24. Juni 1997

Rede anlässlich der Festveranstaltung zum 50. Gründungsjubiläum der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer in New York

 

Sehr geehrter Herr Präsident Sekulow,
lieber Herr Präsident Walbröl,
lieber Herr Stihl, Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

 

I.

 

bevor ich zum Anlaß meines Besuches bei Ihnen spreche, ein kurzes Wort zu dem Pianisten, der uns auf den heutigen Abend eingestimmt hat. Das Musikstück, das John Nauman soeben meisterhaft gespielt hat - George Gershwins Rhapsody in Blue -, symbolisiert für viele aus meiner Generation eine Stimme Amerikas, die im Deutschland der Nazi-Zeit nicht zu uns durchdringen konnte. Sie steht für Freiheit, und sie steht für einen neuen Anfang. Deshalb habe ich mich über diese wunderbare Darbietung besonders gefreut.

 

Meine Damen und Herren, wir feiern heute das 50. Gründungsjubiläum der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer in New York. Zu diesem Geburtstag gratuliere ich Vorstand sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich. Zugleich danke ich den Gründern und Wegbegleitern der Handelskammer für ihren Einsatz, mit dem sie die deutsch-amerikanischen Beziehungen gerade auf dem Gebiet der Wirtschaft mit aufgebaut und gefestigt haben.

 

Das Tätigwerden der Handelskammer vor einem halben Jahrhundert ist ein Signal der Ermutigung für die Deutschen in einer schwierigen Zeit gewesen. Das Jahr 1947 war die Stunde Null in unserer Geschichte. Deutschland lag in Trümmern. Hunger und Verzweiflung, Flucht und Vertreibung prägten das Schicksal von Millionen Deutschen. Der Name Deutschlands in der Welt war damals verbunden mit den Verbrechen des Nazi-Regimes. In dieser Situation haben die ehemaligen Kriegsgegner - allen voran die USA - Deutschland die Hand gereicht und wieder auf die Beine geholfen.

 

Vor 50 Jahren hielt George C. Marshall in Harvard eine Rede, in der er ein Hilfsprogramm für Europa ankündigte. Es war eine kurze Rede, doch sie hat Weltgeschichte gemacht. Sie dokumentierte die Klugheit und Weitsicht eines der großen Präsidenten der Geschichte der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, und seines Außenministers, ebenso aber auch - ich nenne diesen Namen, weil er zu Unrecht oftmals verschwiegen wird - Senator Vandenburgs. Sie waren entschlossen, die Fehler des Jahres 1919 nicht zu wiederholen, sondern Europa eine Chance für dauerhaften Frieden in Freiheit zu geben.

 

Die Rede George Marshalls war für uns Deutsche - und ich sage dies auch aus meiner persönlichen Erinnerung an die damalige Zeit - ein Zeichen der Hoffnung inmitten tiefer Verzweiflung. Wir schulden Amerika für diese großherzige Haltung bleibenden Dank. Ich freue mich darüber, daß ich dies in den vergangenen Wochen bei verschiedenen Gelegenheiten in Den Haag, in Washington und in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag in Bonn zum Ausdruck bringen konnte. Ich möchte es auch heute zu Ihnen sagen: Danke Amerika!

 

Der Marshall-Plan mit einer Wirtschaftshilfe in Höhe von 13 Milliarden US-Dollar war eine unvergessene Hilfe zur Selbsthilfe beim Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Der auf Deutschland entfallende Anteil der Unterstützungsleistungen in Höhe von rund 1,4 Milliarden US- Dollar hat neben dem Aufbauwillen und dem Fleiß der Gründergeneration den Anstoß für das deutsche Wirtschaftswunder gegeben. Der Marshall-Plan war vor allem aber auch Anstoß für den europäischen Einigungsprozeß, für das, was Winston Churchill in seiner großen Rede 1946 in Zürich den Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa genannt hat.

 

Heute können wir feststellen, daß die Vision eines Europas in Frieden und Freiheit in Erfüllung gegangen ist - ungeachtet des Kalten Krieges, der unseren Kontinent über Jahrzehnte in zwei feindliche Lager gespalten hat. Amerika hat in dieser Zeit eng zu uns gestanden. Millionen amerikanischer Soldaten haben fern ihrer Heimat und oft getrennt von ihren Familien unsere Freiheit mit verteidigt. Inzwischen ist der Eiserne Vorhang gefallen, das kommunistische Imperium ist zusammengebrochen.

