25. Januar 1996

Laudatio des Ministerpräsidenten des Staates Israel, Shimon Peres, anlässlich der Verleihung der "Goldmedaille für humanitäre Verdienste" des B'nai B'rith International an Bundeskanzler Kohl in München

 

Herr Bundeskanzler, liebe Freunde,

die guten Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland befinden sich fast im Bereich des Unmöglichen. Und Wunder geschehen bekanntlich nicht. Man muß sie erschaffen, dafür sorgen, daß sie eintreten. Bundeskanzler Helmut Kohl ist zweifelsohne einer derjenigen, die an diesem Wunder mitgewirkt haben.

Vor einem halben Jahrhundert, nachdem der Kanonendonner in Europa zum Schweigen kam, herrschte in unseren beiden Völkern nur Tohuwabohu und schwärzeste Finsternis über den Abgründen. Ein Meer von Trauer und Zorn trennte Juden und Deutsche. Es schien, als ob ein ewiger Fluch auf uns liege -zwischen uns eine versiegelte Mauer der schwärzesten Finsternis, ewige Nacht trüber Feindseligkeit. Vor unseren Augen türmten sich Berge verbrannter Asche, mit Blut und Tränen getränkt, und der Qualm der Erinnerung deckte und verhüllte alles.

Wie ging das erste Licht über diesem Feld des Schreckens auf? Wie wurde der erste Brückenstein über den Abgrund gelegt?

Von hüben und drüben erklangen zwei erste Stimmen: Stimmen zweier Menschen, die den Mut aufbrachten, sich über das anscheinend Unglaubliche und Unmögliche hinwegzusetzen. Zwei, die es wagten, einen dünnen Faden des sich erneuernden Dialogs zwischen Juden und Deutschen zu spinnen: Konrad Adenauer und David Ben Gurion.

Am Anfang war es ein vorsichtiges Herantasten - verhalten, zögernd - das eine erste, schmale Schneise durch die Mauern der Entfremdung und die noch frische, scharf brennende Erinnerung brach. Diese Schneise wurde zu einer Spur, die Spur zu einem Weg. Aus Worten wurde ein Dialog, aus dem Dialog eine Kooperation. Der Kontakt war aber von Protest begleitet, von Zweifel, von Schmerz.

Anläßlich der heutigen Feier müssen wir zuallererst diejenigen würdigen, die die Bereitung des Weges geschaffen haben, diejenigen, die der Vision den Weg ebneten, die den Mut bewiesen, der Geschichte ihren entschlossenen Willen entgegenzusetzen - nicht die Abgründe zu überdecken, nicht die Berge der Asche zu beseitigen. Sie versuchten, im Gegenteil, sie als ewiges Zeugnis und als Warnung an ihrem Ort zu belassen, aber über sie eine Hängebrücke zu spannen - eine Brücke des Glaubens und des Verständnisses nach den Vorstellungen des Friedens, aber vor allem basierend auf der moralischen Verpflichtung, die aus dem offen liegenden Abgrund erwachsen war.

Das Wagnis, entgegen allen Chancen den jüdischen Staat aus der Asche der Shoah zu errichten, gebar auch den Mut im Herzen des jüdischen Volkes, Wege für einen erneuten Dialog mit dem deutschen Volk zu finden, zu einem Dialog "trotz alledem". Nicht eine Beziehung auf Basis der Vergebung, sondern einen Dialog der Hoffnung. Gute Beziehungen, die auf ihren Schultern die Last der Vergangenheit trugen, mit dem Blick in die Zukunft gerichtet. Kein Sieg des Vergessens über die Erinnerung, sondern ein Sieg der Hoffnung über die Verzweiflung. Ein Sieg des Vertrauens. Der Sieg des Lebens.

Die Verständigung, die zwischen Ben Gurion und Adenauer erwachsen ist, entsprang der Erkenntnis des neuen Deutschlands für die Verantwortung für seine Vergangenheit und seine moralische Verpflichtung für die Sicherheit Israels. Die Bundesrepublik Deutschland, der nach dem Zweiten Weltkrieg die "Gnade der Nationen" zuteil wurde, verstand es unter der weisen Führung Adenauers, sich neu aufzubauen und sich politisch und wirtschaftlich von neuem in die Familie der demokratischen Völker zu integrieren. Allerdings lag die moralische Prüfung Deutschlands in der inneren Einsicht der Verantwortung für die Vergangenheit und die daraus in erster Linie abgeleitete Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk und dem Staate Israel. Das Bestehen dieser Prüfung ist das, was Deutschland von neuem Hoffnung und Vertrauen verliehen hat, eines neuen Kredits.

