24. Mai 1998

Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Rechte der Brandeis-Universität in Waltham/Massachusetts, USA

 

Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
Exzellenzen und vor allem:
liebe Studentinnen und Studenten,

 

das erste Wort in dieser Stunde gilt Ihnen, den Studentinnen und Studenten dieser Universität. Über tausend von Ihnen haben heute zum Abschluß Ihres Studiums ihre Prüfungsurkunden, ihre Abschlußzeugnisse erhalten. Das ist Ihr Tag! Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich. Es ist der Tag, auf den Sie gewartet haben, auf den Sie hingearbeitet und für den Sie viel Fleiß und Mühe erbracht haben - sicher gab es dabei auch manchen Ärger und manche Ängste. Aber jetzt haben Sie es geschafft. Herzlichen Glückwunsch!

 

Mit Ihnen gratuliere ich sehr herzlich Ihren Eltern, Familien und Freunden. Ohne deren Mithilfe wäre dieser Tag für Sie nicht möglich gewesen. Sie haben deswegen ein besonderes "Dankeschön" verdient. Ich will auch all jenen danken, die Ihnen hier an der Brandeis-Universität geholfen haben, Ihr Ziel zu erreichen.

 

Herr Präsident, ich danke Ihnen und der Brandeis-Universität für die hohe Auszeichnung, die mir soeben verliehen wurde. Ich verstehe diese Ehrung vor allem als Ansporn, mich auch künftig im Sinne der Freundschaft zwischen Deutschland und Amerika und für die Pflege der guten deutsch-jüdischen Beziehungen einzusetzen.

 

Dies ist ein ganz besonderes Jahr für die Brandeis-Universität: Ihre Gründung liegt fünf Jahrzehnte zurück. Sie alle, die an diesem Werk mitgearbeitet haben, dürfen stolz darauf sein. Wir denken dabei auch an diejenigen aus der Gründergeneration, die heute nicht mehr unter uns sind.

 

Die Brandeis-Universität hat sich in diesen Jahrzehnten einen hervorragenden weltweiten Ruf als Stätte der Lehre und Forschung erworben. Sie verkörpert auch in herausragender Weise die intellektuellen Ressourcen und das vorbildliche philanthrophische Engagement der jüdischen Gemeinde in den Vereinigten Staaten. Die Brandeis-Universität war immer eine Vorkämpferin gegen jede Art von Diskriminierung und steht auch heute für Vielfalt und vor allem für gelebte Toleranz. Im Sinne von Louis Brandeis stehen hier menschliche Werte, intellektuelle Integrität und soziale Verantwortung im Vordergrund der erzieherischen Ideale.

 

Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich empfinde in dieser Stunde ganz besonders intensiv, welche Bedeutung es hat, daß ich als Deutscher, als Repräsentant des neuen Deutschlands vor Ihnen stehe und zu Ihnen spreche. Die Beziehung meines Landes zu den jüdischen Gemeinschaften in aller Welt und vor allem zum Staat Israel wird immer eine besondere Beziehung sein. Sie ist und bleibt durch das Gedenken an den Holocaust geprägt. Das den Juden in der Nazi-Zeit zugefügte Leid ist ein unauslöschlicher Teil der Geschichte des Judentums; es ist auch ein unauslöschlicher Teil der deutschen Geschichte. Wir Deutschen dürfen und wollen die Barbarei des Nationalsozialismus und das unsagbare Leid der Opfer nie vergessen. Niemand von uns kann sich einfach von der Geschichte des Volkes, in das er hinein geboren wird, lossagen. Wir können und müssen aus den Erfahrungen der Geschichte vielmehr Lehren für die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft ziehen.

 

Die wichtigste Lehre lautet, daß der Friede zwischen Menschen und Völkern mit der unbedingten Achtung der Würde des anderen beginnt. "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dieser Satz aus dem ersten Artikel der deutschen Verfassung ist unsere Antwort auf die Menschenverachtung des Nationalsozialismus. So hat ihn auch die Generation jener Männer und Frauen verstanden, die vor knapp fünfzig Jahren die Grundlage für das neue Deutschland legten. Sie wollten ein Deutschland, das wieder zu seinen großen humanen Traditionen zurückfindet. Seit der Wiedervereinigung 1990 gilt die freiheitlichste Verfassung unserer Geschichte für alle Deutschen - auch für jene 16 Millionen, die vierzig Jahre lang unter kommunistischer Diktatur leben mußten.

 

Herr Präsident, meine Damen und Herren, für mich gehört es zu den beglückendsten Erfahrungen unserer Zeit, daß wider alles Erwarten über die Abgründe der Vergangenheit hinweg so viele haltbare Brücken gebaut werden konnten. Das gilt für unser ganz besonders freundschaftliches Verhältnis zu Israel und zu den jüdischen Gemeinschaften in aller Welt. Dies gilt ebenso für die in Deutschland lebenden Juden.

 

Ich bin sehr froh darüber, daß sich im heutigen Deutschland wieder eine lebendige jüdische Gemeinschaft entwickelt hat. Es ist mein ganz besonderer Wunsch, daß in Deutschland Synagogen nicht nur Stätten historischer Erinnerung oder Museen sind, sondern sie mehr und mehr zu Orten jüdischer Gegenwart und jüdischen Glaubens werden.

 

Unser Blick richtet sich in diesen Tagen mit ganz besonderer Sympathie nach Israel, das vor wenigen Tagen den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit gefeiert hat. Die Beziehungen zwischen Deutschland und dem Staat Israel haben sich in diesen Jahren zu einer engen und aufrichtigen Freundschaft entwickelt. Deutschland und Israel kooperieren heute intensiv in nahezu allen Bereichen. Sie alle kennen die Stimmen aus Israel, die sagen, daß Deutschland heute nach den Vereinigten Staaten von Amerika Israels treuester Freund und Fürsprecher ist. Das wird auch in Zukunft so bleiben. Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um zu einer friedlichen und gedeihlichen Entwicklung im Nahen Osten beizutragen.

 

In den vergangenen Jahren haben der Dialog und der Austausch zwischen amerikanischen Juden und Deutschland einen neuen Aufschwung genommen. Die Brandeis-Universität hat sich dabei in besonderer Weise um den deutsch-amerikanisch-jüdischen Dialog verdient gemacht. Früher waren es nicht zuletzt deutsch-jüdische Emigranten und in Deutschland ausgebildete europäische Juden, die diesen Austausch pflegten. Auf beiden Seiten des Atlantiks ist nun eine neue akademische Generation herangewachsen. Sie, die Absolventen von Brandeis heute, müssen jetzt diese Stafette übernehmen.

 

Ich möchte besonders herzlich Ihnen danken, lieber Präsident Reinharz. Ohne Sie gäbe es das neue Institut für Deutsche und Europäische Studien, das wir gestern feierlich eröffnet haben, nicht.

 

Die Aufgaben des Institutes weisen in mehrfacher Hinsicht in die Zukunft: Die Beziehungen Deutschlands zur amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft sind ein wichtiger Teil der deutsch-jüdischen Beziehungen. Sie sind auch ein wichtiger Teil der transatlantischen Beziehungen. Der Name des neu gegründeten Instituts macht aber auch deutlich, daß die Partnerschaft mit Deutschland immer auch ein Teil der Partnerschaft mit Europa ist.

 

Meine Damen und Herren, die enge Freundschaft mit den Vereinigten Staaten gehört seit Jahrzehnten zu den tragenden Säulen deutscher Außenpolitik. Dies ist in diesen Tagen bei dem Besuch von Präsident Clinton in Berlin, Brandenburg und Thüringen besonders deutlich geworden. Ohne die großzügige, entschiedene und weitsichtige Unterstützung der Vereinigten Staaten wäre der Aufbau der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg niemals ein so großer Erfolg geworden. Ohne die verläßliche Freundschaft der Vereinigten Staaten hätte Deutschland vor acht Jahren niemals in Frieden und Freiheit seine Einheit wiedererlangt. Für all das sind und bleiben wir Deutschen dem amerikanischen Volk von Herzen dankbar.

 

Die dramatischen Veränderungen des letzten Jahrzehnts stellen uns jetzt gemeinsam - Deutsche und Amerikaner - vor neue Herausforderungen. Dabei geht es um die Bewahrung unserer gemeinsamen Werte und den Ausbau einer stabilen Friedensordnung im Zeichen der Freiheit.

