in ihre alte Heimat zurückkehren wollen. Es liegen allein 90000 Anträge von Deutschen vor, die sowjetische Staatsbürger sind und in die Bundesrepublik auswandern möchten. Hier gibt es eine große Chance für Generalsekretär Gorbatschow, menschliche Haltung zu beweisen.

Im Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüstung liegen in den bilateralen, den multilateralen und weltweiten Verhandlungsforen die weitestgehenden Vorschläge auf dem Tisch, die es je gegeben hat. Ich bin sicher, dass bei ernsthaftem Verhandlungswillen jetzt - in der unmittelbar vor uns liegenden Zeit - Lösungen möglich sind. Rüstungskontrolle ist kein Selbstzweck, sie ist im übrigen auch kein Allheilmittel. Gerade die aktuellen Verhandlungen zeigen, dass sich für uns in Westeuropa und für uns als Deutsche neue Herausforderungen stellen. Die Vision einer nuklearfreien Welt, die in der Strategischen Verteidigungsinitiative von Präsident Reagan aufscheint und die sich im Vorschlag von Generalsekretär Gorbatschow wiederfindet, würde die geltende Bündnisstrategie fundamental zu Lasten der Europäer verändern, wenn nicht die Gegebenheiten angesichts des enormen Übergewichts der konventionellen Waffen der Sowjetunion verändert würden. Gerade deshalb sind wir als Deutsche gemeinsam mit unseren europäischen Freunden aufgerufen und interessiert, in Abstimmung mit ihnen die Sicherheitsinteressen zu wahren und in Einklang zu halten mit den Abrüstungs- und Rüstungskontrollvorschlägen, die zwischen den Weltmächten verhandelt werden.

Neue strategische Systeme und Abrüstungsfortschritte dürfen nicht zu weniger Sicherheit, sondern müssen letztlich zu mehr Sicherheit für Europäer und Amerikaner führen. Es geht um die Frage, ob die fortbestehende kriegsverhütende Funktion der Abschreckung zunehmend mit weniger Waffen und unter ausreichender Kontrolle der Waffen erreicht werden kann. Wir als deutsche Bundesregierung und ich selbst haben uns seit langem das Ziel gesetzt: Frieden zu schaffen mit weniger Waffen.

Jetzt steht mit Generalsekretär Gorbatschow ein Mann an der Spitze der sowjetischen Führung, der Offensichtlich auch die Grenzen seines Systems kennt. Niemand von uns kann zur Stunde abschließend beurteilen, ob es der Sowjetunion in Wirklichkeit nur um Zeitgewinn geht oder ob das, was jetzt verhandelt wird, tatsächlich - was wir hoffen - der Auftakt zu einer neuen Politik größerer Zurückhaltung in den internationalen Fragen ist, ob ein fairer Dialog mit dem Westen möglich ist. Wir sind zusammen mit unseren amerikanischen Freunden und allen im Bündnis entschlossen, um des Friedens willen keine Chance ungenutzt zu lassen. Dabei werden wir auch zukünftig darauf achten, dass unsere Sicherheit mit der amerikanischen Sicherheit verbunden und gewährleistet bleibt.

Aber Außenpolitik wie Politik überhaupt kann in den Perspektiven auf das Jahr 2000 nur erfolgreich sein, wenn sie sich auch an den Maßstäben der Gerechtigkeit ausrichtet. Kein Gemeinwesen, auch nicht die internationale Staatengemeinschaft, kann ohne Gerechtigkeit auskommen. Unrecht schafft Instabilität und Spannung.