Ihnen und mir, Herr Bundeskanzler, wurde aufgetragen, diesen Weg fortzusetzen und mit Leben zu erfüllen. Wir schöpfen unsere Inspiration aus diesen zwei großen Persönlichkeiten, den beiden "Alten Männern". Der eine, der das jüdische Volk zu seiner historischen Auferstehung, der andere, der Deutschland auf den Weg zu seiner moralischen Rehabilitierung geführt hat Jeder der beiden hat sein Volk auf seine Weise von den Schrecken des Krieges zu einem neuen Leben geführt.

Die Auferstehung des jüdischen Staates, die Entstehung eines neuen Deutschlands und die Verständigung, die zwischen unseren Völkern, entstanden ist, sind die eindeutige Erwiderung auf Hitler und den Nationalsozialismus. Ein menschliches Aufbäumen setzte ein, um sich mit den schlimmsten Grausamkeiten seit Menschengedenken auseinanderzusetzen.

Die politische Auferstehung des jüdischen Volkes nach der Shoah brachte, es nicht zur Ruhe und zum Frieden. Hundert Jahre Zionismus waren hundert Jahre bitteren Kampfes um die Existenz und die Sicherheit, für die Sammlung der zerstreuten Gemeinden, für die kulturelle Erneuerung und den Aufbau der Nation gewesen. In das Zeitalter des Friedens gelangte Israel mit großer Verspätung und zu einem hohen Preis. Erst kürzlich konnten wir den Nahen Osten an die Sehwelle einer neuen Ära, erfüllt von Hoffnungen und Versprechen, bringen.

Der Bundesrepublik Deutschland hingegen gelang der Wiederanschluß an seine Umgebung viel schneller. Ganz Westeuropa erfuhr die Wohltat des Friedens, und Menschen der Vision und der Tat wie Sie, Herr Bundeskanzler, erfüllten sie mit einem neuen Geist von Partnerschaft und Aufbau. Die Feindseligkeit und der Haß sind nun gewichen und gehören der Vergangenheit an. Und die neue Tagesordnung - wirtschaftlich, kulturell, sozial, wissenschaftlich und technologisch - ersetzt die arrogante militärisch-strategische Tagesordnung. Die menschlichen Siege werden nicht mehr auf den unfruchtbaren Schlachtfeldern gemessen, und Generationen junger Menschen tragen keine Militäruniformen mehr und werden nicht mehr gesandt, um ihr Leben in den Schützengräben zu verlieren. Auch der Rassismus ist keine verbreitete Triebkraft mehr.

Wir blicken auf die entstehende europäische Vereinigung, zu deren Architekten Sie zählen, und sehen vor uns einen Raum des Friedens und der Freundschaft zwischen Völkern und Ländern, deren trennende Grenzen immer weiter verschwimmen. Der Puls der Wirtschaft und der technologische Horizont stecken den Raum ab. Sie bestimmen ihn über die nationalen Trennlinien und Grenzmarkierungen der Landkarten hinweg.

Nicht die Harmonie, sondern die Partnerschaft unter Gleichen, das Gefühl der Gemeinsamkeit und der gegenseitigen Verantwortung, sind von Bedeutung. Das Wesentliche ist die Beseitigung von Argwohn und Haß, das Streben nach menschlichem Wohlstand, Gesundheit, Heim und Ernährung, Ausbildung und Erziehung der jungen Generation zu weiteren Horizonten, Toleranz und Pluralismus. Es kommt darauf an, sich ganz entschieden jeder Art von Diskriminierung entgegenzustellen, sei es wegen der Hautfarbe, der ethnischen Herkunft oder der wirtschaftlichen Situation, die Jugend an das Leben in einem kulturell vielfältigen, bereichernden und befruchtendem Raum zu gewöhnen - der Initiative freien Raum zu geben, der Begabung und der Kreativität, die unerschöpflich im menschlichen Wesen vorhanden sind - das Fremde zu respektieren und das Gemeinsame zu vertiefen.

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Europa durch zwei Weltkriege zerrissen. Blut und Tod zeichneten seine Grenzen. Trümmer und Zerstörung suchten seine Städte heim, und unendliche Massen von Kriegsflüchtlingen irrten in ihm umher. Westeuropa hat daraus die Konsequenzen gezogen. Nun ist die Zeit des Nahen Ostens gekommen, um seine Glorie in Friedenszeiten zurückzuerlangen. Israel ist beharrlich in seinen Bemühungen um den Frieden, wobei das Modell der Europäischen Gemeinschaft als Vorbild dient.