 

Meine Damen und Herren, auf diesem Weg ist für uns Deutsche der Bau des Hauses Europa genauso von existentieller Bedeutung wie die transatlantische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten. Als Land mit den meisten Grenzen und Nachbarn in Europa haben wir heute das Glück, nur von stabilen Demokratien umgeben zu sein. Am Ende dieses Jahrhunderts, das so viel Not und Elend sah, wachsen unsere Kinder in dem Bewußtsein auf, daß sie nach menschlichem Ermessen ihr ganzes Leben in Frieden und Freiheit verbringen können, daß sie in einem Europa leben, in dem die Grenzen in weiten Teilen offenstehen, daß sie überall Freunde finden und sie in wenigen Jahren überall in Europa - von Helsinki oder Den Haag bis Rom oder Madrid - mit einer gemeinsamen Währung bezahlen können. Ein völlig neues Gefühl europäischen Miteinanders entsteht. Das ist das Ergebnis des zähen Ringens um den Bau des Hauses Europa.

 

Die Einigung Europas - das sage ich vor allem den Studentinnen und Studenten hier - wird auch in der Beziehung zu den Vereinigten Staaten neue Chancen und Perspektiven eröffnen. Denn ein Europa, das politisch und wirtschaftlich noch enger zusammenwächst, wird auch für Sie hier in Amerika ein besonders attraktiver und wertvoller Partner sein. Ich bin ganz sicher, daß auch die kulturelle Dimension dieser transatlantischen Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten eine neue und größere Bedeutung gewinnt. Ich wünsche mir, daß alle diesseits und jenseits des Atlantiks den Satz begreifen: Europa braucht Amerika, und Amerika braucht Europa.

 

Meine Damen und Herren, der Traum von einer freien, friedlichen und gerechten Welt wird sich erfüllen, wenn wir alle in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, ihn zu vollenden. Es ist ein Traum, der sich in besonderer Weise mit den Idealen der amerikanischen Nation verbindet. Amerika hat sich in der Welt stets unbeirrt für jene Werte eingesetzt, die Ihr eigenes Land großgemacht haben: Wille zur Freiheit, Pioniergeist, Mut, Selbstvertrauen und Hilfsbereitschaft für andere. Das amerikanische Volk kann stolz sein auf die Beiträge, die es in diesem Jahrhundert zur Verbreitung demokratischer Ideale in der Welt geleistet hat.

 

Ich möchte diese Stunde nutzen, um ein persönliches Wort an Sie, die Studentinnen und Studenten, zu richten. Als jemand, der als Kind und Schüler und später als Student den Zusammenbruch seines eigenen Landes erlebt hat, bitte ich Sie: Arbeiten Sie mit an dem Ziel, eine Welt zu gestalten, in der mehr Freiheit herrscht, in der der Frieden sicherer ist und Terrorismus keine Chance hat - eine Welt, in der die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen geschont und geschützt werden, unsere Schöpfung erhalten wird und in der wir unsere schöpferischen Kräfte dafür einsetzen, Hunger, Krankheit und Elend zu bekämpfen. Sie, die Sie hier sitzen, gehören zu jener Generation, die schon bald in der Verantwortung stehen wird. Sie werden diesen Weg nicht allein gehen können. Sie brauchen Partner und Freunde - hier im eigenen Land und jenseits des Atlantiks in Europa.

 

Ich bitte Sie, mehr dafür zu tun, daß junge Europäer und junge Amerikaner einander besser kennenlernen. Über die Schwelle der Generationen hinweg gilt die Erkenntnis: Freiheit verpflichtet. Für Sie, die Absolventen einer so hervorragenden Hochschule wie der Brandeis-Universität gilt zudem: Bildung verpflichtet. Hier studiert zu haben, liebe Studentinnen und Studenten, ist ein Privileg. Doch ein solches Privileg bedeutet auch, Verantwortung, Talent, Können und Wissen in den Dienst des Mitmenschen zu stellen.

 

Liebe Studentinnen und Studenten, die Erkenntnis dieser Stunde ist sehr einfach: Sie haben eine Chance wie kaum eine andere Generation vor Ihnen - die Chance auf ein ganzes Leben in Frieden und Freiheit.

 

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verbrieft als unveräußerliches Menschenrecht das Streben nach Glück. Sie haben allen Grund zu der Zuversicht, dieses Glück in Ihrem eigenen Leben zu verwirklichen - für sich selbst und für Ihre Mitmenschen. Dazu wünsche ich Ihnen Gottes Segen!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 46. 25. Juni 1998.