 

Im Jahr 1990 hat Deutschland seine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und mit Zustimmung seiner Freunde, Nachbarn und Partner erreicht. Ich nenne in diesem Zusammenhang vor allem George Bush, der ohne Wenn und Aber die Idee der Deutschen Einheit vertreten und mit durchgesetzt hat. Ohne ihn - und dies mindert in keiner Weise die große Leistung von Michail Gorbatschow - wäre die Deutsche Einheit nicht möglich gewesen.

 

Das Ende des Kalten Krieges eröffnet den Menschen eine neue Möglichkeit, die Welt zu gestalten - unsere Welt, die in zweieinhalb Jahren in ein neues Jahrhundert eintreten wird. Unverrückbare Ausgangspunkte sind und bleiben für uns Deutsche dabei die transatlantische Partnerschaft und die europäische Integration. Diese gleichberechtigten und gleichgewichtigen Grundprinzipien, die Konrad Adenauer vor vier Jahrzehnten formuliert hat, bilden das bewährte Fundament für Sicherheit und Wohlstand unseres Landes. Wir wollen die Partnerschaft und Freundschaft mit unseren amerikanischen und kanadischen Freunden, und wir wollen die europäische Integration, den Bau des Hauses Europa mit seinem Spezialkapitel der deutsch-französischen Freundschaft.

 

Meine Damen und Herren, diese politischen Marksteine bezeichnen zugleich das Feld für das positive Wirken der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer. Die Gründung der Handelskammer war ein wichtiges Startsignal für eine immer engere wirtschaftliche Verflechtung zwischen Deutschland und den USA. Damals wurde der deutschen Wirtschaft die Tür zum großen amerikanischen Markt geöffnet. Seither haben sich die beiderseitigen Handels- und Investitionsbeziehungen besonders dynamisch entwickelt.

 

Die USA sind für Deutschland der wichtigste Handelspartner außerhalb der Europäischen Union mit einem Handelsvolumen von rund 100 Milliarden D-Mark. Zugleich sind die USA Anlageland Nummer eins für deutsche Investoren im Ausland. Unsere Direktinvestitionen in den USA belaufen sich auf rund 70 Milliarden D-Mark - weit vor Großbritannien mit rund 30 Milliarden D-Mark. Umgekehrt sind die USA der größte Auslandsinvestor in Deutschland. Die amerikanischen Direktinvestitionen in unserem Land liegen bei rund 63 Milliarden D-Mark.

 

Seit der Deutschen Einheit vor sieben Jahren haben sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren beiden Ländern noch vertieft. Die USA sind auch bezogen auf das Gebiet der neuen Bundesländer größter ausländischer Investor. Beispiele für namhafte amerikanische Großinvestitionen sind das hochmoderne Automobilwerk der General-Motors-Tochter Opel in Eisenach, das Engagement von Dow Chemical im Chemiedreieck Bitterfeld sowie die neue Chipfabrik des US-Unternehmens AMD in Dresden. All diese Entwicklungen zeigen, daß Deutschland - ungeachtet aller törichten Diskussionen - ein attraktiver Investitionsstandort ist. Wir werden dafür sorgen, daß dies so bleibt.

 

II.

 

Meine Damen und Herren, der 50. Geburtstag der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer findet statt in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen in der Welt. Die Gipfelkonferenzen in diesen Tagen spiegeln dies wider. Am vergangenen Wochenende hat das Treffen der Staats- und Regierungschefs führender Industrieländer in Denver stattgefunden. In diesem Jahr war es erstmals ein G 8-Gipfel. Präsident Jelzin war von Anfang an dabei. Vor zehn Jahren hätte sich niemand eine solche Entwicklung vorzustellen gewagt. Heute erscheint es schon fast als ein Stück Normalität. Dies, meine Damen und Herren, kennzeichnet die ganze Dynamik der Entwicklung in den vergangenen Jahren.