Das deutsche Volk ist seit über 40 Jahren noch immer auf unnatürliche Weise gegen seinen Willen geteilt. Diese Teilung Deutschlands ist ein potentieller Konfliktherd, der für uns alle - natürlich vor allem für die Deutschen -eine Herausforderung darstellt. Es ist intellektuell unredlich und politisch töricht, diese Tatsache zu verschweigen. Man kann vielleicht am einfachsten darüber sprechen, wenn man die Erfahrungen der Deutschen, auch hier in den USA, auf die eigenen Verhältnisse überträgt. Die Teilung der alten Hauptstadt Berlin mit all ihren schrecklichen Auswirkungen und Problemen verstehen Sie viel besser, wenn Sie sich vorstellen, dass wenige Meilen von hier entfernt, wenn Sie über die Brücke des Chicago Flusses fahren, eine Mauer stünde und dass Ihre Brüder und Schwestern, Ihre Eltern zufällig auf der anderen Seite des Flusses wohnten, jenseits einer Mauer, mit geringen Möglichkeiten des Kontakts zu Ihnen. Sie würden das als Unrecht empfinden.

Dieses Unrecht, symbolisiert an der schrecklichen Mauer in Berlin, ist eben ein Zeichen dafür, dass mitten in Europa keine Normalität herrscht. Solange einem Teil der Menschen in Europa Menschenrechte und freie Selbstbestimmung vorenthalten werden, wird es auf Dauer keinen wirklichen Frieden geben. Die Bundesrepublik Deutschland versucht um der Menschen willen mit der Führung der DDR ein Nachbarschaftsverhältnis herzustellen. Wir alle, auch ich selbst, tun dies, um die Not der Teilung zu lindern, um Kontakte zwischen den Menschen über Grenzen hinweg zu ermöglichen, um das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Deutschen zu stärken.

Die Männer und Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg und der schrecklichen Erfahrung der Nazi-Barbarei unsere Verfassung formulierten, haben aus gutem Grund in der Präambel dieser Verfassung den Willen und den Auftrag niedergeschrieben, die Einheit der Nation in Freiheit zu vollenden. Dies ist ein Auftrag unserer Geschichte, es ist aber auch ein Teil unseres Selbstverständnisses. Wir beanspruchen nicht mehr und nicht weniger als das, was man allen Völkern dieser Erde selbstverständlich zugesteht und was ein entscheidender Grundsatz der Charta der Vereinten Nationen ist.

Wir wissen, dass dieses Thema jetzt und heute nicht auf der Tagesordnung der Weltpolitik steht. Aber wir wissen auch, dass der Wille des Volkes vor der Geschichte eine Realität ist. Wir wissen vor allem eines - und es ist wichtig, dass gerade Sie in den Vereinigten Staaten es ebenfalls wissen -, dass dieses Ziel nur auf friedlichem Weg erreicht werden kann, das heißt mit Zustimmung der Nachbarn in West und Ost. Erfahrung deutscher Geschichte in diesem Jahrhundert heißt immer, dass Krieg und Gewalt keine Mittel der Politik sind. Wir haben aus der Geschichte gelernt.

Wir sind diesen Weg der Aussöhnung mit den Kriegsgegnern von gestern gegangen, mit unseren französischen Freunden, in einer Weise, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar war. Für die Generation unserer Kinder ist es einfach nicht fassbar, dass noch der Groß- oder Urgroßvater im deutsch-französischen Krieg fallen konnte. Wenn unsere Kinder heute von Deutschland nach Frankreich hinübergehen, gehen sie nicht in ein anderes Land. Sie bleiben mitten in Europa. Wir haben auch im Verhältnis zum jüdischen Volk, zum Volk und zum Staate Israel, einen Neuanfang gewagt. Wir haben gegenüber der Volksrepublik Polen und den anderen Nachbarvölkern in Mittel- und Osteuropa im Rahmen dessen, was dort möglich ist, den gleichen Weg beschritten.

Wir erinnern auch daran, dass es nicht nur um die deutsche Spaltung geht. Die deutsche Spaltung ist in Wahrheit nur ein Teil der Spaltung Europas, und hier in Chicago brauche ich nur die Namen der Städte Warschau oder Krakau, Prag oder Budapest zu erwähnen - das alles sind Städte mitten in Europa genauso wie Berlin, Paris und London.

