24. Juni 1994

„Glaube - die wichtigste Quelle der Freiheit"

 

Interview mit Klaus Kreitmeir anlässlich des 92. Deutschen Katholikentags in Dresden, veröffentlicht in dem katholischen Magazin „Weltbild"

WELTBILD: Was erwarten Sie von den Kirchen in den neuen Bundesländern auf dem Weg zur Einheit?

Kohl: Die Menschen in den neuen Bundesländern haben besondere menschliche und geschichtliche Erfahrungen gesammelt. Die ältere Generation hat noch den Nationalsozialismus, den Krieg und den totalen Zusammenbruch erlebt. Anders als im Westen folgte den Jahren nationalsozialistischer Schreckensherrschaft jedoch nicht ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen, sondern ein kollektivistisches System der Unfreiheit und der Unterdrückung, das erneut den Menschen in seiner Ganzheit vereinnahmte. Der jüngeren Generation, die in das von der SED beherrschte System hineinwuchs, wurde ein totalitäres Weltbild vermittelt, das von der inhumanen Vorstellung ausging, den Menschen nach gesellschaftspolitischen Vorgaben formen zu können. Menschliche Freiheit, die auch Irrtum und Schuld einschließt, wurde geleugnet. Durch staatliche Planung, so die Ideologie, könne das Paradies auf Erden verwirklicht werden. Was daraus wurde, haben wir alle erlebt.

Diese totalitäre Ideologie ist gescheitert. Nun brauchen und suchen viele Menschen - nicht nur in den neuen Bundesländern - geistige Orientierung. Woran kann man sich halten? Was ist der Sinn des Lebens? Auf diese zentralen Fragen menschlicher Existenz kann nach meiner Überzeugung gerade die Kirche die entscheidenden Antworten geben. Den Menschen auf der tragfähigen Grundlage des Evangeliums Halt, Zuversicht und auch Trost zu geben, darin sehe ich die zentrale Aufgabe der Kirche.

WELTBILD: Wie kann der Katholikentag, gerade in einem atheistischen Umfeld wie Dresden, einen Beitrag zur Einheit leisten?

Kohl: Es trifft zu, dass die Zahl der Menschen mit kirchlicher Bindung in den neuen Ländern gering ist. Dies ist vor allem aus der kirchenfeindlichen Politik der Nationalsozialisten und ihrer SED-Nachfolger zu erklären. Aus dieser Kirchenferne auf einen überzeugten Atheismus zu schließen, wird jedoch vielen nicht gerecht. Wer kann in die Herzen schauen?

Der Katholikentag in Dresden ist für die Kirchen, nicht nur für die katholische, eine Chance, auf die Menschen zuzugehen und die befreiende Kraft der Frohen Botschaft bewusst zu machen. Wenn es gelingt, Christen und Nichtchristen durch den Katholikentag gerade auch auf Themen jenseits des rein Materiellen anzusprechen und neugierig zu machen, dann wäre dies ein großer Erfolg. Den Menschen Halt zu geben, ist ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Verwirklichung der inneren Einheit.

WELTBILD: Was ist das Besondere an diesem Katholikentag in Dresden?

Kohl: Vier Jahre nach Vollendung der Deutschen Einheit erscheint es fast schon als ein Stück Normalität, dass der diesjährige Katholikentag in Dresden stattfindet. Wer hätte sich noch vor wenigen Jahren vorstellen können, dass ein Katholikentag in einem geeinten deutschen Vaterland, in einem Freistaat Sachsen stattfindet? Die Wahl Dresdens setzt auch insofern ein Zeichen, als das Katholikentreffen in Dresden 1988 wohl für alle katholischen Christen in der damaligen DDR, auch vor einer großen Öffentlichkeit, die Rolle der Kirche als geistiger Heimat eindrucksvoll unterstrichen hat. Indem die Kirche an diese Tradition anknüpft, macht sie deutlich, dass sie entscheidend zum geistigen Aufbruch beitragen will.

Ich freue mich natürlich auch, dass mit Dresden als Veranstaltungsort dem einen oder anderen Besucher eine wunderschöne Stadt, eine reizvolle Region mit ihren Bewohnern bekannt wird. Katholikentage sind Tage des Gesprächs, des Austauschs und des Kennenlernen. Auch insoweit stärkt der Katholikentag das Gefühl der Zusammengehörigkeit.

WELTBILD: Was ist für Ihr persönliches Leben im Glauben das Wichtigste?

Kohl: Für mich ist der christliche Glaube die wichtigste Quelle der Kraft und der Freiheit. Er sagt mir, dass wir als schwache, fehlbare Menschen Vollendung nicht aus uns selbst heraus finden können, sondern nur durch das Heilswirken Gottes. Diese Botschaft von Jesus Christus ist befreiend, gerade auch für jemanden, der in politischer Verantwortung steht. Zu wissen, trotz Fehlbarkeit und Irrtum von Gott angenommen zu sein, gibt Mut zum Handeln für den Nächsten. Dabei dürfen wir bei aller Leidenschaft des politischen Ringens gelassen sein, denn wir sind nicht dem Zwang ausgesetzt, uns selbst zu erlösen, sondern wir sind von Gott getragen. Das Fundament bleibt dabei das christliche Verständnis vom Menschen, die Überzeugung von der unveräußerlichen Würde des einzelnen, das Wissen um seine Grenzen und Schwächen, aber auch der Glaube an seine Fähigkeit, Verantwortung wahrzunehmen. Das Lesen der Bibel, Gottesdienst und Gebet öffnen uns den Blick für die Größe des Menschen, die ihm von Gott geschenkt wurde. Wir lernen zugleich den notwendigen Realismus, den Menschen anzunehmen in seiner Unvollkommenheit.

Quelle: Katholisches Magazin „Weltbild" vom 24. Juni 1994.