 

Seit gestern findet hier in New York die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen statt. Dort wird Bilanz gezogen fünf Jahre nach dem Umweltgipfel in Rio. Ich habe gestern - und auch dies zeigt die umwälzenden weltweiten Entwicklungen an - eine gemeinsame Umweltinitiative mit den Staats- und Regierungschefs von Brasilien, Singapur und Südafrika vorgestellt. Auch dies wäre vor einem Jahrzehnt undenkbar gewesen.

 

In zwei Wochen wird beim NATO-Gipfel in Madrid eine grundlegende Entscheidung zur Öffnung der Atlantischen Allianz für neue Mitglieder getroffen. Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik - ob zusätzlich anderen Staaten, ist noch nicht entschieden - wird sich die Möglichkeit zum NATO-Beitritt eröffnen. Weiteren Beitrittskandidaten werden wir zumindest positive Perspektiven für diesen Schritt aufzeigen. All dies knüpft an an die vor vier Wochen in Paris unterzeichnete Grundsatzakte zwischen NATO und Rußland. Auch dies ist eine noch vor wenigen Jahren unvorstellbare Veränderung, die den Frieden in der Welt weiter stabilisieren wird.

 

Meine Damen und Herren, diese politischen Umbrüche gehen einher mit dramatischen Veränderungen in der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung. Wir müssen uns einstellen auf die zunehmende Globalisierung der Weltwirtschaft. Die Gewichte im Welthandel verschieben sich, andere Länder holen auf, zum Beispiel in Asien. Die Bundesregierung hat deshalb gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft vor einigen Jahren ein Asienkonzept entwickelt, mit dem wir unsere Chancen in dieser Zukunftsregion besser nutzen werden.

 

Auch vor unserer Haustür, in Mittel- und Osteuropa, wachsen - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung - neue Wettbewerber heran. Ich wünsche mir, daß die Tschechische Republik, daß Ungarn, Polen, die Ukraine und Rußland - ich nenne nur diese Namen - sich unwiderruflich auf den Weg machen in Richtung Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft.

 

Die Alternative wäre - dies muß jedem klar sein - ein Rückfall in totalitäre Gesellschaftsformen der Vergangenheit. Die Folge wären neue Bedrohungen, neue Rüstungsspiralen und neue Raketen, für die wiederum Milliardenbeträge ausgegeben würden. Wir wollen kein Zurück in diese Zeiten des Ost-West-Gegensatzes. Wir wollen Werke des Friedens tun. Dies muß das Ziel unserer Politik sein.

 

Dazu gehört die Bereitschaft, im eigenen Lande das Notwendige zu tun. Das bedeutet zum Beispiel, die eigenen Märkte nicht abzuschotten, sondern für neue Wettbewerber zu öffnen. Das Haus Europa darf und wird keine Festung sein. Die Grenzpfähle, die wir in Europa herausreißen, taugen nicht als Baumaterial für neue Schranken an der gemeinsamen Außengrenze. Als überzeugter Anhänger Ludwig Erhards weiß ich, daß es für unsere exportorientierte Wirtschaft mehr als für andere existentiell ist, daß wir bei uns für offene Fenster und Türen sorgen. Deutschland tritt mit Nachdruck für den freien Welthandel ein. Auf dieser Basis sichern wir unserem Land eine gute Zukunft.

 

Deutschland hat gute Voraussetzungen im internationalen Wettbewerb der Standorte. Wir haben eine ausgezeichnete Infrastruktur. Die Arbeitnehmer in Deutschland sind hochqualifiziert - das duale System ist eines der besten Berufsausbildungssysteme der Welt. Wir verfügen über eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem leistungsfähigen Mittelstand. Nicht zuletzt sind wir ein wirtschaftlich und sozial stabiles Land.

 

Die Wirtschaftsperspektive für 1997 ist gut - das Konjunkturklima in Deutschland erwärmt sich. Wir erwarten in diesem Jahr ein reales Wachstum in der Größenordnung von zweieinhalb Prozent. Diese positive Entwicklung reicht jedoch noch nicht aus für eine durchgreifende Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt. Die zentrale innenpolitische Aufgabe in Deutschland ist und bleibt die Bekämpfung der inakzeptabel hohen Arbeitslosigkeit. Dabei müssen wir feststellen, daß viele Menschen ohne Arbeit keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist und bleibt es deshalb, die Anstrengungen bei der Ausbildung junger Menschen weiter zu verstärken.

 

Die zweite entscheidende Aufgabe in unserem Land ist es, rechtzeitig Konsequenzen zu ziehen aus dem sich abzeichnenden demographischen Wandel. Der Altersaufbau unserer Bevölkerung - und dies gilt ebenso in anderen westlichen Industrieländern - wird sich in den nächsten Jahrzehnten dramatisch verändern. Deutschland gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa. Die steigende Zahl von Single-Haushalten läßt nicht erwarten, daß sich daran in naher Zukunft etwas ändern wird. Zugleich steigt - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung - die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen.

 

Das Verhältnis zwischen aktivem Erwerbsleben einerseits und Ausbildungszeit sowie Ruhestand andererseits in der Biographie der Menschen verschlechtert sich. Ein deutscher Hochschulabsolvent ist nach Abitur und Studium heute bei Berufsbeginn im Durchschnitt 29 Jahre alt. Das durchschnittliche tatsächliche Renteneintrittsalter der Männer liegt in den alten Bundesländern unter 60 Jahren. Dies bedeutet, daß in vielen Fällen rund 50 Jahren Ausbildung und Ruhestand nur etwa 30 Jahre produktive Erwerbstätigkeit gegenüberstehen. Es liegt auf der Hand, daß diese Rechnung auf Dauer nicht aufgehen kann.

 

Die Bundesregierung hat deshalb eine umfassende Reform unseres Systems der Alterssicherung auf den Weg gebracht. Der Deutsche Bundestag wird darüber in wenigen Tagen beraten. Die Diskussionen werden kontrovers sein - obwohl alle wissen, daß wir uns auf die geänderten demographischen Bedingungen einstellen müssen. Es wäre moralisch unverantwortbar, der jetzt aufwachsenden jungen Generation eine ungebremst wachsende Belastung für die Altersversorgung der Älteren aufzubürden und den Jugendlichen damit die Luft zum Atmen zu nehmen. Deshalb müssen und werden wir jetzt handeln.

 

Dies gilt ebenso für den Bereich Steuern und Abgaben. Die Steuern in Deutschland sind zu hoch - dies wissen Sie besser als ich. Natürlich hat dies seine Gründe - und auch darüber müssen wir sprechen. Nach meiner Wahl zum Bundeskanzler haben wir die Steuerlast in Deutschland in den 80er Jahren nachhaltig gesenkt. Seit 1989 hat der Wegfall des Ost-West-Gegensatzes und die deutsche Wiedervereinigung unser Land vor enorme finanzielle Herausforderungen gestellt. Wir haben die neuen Bundesländer mit insgesamt 1000 Milliarden D-Mark unterstützt, um die innere Einheit unseres Landes voranzubringen. Wir haben die finanziellen Erblasten der DDR in einer Höhe von 350 Milliarden D-Mark übernommen.

 

Wir haben darüber hinaus - ich sage dies gerne und mit Bedacht auch hier in New York - den Reformprozeß in den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie den Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit Leistungen in einer Größenordnung von 180 Milliarden D-Mark unterstützt. Ich füge hinzu: Der Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft vor 50 Jahren wäre ohne den Marshall-Plan nur wesentlich langsamer vorangekommen. Deshalb ist es heute unsere Aufgabe, jenen Nachbarn beim wirtschaftlichen Neubeginn zu helfen, denen Stalin vor fünf Jahrzehnten verwehrt hatte, Hilfen aus dem Marshall-Plan anzunehmen.

 

All dies, meine Damen und Herren, sind gewichtige Gründe dafür, daß die Steuerlast vorübergehend wieder gestiegen ist. Dies müssen und werden wir wieder ändern. Das Ziel der großen Steuerreform, die wir uns vorgenommen haben, ist es, die Einkommen- und Körperschaftsteuersätze auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau zurückzuführen. Diese Reform werden wir Schritt für Schritt durchsetzen.

 

Das Gesetzgebungsverfahren befindet sich voll im Zeitplan. Der Deutsche Bundestag wird über den Gesetzentwurf Ende dieses Monats beschließen, der Bundesrat wird dies noch vor der Sommerpause tun. Anschließend wird darüber im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat zu beraten sein. Am Ende dieses Prozesses wird noch in diesem Jahr eine Steuerreform stehen, die sicher nicht in allen Punkten meinen Vorstellungen entsprechen wird, die jedoch ein bedeutender Fortschritt für den Standort Deutschland sein wird.

 

III.

 

Meine Damen und Herren, bei allen ökonomischen Herausforderungen, vor denen wir unbestreitbar stehen, ist und bleibt das Wichtigste die Sicherung von Frieden und Freiheit in Europa. Wir wollen das europäische Einigungswerk fortsetzen und ein Europa der festen Bindungen schaffen - selbstverständlich bei klarer Anerkennung der nationalen Identitäten. Churchills Begriff der "Vereinigten Staaten von Europa" hat bei vielen Menschen den Eindruck erweckt, als strebten wir ein Gebilde an, das den USA vergleichbar ist. Dies ist nicht der Fall. Frankreich ist nicht Kalifornien, und Deutschland ist nicht Texas. Für mich steht fest: Wir bleiben Deutsche und Italiener, Franzosen und Schweden - und sind gleichzeitig Europäer.

 

Gemeinsam bauen wir das Haus Europa - ein Haus, das groß genug ist, daß alle Völker unseres Kontinents, die dort in dieser Gesinnung wohnen wollen, darin Platz finden, und ein Haus mit einem Dauerwohnrecht für unsere amerikanischen Freunde. Die Bewohner müssen sich eine Hausordnung geben, die für alle verbindlich ist und ohne Wenn und Aber eingehalten werden muß. Unvermeidlichen gelegentlichen Streit müssen wir lernen, friedlich nach gemeinsamen Regeln im Haus auszutragen und nicht auf der Straße. Dazu gehört beispielsweise, daß wir Deutschen als größtes Land in der Europäischen Union lernen, daß wir überstimmt werden können. Ich weiß, daß uns dies nicht leicht fällt, aber wir sollten uns daran erinnern, daß es anderen ebenso ergeht.

 

Die Bürger Europas haben einen Anspruch darauf, daß ihre Sicherheit auch im gemeinsamen Haus gewährleistet bleibt. Das internationale Treiben der Organisierten Kriminalität, ich nenne nur die Drogenmafia, macht ein gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene unerläßlich. Die Dramatik dieses Themas zeigt sich etwa an der Tatsache, daß jährlich Beträge in einer Größenordnung von rund 100 Milliarden US-Dollar aus illegalen Geschäften allein nach Europa geschleust werden. Deshalb brauchen wir eine europäische Polizei, die Europol, die den internationalen Verbrechersyndikaten Einhalt gebietet.

 

Ein zentraler Baustein für das Haus Europa ist die Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Für die Deutschen ist die Aufgabe der eigenen Währung kein einfaches Thema. Die D-Mark ist in Deutschland zu einem nationalen Symbol geworden, nachdem viele Deutsche in diesem Jahrhundert zweimal die Zerstörung ihrer Währung und den Verlust der gesamten Ersparnisse erlebt haben.

 

Millionen Deutsche haben vor dem Ersten Weltkrieg dem Kaiser vertraut und ihr Vermögen verloren. Sie gaben - auch mein Großvater zählte dazu - dem Kaiser ihre Ersparnisse für Kriegsanleihen in der sicheren Erwartung, daß nach einem siegreichen Ende des Krieges der Kaiser das Geld wieder zurückzahlen würde. Das Ergebnis kennen wir: Der Krieg war nicht siegreich, der Kaiser war nicht mehr da, das Geld wurde nicht zurückgezahlt. Für das Emporkommen Hitlers gibt es viele Gründe. Sie sind für die Deutschen in keiner Weise entschuldbar. Einer dieser Gründe war jedoch ohne Zweifel die Verelendung großer Teile der deutschen Mittelschicht durch die anschließende Hyperinflation.

 

Die zweite Vermögensvernichtung breiter Bevölkerungskreise geht auf das Konto der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Vor fast 50 Jahren - im Jahr 1948 - ist die D-Mark eingeführt worden. Viele Menschen verbinden mit ihr ein greifbares Stück Deutschland, das es noch vor Gründung der Bundesrepublik und noch vor Nationalflagge und Hymne gab. Das Verstehen dieser geschichtlichen Zusammenhänge ist der Schlüssel zum Verständnis dafür, daß wir Deutschen auf der Einhaltung der Stabilitätskriterien des Vertrages von Maastricht bestehen.

 

Wir Deutschen wollen eine dauerhaft starke gemeinsame europäische Währung. Und wir wollen, daß die Währungsunion - wie vereinbart - pünktlich am 1. Januar 1999 beginnt. Natürlich haben wir auf dem Weg dorthin - ebenso wie viele unserer europäischen Nachbarn - noch einige Hausaufgaben zu erledigen. Wir stellen dafür die notwendigen Weichen. Ich bin sicher, daß wir am Ende - entgegen mancher Spekulationen, die sich schon im Zusammenhang mit den Folgen der Deutschen Einheit als haltlos erwiesen haben - erfolgreich sein werden.

 

Natürlich beobachten wir, daß im Ausland zuweilen mit einem Anflug von Schadenfreude festgestellt wird, daß Deutschland Probleme hat. Dies, meine Damen und Herren, ist eine menschliche Reaktion auf das Verhalten mancher Deutschen - auch solcher in führenden Funktionen -, die sich bei diesem Thema gegenüber unseren europäischen Nachbarn in den vergangenen Jahren als Primus hervorgetan haben. Als Folge machen wir heute die Erfahrung, die wir alle aus unserer Schulzeit kennen: Wenn der Primus schlechte Noten heimbrachte, dann freute sich stets die ganze Klasse.

 

Meine Damen und Herren, Frieden und Freiheit in Europa sind keine Selbstverständlichkeit, sie müssen täglich neu gesichert werden. Vor einem Jahrzehnt hätte niemand es für möglich gehalten, daß es mitten in Europa, im ehemaligen Jugoslawien, wieder Krieg geben könnte - mit der Folge, daß allein nach Deutschland über 300000 Flüchtlinge aus Bosnien und den angrenzenden Regionen gekommen sind. Wir wollen alles daran setzen, daß sich dies niemals wiederholt. Der Rückblick auf dieses Jahrhundert zeigt uns, daß wir trotz schlimmer Rückschläge auf dem Weg zu einem friedlichen und freien Europa eine großartige Wegstrecke zurückgelegt haben.

 

Wer hätte zum Beispiel am 5. Juni 1947, als George Marshall zu den Studenten in Harvard sprach, daran geglaubt, daß er mit seiner Rede die Welt verändern würde? Und wer hätte es für möglich gehalten, als Präsident Reagan im Juni 1987 vor dem Brandenburger Tor in Berlin ausrief: "Mr. Gorbatschow, reißen Sie die Mauer nieder! Öffnen Sie dieses Tor!", daß dies wenige Jahre später in Erfüllung gehen würde? Gerade drei Jahre zuvor hatte mir der damalige sowjetische Generalsekretär Andropow noch mit vorwurfsvoller Stimme gesagt: Herr Bundeskanzler, das Urteil der Geschichte ist gesprochen. Die Deutsche Einheit wird es nie wieder geben.

 

Natürlich darf uns das Erreichte nicht zu dem Irrglauben verführen, wir könnten uns bequem zurücklehnen. Wir müssen auch in Zukunft mit Nachdruck und Beharrlichkeit Werke des Friedens tun. Entscheidend für mich ist dabei, daß wir, Europäer und Amerikaner und speziell wir Deutschen und die Amerikaner dies zusammen tun. Wir wollen der transatlantischen Brücke neue Fahrbahnen anbauen: Eine breite Fahrbahn für den wirtschaftlichen Austausch, eine breite Fahrbahn für kulturelle Begegnungen gerade der jungen Menschen. Ich habe zum Beispiel den Eindruck, daß die Möglichkeiten des Studentenaustauschs zwischen unseren beiden Ländern noch längst nicht ausgeschöpft sind.

 

Meine Damen und Herren, mein Wunsch an diesem Abend ist es - und ich richte diesen Wunsch speziell an die Deutsch-Amerikanische Handelskammer -, daß Sie dabei mithelfen, möglichst viele junge Bäume zu pflanzen, die für die jungen Deutschen und die jungen Amerikaner reiche Früchte tragen werden. Wirken Sie daran mit, daß Deutschland und Amerika auch in Zukunft partnerschaftlich eng zusammenstehen. In diesem Sinn wünsche ich der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer eine erfolgreiche Arbeit in den nächsten 50 Jahren.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 63. 30. Juli 1997.