25. Januar 1996

Ansprache des Präsidenten des B'nai B'rith International, Tommy P. Baer, anlässlich der Verleihung der B'nai B'rith Goldmedaille an Bundeskanzler Kohl in München

 

Vor mehr als dreißig Jahren widersetzte sich Präsident Kennedy einer sowjetischen Blockade und kam nach Berlin, wo er verkündete: "Ich bin ein Berliner".

Dies war einer der bezeichnenden Augenblicke, dieses Jahrhunderts, ein Moment, der den Abgrund des Kalten Krieges symbolisierte und gleichzeitig den Höhepunkt deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit darstellte. In jenem Moment stand jeder, der für Freiheit eintrat, neben Präsident Kennedy. Und gleichgültig, ob man sich am Brandenburger Tor oder auf der Golden Gate Bridge befand, jeder, der an Freiheit glaubte, war gleichermaßen ein Berliner zu nennen.

Obwohl diese Erinnerungen in vielen von uns lebendig geblieben sind, gehören sie dennoch mittlerweile der Geschichte an. Eine neue Ära hat begonnen, eine Ära des Friedens, eine Ära voller neuer Möglichkeiten, aber auch Ängste. Berlin ist vereint und frei. Deutschland ist wieder ein Ganzes; es ist ein blühendes und gedeihendes Land - der industrielle Motor, der ganz Europa ins 21. Jahrhundert führt. Sich heutzutage einen Berliner zu nennen, erfüllt einen mit Nationalstolz. Dennoch gibt es immer noch viele von uns, für die die Aussage "Ich bin ein Berliner" schmerzlich bleibt.

Sehen Sie, so sehr ich auch Präsident Kennedys Mut vor über dreißig Jahren bewundert habe, brauchte ich doch keine internationale Krise, um mich mit dieser Stadt zu identifizieren. Ich selber wurde in Berlin geboren. Mein Vater war Berliner und so auch sein Vater vor ihm.

Seitdem ich Ende 1939 gezwungen war, gemeinsam mit meinen Eltern aus diesem Land zu fliehen, ist der Lebensweg, den ich beschritten habe bis hin zum heutigen Tage lang und schwierig gewesen. Es handelt sich nicht allein um meinen Weg. Es. ist der Weg, den eine ganze Generation von deutschen Juden gegangen ist, die ihr Leben und ihre Liebe diesem Land gegeben hatten und dafür mit Exil, Verfolgung und oftmals Martyrium belohnt wurden.

Heute jedoch, nach fünfzig Jahren, ist dieser Weg zu einem Weg der Versöhnung geworden. Ich stehe hier heute abend im Gedenken an die tragische Geschichte meines Volkes und kann, obgleich ich stolz auf meine amerikanische Staatsbürgerschaft bin, wieder ausrufen: "Ich bin ein Berliner".

Das Deutschland von heute ist nicht mehr das Deutschland von gestern. Sie, verehrter Herr Bundeskanzler, haben einen großen Teil dazu beigetragen. Das heutige Deutschland ist eine Nation, die nach Zusammenarbeit, nicht nach Herrschaft strebt. Deutschland spielt eine bedeutende Rolle innerhalb der Vereinten Nationen, der NATO und der Europäischen Union. Bundeskanzler Kohl hat sich mit Nachdruck dafür eingesetzt, die Narben des Kalten Krieges zu heilen und den ehemaligen Ostblockstaaten politisch, wie auch wirtschaftlich hilfreich zur Seite zu stehen. Er hat versucht, eine Integration des ehemaligen Ostdeutschland so schnell und so reibungslos wie möglich durchzurühren.

Diese Politik der Eingliederung ist nicht immer einfach gewesen. Die Integration neuer Staatsbürger und der Versuch, ihre wirtschaftlichen Probleme zu lösen, hat von Deutschland in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht einen hohen Tribut gefordert.

Während Extremisten eine Zeit wirtschaftlicher und politischer Orientierungslosigkeit oft als Anlaß für die Ausübung von Gewalt genommen haben, hat Ihre Regierung es verstanden, jeglichem Extremismus entschlossen und unerschütterlich gegenüberzutreten, ohne die Prinzipien moderner deutscher Demokratie je aus den Augen zu verlieren. Trotz all dieser neuen und kostspieligen Herausforderungen, ist Deutschland dennoch nicht von seiner geschichtlichen und besonderen Verpflichtung Israel und der jüdischen Gemeinde auf der ganzen Welt gegenüber abgewichen.

Das heutige Deutschland und Israel sind beide dem bitteren Nährboden des Holocaust entwachsen. Es verbindet sie viel mehr als nur die Geschichte. Beide Länder sind liberale Demokratien, die darum bemüht sind, Stabilität und Unruhe im Gleichgewicht zu halten. Beide Länder sind Industrienationen, die am Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt teilnehmen. Aber viel wichtiger und einzigartiger sind ihre beiderseitigen Anstrengungen, "normal" zu werden und ihre Rollen in der Geschichte zu akzeptieren, während sie gleichzeitig einer neuen Zukunft entgegengehen. Im Unterschied zu anderen Ländern sind Deutschland und Israel nicht nur allein als Nationen zu sehen, sie gelten vielmehr als Symbol. Beide leiden unter dem Druck, jene Bürde zu tragen oder abzuschütteln, anders oder normal zu sein. Israel und Deutschland sind sowohl auf ihrer gemeinsamen als auch getrennt geführten Suche nach Normalität fest miteinander verbunden.

Beide Länder haben erst kürzlich entscheidende Schritte in diese Richtung unternommen. Deutschland ist heute wieder ein vereintes Land, das der internationalen Gemeinschaft beigetreten ist, indem es Truppen zur Friedenssicherung ins Ausland entsendet. Israel befreit sich jetzt von einer lebenslangen Besatzung und wird hoffentlich bald in der Lage sein, die Früchte der friedlichen Beziehungen zu seinen Nachbarn ernten zu können.

Es ist ein Vermächtnis an Deutschland und an die Regierung unter Bundeskanzler Kohl, daß die besonderen Beziehungen zwischen Israel, der jüdischen Gemeinde und Deutschland auch weiterhin in wirtschaftlicher und diplomatischer Hinsicht anerkannt werden, trotz der vielfältigen Probleme, denen sie in ihrem eigenen Land gegenüberstehen. Erst vergangene Woche wurde vom Deutschen Bundestag beschlossen, Reparationszahlungen an osteuropäische Juden zu leisten, deren Heimatländer während des Krieges besetzt waren. Viele von ihnen leben mittlerweile in Israel und den Vereinigten Staaten.

Deutschland bleibt Israels wichtigster Handelspartner in Europa und steht im weltweiten Vergleich lediglich an zweiter Stelle hinter den Vereinigten Staaten von Amerika. Israel zählt Deutschland zu seinen zuverlässigsten politischen Verbündeten innerhalb der Vereinten Nationen, der Europäischen Gemeinschaft und anderer internationaler Foren. Ich bin sicher, daß es für Israel einen großen Rückhalt darstellt, sich auf die Unterstützung seines Verbündeten Deutschland verlassen zu können, gerade in einer Zeit, in der es größte Risiken zur Friedenssicherung auf sich nimmt.

Ich bin stolz und dankbar, daß Premierminister Peres die Zeit gefunden hat, trotz seiner zahlreichen Verpflichtungen in Jerusalem, heute hier bei uns sein zu können. Verehrter Herr Premierminister, Ihre Anwesenheit bezeugt Israels Verpflichtung, seine starke Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland zu bewahren. Sie haben ihr Amt zu einer Zeit angetreten, die Mut und Weitsichtigkeit verlangt. Mit beiden Eigenschaften sind sie gleichermaßen gesegnet. Ich bin sicher, daß unter Ihrer Führung Israel in der Tat am Beginn eines neuen Zeitalters steht, einem Zeitalter des Friedens und des Wohlstandes. Es ist eine große Ehre für B'nai B'rith, Ihr Gastgeber sein zu dürfen.

B'näi B'rith verbindet eine historische Beziehung sowohl mit Deutschland wie auch mit Israel. Unsere Gründer waren deutsche Juden in den Vereinigten Staaten von Amerika, die als erste den Vorschlag machten, uns "Bundes Bruder" zu nennen. Während des letzten Jahrhunderts gab es einen Zeitpunkt, als B'nai B'rith mehr Mitglieder in Deutschland als in den Vereinigten Staaten zählte. Zur selben Zeit rief B'nai B'rith die erste Gruppe im Heiligen Land ins Leben, die gleichzeitig Israels erste hebräisch sprechende Organisation war.

Heute dient B'nai B'rith, zusammen mit seinen Mitgliedern in 55 Ländern dieser Erde, als Brücke zwischen Israel und der Diaspora, Deutschland und der jüdischen Gemeinde, Deutschland und Israel. Unser Internationales Zentrum hat erst kürzlich eine Gruppe von Sozialarbeitern aus Ostdeutschland empfangen, die die praktische Umsetzung von Pluralismus und Demokratie in Israel studieren wollten. Darüber hinaus pflegt B'nai B'rith eine enge Beziehung zur Konrad-Adenauer-Stiftung und fördert die guten Beziehungen zwischen deutschen und amerikanischen Juden in ihren jeweiligen Ländern.

In Deutschland wurde B'nai B'rith wieder ins Leben gerufen. Obwohl wir nicht an den Glanz des vergangenen Jahrhunderts anknüpfen konnten, als B'nai B'rith in Deutschland noch unter der Leitung des verehrten Rabbi Leo Baeck stand, ist B'nai B'rith dennoch wieder aktiv geworden und ist vielseitig engagiert. Nichts veranschaulicht diese Tatsache besser als gerade eben das heutige Ereignis.

Goethe hat einmal gesagt, "wo Licht ist, ist auch Schatten". Zweifelsohne dachte er dabei an Deutschland. Für uns Juden ist es ein Land unglaublichen Glanzes und undurchdringlicher Dunkelheit. In seinen Glanzzeiten hat dieses Land Größen wie Buber und Baeck, Mendelssohn und Einstein, Rothschild und Rosenzweig hervorgebracht. Doch dann erlosch das Licht plötzlich und auf grausame Weise.

Vor fünfzig Jahren wurde ein neues Licht entzündet, ein Licht, daß immer strahlender wurde.

Verehrter Herr Bundeskanzler Kohl, Sie haben diese Flamme wohl gehütet und zu ihrem Schein beigetragen. In Ihrem Land werden Sie nicht nur als Staatsoberhaupt, sondern vielmehr als Staatsmann geachtet. Im Ausland wird Ihnen Anerkennung nicht nur als Staatsmann, sondern vielmehr als Erster unter Staatsmännern zuteil. Sie haben Deutschland durch eine zweite Phase nationaler Erneuerung geführt, eine Zeit, in der Mauern fielen und Brüder wieder vereint wurden. Sie haben beispielhaft aufgezeigt, daß Deutschland seine Stärke und Begabung in wohlwollendem Maße anwenden kann, ja anwenden muß. Sie haben bewiesen, daß eine Nation ihre Vergangenheit nicht vergessen muß, um in die Zukunft blicken zu können. Sie haben deutlich gemacht, daß sowohl Israel wie auch die jüdische Gemeinde eine bedeutende Rolle in dieser Zukunft spielen werden. Verehrter Herr Bundeskanzler Kohl, Sie haben eine neue und glänzende Ära in der deutschen Geschichte eingeleitet.

Herr Bundeskanzler, ich bin deshalb stolz darauf und fühle mich geehrt, daß B'nai B'rith International Sie als Empfänger der "B'nai B'rith President's Gold Medal for Humanitarianism" ausgewählt hat.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 10. 2. Februar 1996.