Die Ausrichtung Israels an den westeuropäischen Kultur- und Wirtschaftsraum ist die Folge einer natürlichen Wahl und nicht eines Zwanges. So wird es auch in Friedenszeiten bleiben. Auch während wir mit dem Aufbau eines neuen Nahen Ostens befaßt sind, der seine Inspiration von der Europäischen Union erhält, wird es bei unserem Bemühen bleiben, den nahöstlichen Raum durch wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Bande an den europäischen Raum anzuschließen.

Wir haben mit Ägypten und Jordanien Frieden geschlossen. Wir gaben Land zurück mit der Hoffnung auf einen wahrhaften Frieden. Wir ermöglichten es dem palästinensischen Volk - zum ersten Mal in seiner Geschichte - den Vorteil zu erfahren, über eine territoriale Dimension zu verfügen, administrative Selbstverantwortung auszuüben und demokratische Wahlen abzuhalten. Niemand hat uns dieses Experiment aufgezwungen. Es war eine moralische Entscheidung par excellence. Wir wollen nicht über ein anderes Volk herrschen.

Anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Bundeskanzler Kohl sagte ich vor einigen Monaten in Sde-Boker, am Grab von Ben Gurion, das über die Wüste blickt, daß Helmut Kohl aus dem historischen Vermächtnis von Konrad Adenauer und Willy Brandt seine Schlüsse gezogen habe. Ich sagte über ihn, daß er ein Kanzler der Antworten sei und nicht ein Kanzler der Fragen - Antworten, die aus politischer Weitsicht herrührten, die sich auf moralische Verpflichtungen stützten. Die Hand eines Meisters war erforderlich, um die zwei Teile Deutschlands - West und Ost - wieder zu einer modernen, europäischen Synthese zusammenzufügen - nicht ein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland - ein vereintes, demokratisches Deutschland, dessen Schatten der Vergangenheit die Nachbarn nicht beunruhigen und das europäische Orientierung mit atlantischer Verpflichtung verknüpft. Das Motto "Frieden, Freiheit, Sicherheit für alle" verwandelte sich von einer Vision in konkrete Politik. Die Handschrift von Bundeskanzler Kohl bei der Gestaltung eines prosperierenden Europas war spürbar wie nie zuvor.

Mehr als alles andere, Herr Bundeskanzler Kohl, schätzen wir Ihre Position hinsichtlich der Notwendigkeit, die junge Generation in Ihrem Lande im Sinne der Freiheit und Menschenwürde zu erziehen, im vollen Bewußtsein der moralischen Verantwortung für die historischen Lasten und Lehren. Sich der Vergangenheit bewußt zu stellen, ist eine schwere Aufgabe. Aber gerade die Auseinandersetzung mit der Geschichte und nicht ihre Verleugnung ist das, was in uns Respekt gegenüber dem neuen Deutschland erweckt. Das ist auch die beste Garantie für die Zukunft.

Im Laufe des vergangenen Jahres verfolgten wir alle mit großer Anerkennung die Gedenkfeierlichkeiten in Deutschland, an denen der fünfzigste Jahrestag des Endes von Krieg und Nationalsozialismus begangen wurde, und die Art und Weise, wie sich sämtliche Regierungsorgane, das Erziehungswesen und auch die Medien mit der Geschichte und ihren Lehren auseinandersetzten. Wir haben Ihre beeindruckende Rede in Berlin am 20. Juli 1994, dem Jahrestag des Aufstandes gegen Hitler aufmerksam verfolgt und empfanden Achtung für Ihre Gesetzesinitiative gegen die Leugnung des Holocaust, die im Bundestag verabschiedet wurde, sowie Ihren Wunsch, dieses Gesetz mit in das Gesetzeswerk des vereinten Europas aufzunehmen.

Vor knapp einer Woche, am 19. Januar, faßten der Bundestag und der Bundesrat in einer gemeinsamen feierlichen Sitzung in Ihrem Beisein den Beschluß, den 27. Januar, an dem das Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde, als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus zu bestimmen, der von nun an im schulischen wie im außerschulischen Bereich in Besinnung und Ermahnung gedacht werden wird.

Als einer der als Kind selbst die Schrecken des Krieges miterlebt hat, widmeten Sie sich dem Kampf gegen Nationalismus, Rassismus, Militarismus und Chauvinismus. Ihre Schlußfolgerung war, daß eine europäische Integration, die die Grenzen durchbricht und sie verwischt, der richtige Weg sei, und auf diesem Weg haben Sie Ihr Volk geführt. Mit Nachdruck und Entschlossenheit forderten Sie Ihr Volk sowie die Völker der Europäischen Union auf, mitzuschreiten - mitzuschreiten auf der Reise der Integration, der Harmonisierung und der Kooperation zwischen allen Kulturen und Traditionen des Kontinents.