Ich bin sicher, dass eine wirklich gerechte europäische Friedensordnung nur dauerhaft sein kann, wenn darin das Selbstbestimmungsrecht aller Völker und die Beachtung der Menschenrechte und des Verzichts auf Gewalt verankert sind. Daraus erwächst uns Europäern wie Ihnen, den Amerikanern, im Verhältnis zu den Staaten der Dritten Welt eine ganz besondere Verantwortung, die Verpflichtung zu mehr Gerechtigkeit. Ich gehöre zu jenen, die glauben, dass schon in den ersten Jahrzehnten des kommenden Jahrhunderts die Dynamik, die Problematik und die Gefahr des Nord-Süd-Konflikts den jetzt alles dominierenden Ost-West-Konflikt überwuchern werden. Es kommen neue große Probleme auf uns zu. Für uns in der Bundesrepublik Deutschland wie für den ganzen Westen wird die mangelnde wirtschaftliche und politische Stabilität der Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu einer Herausforderung unserer eigenen vitalen Interessen. Wenn wir diese Probleme nicht gemeinsam mit den Betroffenen in den Griff bekommen, werden sie eine Bedrohung der internationalen Stabilität.

Die großen Industrienationen - das gilt für die USA gleichermaßen wie für uns in der Bundesrepublik - sind gefordert, zur Überwindung von Not, Hunger und Elend ihren Beitrag zu leisten. Das heißt, wir müssen viel und vielleicht noch mehr als bisher tun. Wir sind aufgefordert,

  • die echte Blockfreiheit dieser Staaten zu unterstützen,
  • ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung durch wachstumsfördernde und inflationsfreie Rahmenbedingungen, durch offene Märkte und angemessenen Technologietransfer zu unterstützen,
  • unseren Beitrag zur Behebung der internationalen Verschuldungskrise in der Dritten Welt zu leisten,

mit einem Wort: nicht abseits zu stehen, sondern Verantwortung zu übernehmen.

Deutschland und Amerika, Europa und die Vereinigten Staaten sind eben nicht nur für ihr eigenes Geschick verantwortlich, sie sind nicht nur in ihren bilateralen Beziehungen verantwortlich, sie tragen entscheidende Verantwortung für die Welt.

Präsident Kennedy hat einmal gesagt, Amerika werde jeden Preis zahlen, keine Mühe scheuen und jeden Trend unterstützen, um Überleben und Erfolg der Freiheit sicherzustellen. Dazu braucht Amerika Europa, und umgekehrt braucht Europa - auch wir Deutschen - Amerika als Partner für Frieden und Freiheit. Wir Deutschen haben versucht, in den vierzig Jahren nach dem Krieg - und es ist jetzt schon die dritte Generation, die sich anschickt, politische Verantwortung zu übernehmen -, aus der Geschichte zu lernen. Wir haben vor allem eines in diesen vierzig Jahren gelernt, dass es wichtig ist, Freunde zu haben, nicht nur in guten, sondern auch in schwierigen Tagen.

Die Amerikaner, die Vereinigten Staaten von Amerika, waren nach dem Krieg die ersten, die uns die Hand zur Versöhnung reichten. Sie haben uns in den bitteren Jahren nach 1945 materiell geholfen. Sie haben eine Generation von Schülern, zu der auch ich gehöre, buchstäblich vor dem Verhungern gerettet. Und sie haben uns unterstützt mit dem Marshall-Plan, mit einer großartigen Initialzündung und Unterstützung für das, was man später das deutsche „Wirtschaftswunder" genannt hat.

Das alles ist bei uns unvergessen, und es hat sich tief eingegraben in unsere Erinnerung. Es hat dazu geführt, dass eine Freundschaft gewachsen ist, die nicht nur - was auch wichtig ist - von Interessen beherrscht wird, nicht nur vom Verstand geprägt ist, sondern die auch Millionen Menschen in ihrem Herzen tragen. Das ist gut so, und es stimmt mich optimistisch für die Freundschaft zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland.