25. April 1997

Rede anlässlich des 8. Sinclair-Haus-Gesprächs der Herbert Quandt-Stiftung in Bad Homburg

 

Sehr verehrte Frau Quandt,
sehr geehrter Herr Schweickart,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

ich bin vor allem aus zwei Gründen gerne zu Ihnen gekommen: Erstens sind die Sinclair-Haus-Gespräche ein hochkarätiges Forum der gesellschaftspolitischen Diskussion in unserem Land. Zweitens gibt uns die heutige Veranstaltung Gelegenheit, gemeinsam eines der zentralen Themen unserer Zeit - die Zukunft des geeinten Europa - ausführlich zu diskutieren. Hierzu möchte ich als Einführung einige Gedanken vortragen. Vor allem aber kommt es mir auf das anschließende Gespräch mit Ihnen an. Ich lade Sie herzlich ein, dabei alle Sie interessierenden Fragen - auch zur deutschen Innenpolitik - anzusprechen.

 

Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft steht an der Schwelle zum 21. Jahrhundert - insbesondere auch durch die zunehmende Globalisierung vieler Lebensbereiche - vor großen Herausforderungen. Diese Entwicklung müssen wir uns immer wieder bewußt machen - und wir müssen begreifen, daß wir nicht einfach weitermachen können wie bisher. Durch bloßes Festhalten an überkommenen Besitzständen können wir die Zukunft nicht gewinnen. Es gilt, den Wandel verantwortungsbewußt zu gestalten - und dabei zu bewahren, was sich bewährt hat und zu verändern, was der veränderten Zeit nicht mehr entspricht. Nur so werden wir unseren Wohlstand und den sozialen Frieden in unserem Land auf Dauer sichern können. Nur so können wir die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen und vielen arbeitsuchenden Menschen, vielen Familien eine neue Perspektive geben.

 

Mancher tut sich mit dieser Erkenntnis schwer - vor allem auch mit den Konsequenzen, die wir daraus ziehen müssen. Veränderung ist nicht bequem, sie birgt manche Risiken - aber sie ist auch unsere große Zukunftschance. Dies gilt zum Beispiel für die Fragen nach der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, nach den Arbeitsplätzen von morgen: Im Zeichen wachsender Konkurrenz, globalisierter Märkte sowie neuer Technologien brauchen wir eine große gemeinsame Reformanstrengung in unserem Land.

 

Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich mit einem Bild sagen: Auf dem Weg hierher habe ich in der Zeitung unter anderem auch die neuesten Sportberichte studiert. In der Tabelle der Zweiten Bundesliga habe ich mir angesehen, auf welchem Platz die Frankfurter Eintracht - diese Traditionsmannschaft des deutschen Fußballs - jetzt gerade steht. Das Beispiel der Eintracht, der ich für die Zukunft viel Erfolg wünsche, zeigt, wie schwer es mitunter ist, sich wieder nach oben zu arbeiten, wenn man einmal abgestiegen ist. Das ist mühsam und dauert oft Jahre. Dies gilt nicht nur im Fußball, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

 

Deutschland zählt in der Weltwirtschaftsliga zur Spitzengruppe. Wir können den Wohlstand, der uns aus der harten Arbeit der Gründergeneration erwachsen ist, aber nur dann bewahren und weitergeben, wenn wir uns bewußt und gezielt fit machen für die Zukunft. Dann bleiben wir erstklassig. In einem Land, in dem weit über vier Millionen Menschen arbeitslos sind, ist das nicht nur eine bloße Frage der Ökonomie, sondern auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität mit den Arbeitsplatzsuchenden.

 

Wenn wir über die Herausforderungen der Zukunft sprechen, ist es wichtig, daß die objektiven Daten auch von allen zur Kenntnis genommen werden. Wir erleben seit einigen Jahren in Deutschland demographische Veränderungen von großer Tragweite: Deutschland ist neben Italien das Land mit der niedrigsten Geburtenrate in der Europäischen Union. Die Lebenserwartung steigt in unserem Land deutlich an. Und viele Menschen entscheiden sich gegen Ehe und Familie, sie leben als Singles. Manchmal - hier ganz in der Nähe, in Frankfurt - sind es über 50 Prozent bestimmter Jahrgänge. All dies hat enorme Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung in unserem Land.

 

Damit steigen auch die Anforderungen an die Gesundheitsfürsorge und -vorsorge. Ein weiteres Problem stellt sich mit den langen Ausbildungszeiten in unserem Land. So haben unsere jungen deutschen Akademiker im Schnitt fünf Jahre länger an den Hochschulen verbracht als ihre gleichaltrigen Kollegen in der Europäischen Union und sind entsprechend älter, wenn sie auf den Arbeitsmarkt kommen. Das kann nicht so bleiben.

 

Wir müssen vieles in unserem Land anpassen und verändern. Aber Veränderung läßt sich nicht erzwingen. Die Menschen müssen sie wollen. Wir können jahrelang für Veränderung eintreten - sie wird nicht zustande kommen, wenn eine Mehrheit in unserem Land nicht dazu bereit ist. Diese grundsätzliche Bereitschaft ist - bei aller Kritik an diesem oder jenem Reformvorhaben - heute vorhanden. Umfrageergebnisse zeigen, daß die große Mehrheit der Befragten für Veränderungen plädiert. Fragt man allerdings nach konkreten Maßnahmen, dann ist es mitunter ganz rasch wieder vorbei mit der Mehrheit. Das ist auch eine Realität, mit der die Politik leben muß.

 

Gleichwohl müssen wir den Weg struktureller Reformen weitergehen - Schritt für Schritt und gegen alle Widerstände. Veränderung ist nicht bequem, sie birgt manche Risiken - aber sie ist auch unsere große Zukunftschance. Dies gilt für die Fragen nach der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, nach den Arbeitsplätzen von morgen. Es gilt aber auch für Fragen, die das langfristige politische Miteinander betreffen - in Europa und überall auf der Welt. Wir werden die großen Aufgaben unserer Zeit - vor allem die Sicherung von Frieden und Freiheit, den Kampf gegen Hunger und Not in der Dritten Welt, die Bewahrung der Schöpfung oder die Bekämpfung der internationalen Kriminalität und des Terrorismus - nur mit vereinten Kräften bewältigen können. Für uns Europäer bedeutet dies vor allem, das europäische Einigungswerk mit Entschlossenheit fortzusetzen.

 

Wir müssen heute - und nicht irgendwann später - den Bau des Hauses Europa fortsetzen. Es ist auch deswegen wichtig, jetzt zu handeln, weil ein erheblicher Teil der heutigen Entscheidungsträger noch persönlich erfahren hat, was Nationalismus und Gewalt vor über 50 Jahren in Europa angerichtet haben. Diese Erfahrungen sind prägend, und sie können Menschen verbinden. Meine Freundschaft mit François Mitterrand ist auch daraus gewachsen, daß wir beide - er als Erwachsener, ich als Kind und Jugendlicher - den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben.

 

Heute sind in Europa und in Deutschland etwa zwei Drittel der Bevölkerung nach der Zeit Hitlers und des Zweiten Weltkrieges geboren und aufgewachsen. Ihre Lebenserfahrungen sind natürlich ganz andere, als die, die unsere Generation geprägt haben - die ich auch in meinen Reden immer wieder beschreibe. So brauchte ich als 17jähriger beispielsweise noch einen Passport der Besatzungsmächte, wenn ich von Ludwigshafen in der französischen Besatzungszone nach Mannheim in die amerikanische Besatzungszone gehen wollte. Ein heute 18jähriger kann in seinem Sommerurlaub - vorausgesetzt das Reisebudget läßt dies zu - theoretisch überall hinfahren.

 

Die jungen Menschen können heute unter völlig anderen Bedingungen leben als wir damals - vor allem in Frieden. Darüber bin ich froh und dankbar. Ich halte es für eine der größten Leistungen der Gründergeneration, daß sie dies möglich gemacht haben. Man kann das gar nicht oft genug hervorheben. Vielleicht sollten und könnten diejenigen, die diesen Wandel einst miterlebt haben, den jungen Leuten häufiger vermitteln, was sich damit verbindet.

 

Meine Damen und Herren, das Jahr 1997 wird in vielerlei Hinsicht ein Schlüsseljahr für Europa sein. Es gilt, gut sieben Jahre nach den revolutionären Veränderungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa und drei Jahre vor der Jahrtausendwende Herausforderungen und Gestaltungsaufgaben zu meistern, die das künftige Gesicht unseres Kontinents entscheidend prägen werden. Nach den fundamentalen Veränderungen von 1989/90 geht es jetzt darum, eine politische und wirtschaftliche Ordnung für unseren Kontinent zu erarbeiten, die uns allen auf Dauer Frieden, Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherheit garantieren kann.