Ihre innige Beziehung zum jüdischen Volk und zu Israel ist nicht nur eine abstrakte, moralische Einstellung. Auf Ihre Art setzen Sie Ihre Einstellung in Taten um und erfüllen alle Ebenen der bilateralen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern mit vielfältigen Inhalten.

Seitdem die Regierung Israels unter meinem verstorbenen Kameraden und Partner Yitzhak Rabin, seiner eingedenk, den historischen Auftrag auf sich genommen hat, den Weg zu einem allumfassenden Frieden im Nahen Osten zu ebnen, stellte sich Deutschland, das Sie führen, mit Mut und Originalität an unsere Seite. Ihre politische und materielle Unterstützung des Friedensprozesses, die gemeinsamen wirtschaftlichen Projekte und die Mithilfe für die Etablierung der palästinensischen Selbstverwaltung sind ein Ausdruck dafür.

Unter Ihrer Führung genießt Israel die Unterstützung Deutschlands bei der Entwicklung seiner Beziehungen mit der Europäischen Union. Zusätzlich zu Ihrer Hilfe bei der Erlangung eines neuen Abkommens zwischen Israel und der Europäischen Union, das wir unlängst unterzeichnet haben, wirkten Sie unter Ihren Partnern, um uns eine Tür für eine substantielle, grundlegende und weitreichende Beziehung mit dem sich vereinenden Kontinent zu öffnen.

Ihnen ist es zu verdanken, daß am Ende der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union in der Schlußakte des Europäischen Rates von Essen im Dezember 1994 einstimmig beschlossen wurde, Israel einen privilegierten Status gegenüber der Europäischen Union einzuräumen. Ich weiß, Herr Bundeskanzler, daß Sie diesem Beschluß eine sehr weite, visionäre Auslegung geben, und daß Sie um eine enge, institutionalisierte Anbindung Israels an die Europäische Union bemüht sind. Dieser historische Beschluß öffnet für Israel weite Horizonte und verleiht den deutsch-israelischen Beziehungen eine reichere und inhaltsvollere Perspektive.

Herr Bundeskanzler, die Ehrung, die Ihnen heute die B'nai B'ruh Organisation zuteil werden läßt, bringt die Anerkennung meines Volkes in Israel und in der Diaspora für die weise Führung, die Sie bewiesen haben, zum Ausdruck. Dies trifft ebenso auf die moralischen und normativen Herausforderungen zu, die Sie Ihrem Volk gestellt haben, und Ihre historische Leistung bei der Vereinigung Europas in Harmonie und Frieden, auf das pädagogische Vorbild, das Sie der jungen Generation gegeben haben, auf Ihre Bemühungen um die Vertiefung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Staat Israel und auf Ihre massive persönliche Unterstützung unserer Bemühungen, einen wahrhaften Frieden im Nahen Osten zu etablieren und auf die Unterstützung beim Ausbau unserer Beziehungen mit der Europäischen Gemeinschaft.

Das deutsche Volk wird die Erinnerung an seine großen, aber auch seine schrecklichen Momente in sich tragen. Das jüdische Volk wird die Erinnerung der Shoah und den Trost der Erlösung in sich tragen. Wir werden zwei verschiedene Völker bleiben - zwei Völker, die den Beschluß gefaßt haben, ihren Beitrag zur Heilung der Wunden in der Zukunft zu leisten.

Meine Gedanken wandern 24 Stunden zurück. Gestern traf ich Yassir Arafat, um die historische Verständigung zwischen unseren beiden Völkern erneut zu bekräftigen, anläßlich des Übergangs der Palästinenser von der Entscheidung mit der Waffe zur demokratischen Entscheidung durch Wahlzettel.

Heute in München nehme ich an einer Feier teil, in der die Verständigung von neuem bekräftigt wird. München, die Zeugin eines trügerischen Friedens wurde und nun Zeugin wahrer Hoffnung ist.

Ich erinnere mich an unser Treffen am Jordan, dabei waren Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, König Hussein, Yitzhak Rabin seiner eingedenk, und ich. Sie versprachen uns Hilfe bei der Bewässerung unserer Felder, um uns neues Leben zu bringen.

Für die Größe Ihrer Führung, für Ihre Vision, für Ihre tiefe Verpflichtung gegenüber dem Frieden und für die Pflege der guten Beziehungen zwischen unseren Völkern haben Sie sich diese Ehrung und Auszeichnung besonders verdient.

Im Namen des jüdischen Volkes möchte ich Ihnen dafür meine tiefe Anerkennung aussprechen.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 10. 2. Februar 1996.