 

Ich bleibe dabei: Unser Erfolg oder Mißerfolg beim Bau des Hauses Europa wird entscheidend dafür sein, ob unserem Kontinent der Frieden auf Dauer erhalten bleibt. Man hat mir absurderweise vorgeworfen, ich würde mit dieser Aussage das Schreckgespenst eines bevorstehenden Krieges an die Wand malen. Das Gegenteil ist richtig. Ich glaube an ein Haus Europa, das Platz hat für alle Völker Europas, die darin wohnen wollen - ein Haus mit einer festen Hausordnung, die festlegt, daß Streitigkeiten immer nur friedlich ausgetragen werden und nie mehr gewaltsam. Daß die Gefahr gewalttätiger Konflikte noch nicht auf Dauer gebannt ist, sehen wir gar nicht weit von hier - eine gute Flugstunde entfernt - im früheren Jugoslawien. Wer hätte vor sieben Jahren an einen Krieg mitten in Europa geglaubt?

 

Es geht jetzt darum, den Prozeß der europäischen Einigung unumkehrbar zu machen. Es geht auch darum, daß wir definieren, wie das Europa der Zukunft aussehen soll. Es soll ein Europa sein, in dem wir unsere Identität als Deutsche bewahren, ebenso wie die anderen Nationen ihre Identität bewahren - ein Europa der Einheit in Vielfalt. Wir haben in der Vergangenheit lange darüber diskutiert, ob wir dieses Europa als einen Bundesstaat oder einen Staatenbund bauen wollen.

 

Ich habe dabei früher - in Anlehnung an Churchills berühmte Rede in Zürich - von den Vereinigten Staaten von Europa gesprochen. Diese Bezeichnung, das sage ich ganz offen, war irreführend. Sie hat bei Teilen der Öffentlichkeit die Vorstellung hervorgerufen, wir wollten so etwas wie die Vereinigten Staaten von Amerika auf europäischem Boden schaffen. Genau dies wollen wir nicht. Aber wir müssen gleichwohl das vereinte Europa schaffen - wirtschaftlich und monetär, politisch und kulturell. Ich bin Vacláv Havel sehr dankbar für seine kluge Rede gestern vor dem Deutschen Bundestag. Der Begriff der "Heimat", den er darin so trefflich beschrieben hat, ist ein Grundpfeiler des vereinten Europa; Heimat, Vaterland, Europa - das ist der Dreiklang der Zukunft.

 

Die Bundesregierung ist fest entschlossen, alles zu tun, um den Einigungsprozeß voranzutreiben. Als ich 1982 Bundeskanzler wurde, machte das schlimme Wort von der "Eurosklerose" die Runde. Wir haben seitdem Jahr für Jahr zu hören bekommen, warum dieses oder jenes Vorhaben garantiert nicht verwirklicht werden könne. Als es um die Einheitliche Europäische Akte ging, da hieß es: Die kommt nie zustande! Genauso pessimistisch war man beim Gemeinsamen Binnenmarkt oder dem Vertrag von Maastricht. In Wahrheit sind wir doch beachtlich vorangekommen. Zu den Fortschritten zählt ebenso die Erweiterung der Gemeinschaft - zuletzt um Österreich, Schweden und Finnland.

 

Wir wollen ein stabiles Europa bauen, das allen Stürmen standhalten kann und in dem sich die Menschen geborgen fühlen. Um dies zu erreichen, brauchen wir vor allem den Willen zum gemeinsamen Handeln - und Institutionen, die handlungsfähig sind. Genau dies ist auch das Ziel der jetzt laufenden Regierungskonferenz zur Überprüfung und Fortentwicklung des Maastrichter Vertrages. Dabei wollen wir zu einer substantiellen Weiterentwicklung des europäischen Einigungswerks kommen. Damit schaffen wir auch die politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Voraussetzungen für die Erweiterung der Union um neue Mitglieder.

 

Die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft waren ursprünglich für sechs Mitglieder konzipiert. Heute umfaßt die Europäische Union fünfzehn Mitgliedstaaten, bald werden es vielleicht achtzehn oder zwanzig und mehr sein. Es kann daher kein Zweifel bestehen, daß die Entscheidungsmechanismen angepaßt werden müssen, um auch für die Zukunft die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu erhalten.

 

Ich füge aber gleich hinzu: Diejenigen, die von der Konferenz in Amsterdam bereits eine endgültige, umfassende Lösung erwarten, werden enttäuscht sein. Ich habe mir Ärger eingehandelt, als ich vor einem Jahr gesagt habe, der fortentwickelte sogenannte "Maastricht-II-Vertrag" werde möglicherweise in einigen Jahren neue Vertragsänderungen - einen "Maastricht-III-Vertrag" - nach sich ziehen. Ich bleibe dabei, denn es liegt in der Natur der Sache: Ein so gewaltiges Werk kann nicht mit allen Details auf einmal durchgesetzt werden. So bin ich beispielsweise sicher, daß wir über die endgültige Gestalt der Kommission nur eine vorläufige Entscheidung treffen werden. Aber ich bin ebenso sicher, daß wir in Amsterdam Regelungen finden werden, die vernünftig sind und die uns vielleicht in fünf Jahren die Chance geben, auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen etwas viel Dauerhafteres zu schaffen.

 

Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, daß wir zusammen mit unseren Partnern und Freunden die Regierungskonferenz am 16./17. Juni in Amsterdam zu einem guten Abschluß bringen werden. Ich nenne nur wenige Eckpunkte: Erstens wollen und brauchen wir effiziente gemeinsame Mechanismen und Politiken im Bereich der Innen- und Rechtspolitik. Dieses Vorhaben ist wichtig und dringlich. Machen Sie sich aber bitte einmal klar, was es heißt, dies in der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland auch durchzusetzen. Das ist ein langwieriges und mühsames Geschäft. Aber wir müssen handeln. Internationale Mafia und internationaler Terrorismus warten nicht, bis wir alle Zuständigkeitsfragen geklärt haben. Wir erleben schon heute kriminelle Aktivitäten von bisher nicht gekannter Intensität.

 

Die effiziente Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus in Europa durch die Schaffung von EUROPOL ist überfällig. Wir können im engen Raum Europa das Unwesen krimineller Banden nur stoppen und nachdrücklich bekämpfen, wenn wir Polizeieinheiten schaffen, die auch juristisch legitimiert europaweit handeln können. Es wäre fatal, wenn die Bürger in Europa den Eindruck gewännen, daß ein vereintes Europa mit seinen offenen Grenzen ein Mehr an Bedrohung und Unsicherheit bedeutet.

 

Es geht zweitens um eine Weiterentwicklung und Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir haben ja gerade am Beispiel des früheren Jugoslawien gesehen, wieviel Nachholbedarf wir Europäer auf diesem Gebiet noch haben. Ich sage das ohne jeden Vorwurf. Als der Krieg in Jugoslawien begann, standen wir damals vor einer völlig neuen Situation. Letztlich hat es dann keine überzeugende europäische Antwort auf diese Herausforderung gegeben.

 

Auch im Bereich der Handelspolitik besteht die Notwendigkeit, daß Europa künftig mit einer Stimme spricht. Das ist übrigens keine Absage an die transatlantische Partnerschaft - im Gegenteil. Wenn wir als Europäer nicht in der Lage sind, unsere Interessen zu vertreten, können wir auch kein guter Handels- und Verhandlungspartner sein.

 

Es geht drittens um eine stärkere demokratische Verankerung der europäischen Institutionen, nicht zuletzt um die Frage der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament. Bei uns in Deutschland stellt sich zusätzlich die Frage der Zusammenarbeit mit den Länderparlamenten. Es geht hierbei auch um die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Ich halte dies für eine der wichtigsten Fragen überhaupt. An ihr wird sich zeigen, ob wir fähig sind, den Bau des Hauses Europa effizient, bürgernah und transparent zu gestalten.

 

Aus meiner Sicht ist es bedauerlich, daß es nicht gelungen ist, auch die kommunale Ebene in den Maastricht-Vertrag einzubauen. Ich bleibe dabei, daß die Kommunen in Europa eine sehr viel stärkere Entscheidungskompetenz haben müßten. Es gibt eine Vielzahl von Bereichen, in denen es schlicht und einfach töricht wäre, Reglementierungen auf europäischer Ebene einzufordern. Dieser Standpunkt hat übrigens nichts mit einer gelegentlich unterstellten Renationalisierung der Europapolitik zu tun. Es kommt darauf an, daß wir ein vernünftiges Gleichgewicht aller Entscheidungsebenen erreichen. Ich denke, wenn wir uns die bunte Vielfalt Europas, seine Traditionen und kulturellen Prägungen erhalten wollen, geht das nur, wenn wir das Subsidiaritätsprinzip ernst nehmen.

 

Meine Damen und Herren, eines der Schlüsselprojekte auf dem Weg zum geeinten Europa ist die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion. Sie ist, und darüber sind sich alle Fachleute einig, die logische und notwendige Folge des europäischen Binnenmarktes mit mehr als 370 Millionen Menschen. Erst mit der einheitlichen Währung wird der Binnenmarkt seine positiven Wirkungen für Wachstum und Arbeitsmarkt voll entfalten können. Die Vollendung der Europäischen Währungsunion wird den Standort Europa im zunehmenden internationalen Wettbewerb zusätzlich stärken. Unsere Wettbewerbsposition gegenüber Konkurrenten aus Dollar- und Yen-Währungsräumen wird nachhaltig verbessert.

 

Für mich ist es von entscheidender Bedeutung, daß wir den Zeitplan für die gemeinsame europäische Währung einhalten. Es gibt historische Chancen, die - sind sie einmal verspielt - nicht so schnell wiederkehren. Die Währungsunion muß pünktlich am 1. Januar 1999 beginnen. Ich halte überhaupt nichts von lähmenden Diskussionen darüber, ob wir Deutschen die Stabilitätskriterien erreichen und wer in Europa an der Währungsunion teilnimmt. Statt zu spekulieren, ob wir das Ziel erreichen, sollten wir lieber dafür arbeiten, daß wir es erreichen.

 

Ich sage auch: Wir müssen auf dem Weg in die Wirtschafts- und Währungsunion unsere Hausaufgaben noch machen. Gerade wir Deutschen werden uns dabei nicht nur an unseren Worten, sondern vor allem an unseren Taten messen lassen müssen. Das sage ich vor allem an die Adresse all jener, die in den vergangenen Jahren meinten und auch jetzt noch meinen, unseren Partnern in der Europäischen Union Ratschläge erteilen zu müssen. Ich habe diese Einstellung nie verstanden.

 

Meine Damen und Herren, die D-Mark ist für die Deutschen ja nicht nur irgendeine Währung. Millionen Deutsche haben in diesem Jahrhundert zweimal den Verfall ihrer Währung erlebt und alle Ersparnisse verloren. Millionen Deutsche haben ebenfalls erlebt, daß monetäre Stabilität und politische Stabilität eng miteinander verbunden sind.

 

Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, ist ein gutes Beispiel: Er war patriotisch und damals auch kaisertreu. Er hatte keine großen Ersparnisse, aber einiges Vermögen, das seine Frau mit in die Ehe gebracht hat. Das haben sie dem Kaiser als Kriegsanleihe gegeben, weil sie natürlich ganz sicher waren, daß der Kaiser die Kriegsanleihe wieder zurückzahlen würde. Wir wissen, was statt dessen passierte. So wie meinem Großvater ging es damals Millionen Menschen in Deutschland.

 

In der Weimarer Republik gab es wirtschaftlich nur zwei, drei gute Jahre, dann kam die große Inflation. Die Entstehung der Hitler-Diktatur hat viele Gründe, deren Summe zum dunkelsten Kapitel unserer Geschichte führte. Aber einer der Gründe war zweifellos die Zerstörung weiter Teile der wirtschaftlichen und finanziellen Substanz des Mittelstandes durch Inflation und Folgen des Ersten Weltkrieges.

 

Und nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Folgen des Zusammenbruchs der Währung vielen Deutschen nur deshalb nicht sofort vor Augen, weil diese Erfahrung von anderen überlagert wurde: das unermeßliche Leid, die vielen Opfer, die Vertreibung von weit über zehn Millionen Menschen in unserem Land, die Zerstörung der Fabriken, der Häuser. Es war die Stunde Null. Die Zahl der Selbstmorde war beispielsweise nie so hoch in der deutschen Geschichte wie 1947. In dieser schweren Zeit ist kurze Zeit später die D-Mark entstanden.

 

Wenn Sie die Berichte der Finanz- und Wirtschaftsexperten von damals nachlesen, dann finden Sie mitunter die seltsamsten Erwartungen und Einschätzungen im Blick auf die neue Währung. Sie wurde als "Besatzungskind" und vieles andere mehr verunglimpft. 1949 war für uns Deutsche die Vorstellung, im Ausland mit der noch ungewohnten D-Mark zu bezahlen, noch sehr fremd. Heute bekomme ich statt dessen gelegentlich Briefe von Deutschen, die sich darüber beschweren, daß sie auf ihren Urlaubsreisen in weit entfernten Ländern nicht mit unserer Währung bezahlen können. So ändern sich die Zeiten.

 

Die D-Mark ist ein Symbol für die Deutschen geworden. Sie war schon vor der Gründung der Bundesrepublik da, vor der Einführung unserer Nationalhymne und der Bundesflagge. Die Kenntnis dieser geschichtlichen Zusammenhänge ist der Schlüssel zum Verständnis dafür, daß wir Deutschen so sehr auf einer stabilen Währung bestehen. Ich nutze jede Gelegenheit, um bei unseren Nachbarn in Europa für diese Sichtweise zu werben. Aus all diesen Gründen ist es ganz wichtig, daß auch der Euro eine harte solide Währung wird. Dies ist auch das Ziel des Stabilitätspaktes. Er sichert die notwendige Haushaltsdisziplin auch nach dem Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion.

 

Auf dem Weg dorthin geht es aber nicht nur um den Euro. Es geht vor allem darum, den Standort Deutschland fit zu machen für das 21. Jahrhundert. Das ist eben nicht allein eine Frage der Stabilitätskriterien, sondern unabhängig davon zwingend notwendig für mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze bei uns. Im übrigen hat die Vorbereitung auf den Euro eine bemerkenswerte Entwicklung ausgelöst. Schon bevor der Euro überhaupt existiert, hat er das stabilitätspolitische Klima in Europa außerordentlich positiv beeinflußt. Allein die Diskussion über die Ausgestaltung der Europäischen Zentralbank, die nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank unabhängig sein wird, hat zu erheblichem Umdenken in vielen europäischen Ländern geführt. Der beachtliche europaweite Rückgang bei den Preissteigerungsraten und bei den Zinsen ist ein Erfolg, über den wir mehr sprechen sollten! Die Europäische Union ist bereits dabei, zu einer Stabilitätsgemeinschaft zusammenzuwachsen.

 

Es geht zugleich noch um etwas anderes. Der Europäischen Währungsunion kommt eine herausragende ökonomische Bedeutung zu - aber sie ist vor allem auch ein eminent politisches Projekt. Mit dem Euro wird die Europäische Union als Friedens- und Freiheitsordnung für das 21. Jahrhundert noch enger zusammenwachsen. Der Friedensgedanke ist und bleibt das Bewegungsgesetz der europäischen Integration. Gerade angesichts manch kritischer Stimmen zum Prozeß der europäischen Einigung müssen wir uns den Blick für das große Ziel über das Tagesgeschäft hinaus bewahren.

 

Es ist eine geschichtliche Tatsache: Zur Politik der europäischen Integration gibt es keine verantwortbare Alternative. Diese Politik hat - in Verbindung mit der transatlantischen Partnerschaft - entscheidend dazu beigetragen, daß wir in der Mitte Europas heute in der längsten Friedensperiode in der deutschen Geschichte überhaupt leben.

 

Meine Damen und Herren, vor wenigen Wochen haben wir den 40. Jahrestag der Römischen Verträge begangen. Die europäische Integration hat uns die Chance gebracht, als gleichberechtigtes Mitglied der europäischen Staatenfamilie die Einigung unseres Kontinents mitzugestalten. Ein Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte läßt ermessen, welch gewaltige Wegstrecke wir in Europa gemeinsam zurückgelegt haben. Der Wunsch Konrad Adenauers, die Verständigung, ja die Versöhnung mit den Kriegsgegnern von einst zu erreichen, ist in Erfüllung gegangen. Aus Feinden wurden Partner, dann Freunde. Auch Adenauers Hoffnung, durch die feste Einbettung der Bundesrepublik Deutschland in die Gemeinschaft der freien Staaten werde die Wiedervereinigung früher oder später möglich, ist Wirklichkeit geworden. Die Visionäre von einst haben sich als die Realisten von heute erwiesen.

 

Aber wir sind noch nicht am Ende des Weges. Es soll niemand glauben, daß wir nun die Hände in den Schoß legen könnten. Wenn der Schwung zur Fortsetzung des europäischen Einigungswerks erlahmt, dann führt dies nicht nur zum Stillstand, sondern zum Rückschritt!

 

Meine Damen und Herren, das Ausmaß und die Vielschichtigkeit der Aufgaben, die vor uns liegen, mögen für manchen erdrückend erscheinen. Davon dürfen wir uns aber nicht beirren lassen! Das europäische Einigungswerk hat in der Vergangenheit viele Schwierigkeiten und so manchen Rückschlag erlebt. Es ist gleichwohl zu einem beispiellosen Erfolg geworden. Dies zeigt uns, daß wir keinen Grund haben, verzagt zu sein. Wenn wir auch in Zukunft mit Mut, Entschlossenheit und dem richtigen Kompaß beherzt unsere Chancen nutzen, können und werden wir Europa weiter nach vorn bringen.

 

Europa und die Welt zählen auf eine starke Europäische Union. Dies gilt in ganz besonderem Maße für die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa. Für die Menschen in diesen Staaten verbindet sich mit der Europäischen Union Hoffnung und Zukunft. Zu Recht sehen sie im vereinten Europa - gemeinsam mit der Atlantischen Allianz - den Garanten für Frieden, Sicherheit und Wohlstand auf unserem Kontinent. Deswegen müssen wir die Erweiterung der Europäischen Union entschlossen voranbringen. Ungeachtet aller Probleme, die wir in der bestehenden Union haben, wäre es ein Verrat an den Idealen Europas, wenn wir uns dieser Aufgabe versagten.

 

Ich widerspreche deshalb all jenen Stimmen, die sagen, für eine Erweiterung sei die Zeit noch lange nicht reif. Natürlich brauchen wir eine wirkungsvolle, umfassende Reform der Europäischen Union - das, was man unter "Vertiefung" der europäischen Integration versteht. Wir brauchen aber auch die Erweiterung. Nicht von ungefähr ist bereits in der Präambel des Vertrags von Maastricht von einer immer engeren Union "der Völker Europas" die Rede. Wir wollen ein Europa schaffen, in dem alle Europäer ein Zuhause finden können und in dem sie teilhaben an der gelebten Freiheit, der wirtschaftlichen Entwicklung und kulturellen Vielfalt unseres Kontinents.

 

Die Menschen, die jahrzehntelang jenseits des Eisernen Vorhangs leben mußten, haben ihre Selbstbefreiung von der kommunistischen Diktatur stets auch als "Heimkehr nach Europa" verstanden. So hat es zum Beispiel Vacláv Havel bezeichnet, als in seiner Heimat 1989/90 die Fesseln des Kommunismus abgestreift wurden. Wir dürfen die Menschen dort nicht enttäuschen. Es ist unsere Pflicht, unseren Beitrag zu leisten, damit Soziale Marktwirtschaft und Demokratie dort feste Wurzeln schlagen.

 

Eine solche Entwicklung liegt in unserem ureigenen Interesse - für uns Deutsche und für alle Europäer. Für mich wäre es beispielsweise undenkbar, daß die Westgrenze Polens auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union bliebe. Polen muß ganz selbstverständlich Teil des vereinten Europas sein. Gemeinsam mit der Erweiterung und Reform der Atlantischen Allianz ist dies eine der größten Aufgaben der nächsten Jahre. Auf diesem Weg gilt es, realistisch und pragmatisch Schritt für Schritt voranzugehen.

 

"Groß ist das Werden umher", so hat Hölderlin, der ja vor 200 Jahren hier in Bad Homburg im Sinclair-Haus lebte, einmal in einer seiner Elegien geschrieben. Dies Wort könnte für unsere Zeit stehen. Es ist eine Zeit umwälzender Veränderungen, eine Zeit, in der sich vieles bewegt - und eben auch vieles bewegen läßt. Nutzen wir diese Chance mit jener Offenheit, jenem Aufbruchsgeist, die in so vielen Werken Hölderlins zu spüren sind.

 

Brechen wir auf, das europäische Werk zu vollenden - als gemeinsame Heimat für unsere Kinder und die Generationen, die nach ihnen kommen. Ich danke der Herbert-Quandt-Stiftung für die Ausrichtung dieser Veranstaltung und freue mich auf die Diskussion.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 42. 28. Mai 1997.