25. Juli 1998

Ansprache anlässlich der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Oder-Hochwassers in der Ziltendorfer Niederung

 

Liebe Bürgerinnen und Bürger der Ziltendorfer Niederung,
liebe Helferinnen und Helfer,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

dies ist ein wichtiger und guter Tag, an dem wir uns gemeinsam an die bitteren Erfahrungen vor gerade einem Jahr erinnern. Im ökumenischen Gottesdienst und in den Reden sind die Geschehnisse von damals noch einmal deutlich geworden.

 

Die Bilder der Hochwasserkatastrophe stehen jedem von uns heute wieder vor Augen: unvorstellbare Wassermassen, gebrochene Deiche und die halb versunkenen Häuser. Die Bilder, die wir hier in der Ernst-Thälmann-Siedlung sehen können, sprechen für sich. Ich selbst war vor einem Jahr zweimal hier an der Oder und habe mit vielen von Ihnen sprechen können. Die Erinnerungen haben sich mir tief eingeprägt. Es sind Erinnerungen an die Not und Verzweiflung der betroffenen Menschen. Es sind auch Erinnerungen an vorbildlichen Einsatz, an Entschlossenheit, an Mut und eine großartige Hilfsbereitschaft.

 

So denke ich, daß dieser heutige Tag beides ist: Er ist ein Tag des Gedenkens an eine der schlimmsten Naturkatastrophen, die unser Vaterland in diesem Jahrhundert erlebt hat. Das soll dieser Gedenkstein auch für kommende Generationen festhalten. Es geht hier aber auch um die Erinnerung an Menschlichkeit und die Fähigkeit zum Miteinander in einem Ausmaß, das viele bei uns nicht mehr für möglich gehalten haben.

 

Ich bin froh, daß die heutige Feierstunde Gelegenheit bietet, all jenen zu danken, die in der Stunde der Not geholfen haben. Viele Tausende Menschen haben geholfen. Ich nenne die Angehörigen der Feuerwehren und der Polizei. Ich kann das, was Sie, Herr Minister, zu den Freiwilligen Feuerwehren gesagt haben, nur unterstreichen. Ich erinnere auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes, an die Angehörigen des Technischen Hilfswerks und an die vielen anderen Organisationen. Sie alle haben weit mehr getan, als wir erwarten konnten. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Ich nenne hier auch ganz bewußt die gute Zusammenarbeit mit der brandenburgischen Landesregierung, mit ihrem Ministerpräsidenten, mit ihren Regierungsmitgliedern und mit allen in der Verwaltung.

 

Meine Damen und Herren, ich will ein ganz besonders herzliches Wort des Dankes an die Soldaten unserer Bundeswehr sagen. Über 30000 Soldaten von Heer, Luftwaffe und Marine aus allen Teilen unseres Landes waren hier im Einsatz, zeitweise bis zu 15000 Soldaten gleichzeitig. Sie haben ganz Ungewöhnliches geleistet. Wer dabei war und es gesehen hat, weiß zu berichten, daß sie wirklich bis zum Umfallen gearbeitet haben und auch Gefahren in Kauf nahmen. Dabei haben sie übrigens eindrucksvoll die dumme These von der "Null-Bock-Generation" widerlegt.

 

Herr General von Kirchbach, ich will Ihnen auch ganz persönlich danken, denn Sie haben diesen Einsatz geleitet. Es hat mich besonders beeindruckt, wie Sie die Soldaten motiviert haben. Der Einsatz unserer Soldaten war ein Friedensdienst im besten Sinne des Wortes. Er hat einmal mehr gezeigt, daß wir Grund haben, stolz auf unsere Soldaten zu sein, denn diese Bundeswehr ist die Armee unseres Volkes. Sie ist die Armee unserer Söhne, und das wollen wir nie vergessen.

 

Ich erinnere mich noch gut, wie ich damals, vor einem Jahr, spätabends mit Präsident Clinton telefoniert habe. Er hat sich sofort erkundigt, ob wir dieser Hochwasserkatastrophe Herr würden. Und dann sagte er: Wir haben hier bei uns im amerikanischen Fernsehen diese jungen Deutschen, diese Soldaten gesehen. Das sind vorbildliche junge Leute.

 

Meine Damen und Herren, vor einem Jahr haben viele Tausende aus allen Teilen unseres Landes durch ihre Spenden Zeichen der Verbundenheit gesetzt. Die spontane Hilfsbereitschaft, diese gelebte menschliche Anteilnahme hat auch etwas sehr Wichtiges deutlich gemacht: daß die Menschen in Deutschland, im Osten und Westen unseres Vaterlandes, einander viel näher stehen, als manche es wahrhaben wollen.

 

Hier beim Kampf gegen das Hochwasser hat es keine Rolle gespielt, ob jemand aus Brandenburg, aus Bayern, vom Rhein oder aus der norddeutschen Tiefebene kam. Bei dieser Gelegenheit wurde für jedermann sichtbar, was im Bewußtsein der meisten Deutschen fest verwurzelt ist: Wir Deutschen gehören zusammen. Und wir stehen zusammen, wenn es darauf ankommt. Das ist für mich eine Botschaft der Ereignisse hier an der Oder, die in die Zukunft unseres Vaterlandes weist.

 

Meine Damen und Herren, wir sollten die Erfahrungen aus diesen schlimmen Tagen vor einem Jahr nutzen, um gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Der unermüdliche Einsatz von vielen Tausenden und die gelebte Solidarität der Deutschen haben deutlich gemacht, was in einer gemeinsamen Kraftanstrengung erreicht werden kann. Auch deshalb haben wir allen Grund, heute zu feiern.

 

Die Deiche sind repariert, die Straßen sind wiederhergestellt, die Ortschaften wurden aufgeräumt. Überall wird mit ganzer Kraft daran gearbeitet, die verbliebenen Schäden so schnell wie möglich zu beseitigen. Natürlich können wir nicht erwarten, daß nach einem Jahr alles bereits schon wieder in Ordnung gebracht worden ist, was das Hochwasser angerichtet hat. Wir können auch noch überall erkennen, welch schweren Schaden die Natur genommen hat. In den Alleen zum Beispiel wurden zahlreiche Bäume zerstört. Deswegen war es eine großartige Idee, daß wir eben gemeinsam junge Linden gepflanzt haben. Es sind Bäume, die auch für kommende Generationen in einem neuen Jahrhundert ein Zeichen sein sollen dafür, daß auch der Natur geholfen wurde, die Folgen der Hochwasserkatastrophe zu überwinden.

 

Für mich verbindet sich mit der Erinnerung an die Oder-Flut zugleich die Frage: Was können wir jetzt tun, um solche Katastrophen für die Zukunft zu verhindern - zumindest, soweit es menschenmöglich ist? Wir müssen uns die Frage stellen: Wie gehen wir mit der Natur, mit der Schöpfung um? Wie gehen wir mit unseren Flußlandschaften um?

 

Die Erfahrungen, die wir hier gemacht haben, zeigen, daß wir den Flüssen ihren Lebensraum lassen müssen, sonst holen sie sich ihn wieder zurück. Deswegen ist es wichtig, daß wir jetzt nicht nur die Schäden reparieren, sondern uns auch für die Zukunft überlegen, was wir tun können. Wir haben zum Beispiel bereits 1986 im Wasserhaushaltsgesetz festgelegt, daß Überschwemmungsgebiete an Flüssen erhalten bleiben müssen. Gewässerausbau darf nicht zu einer Zerstörung der natürlichen Rückhalteflächen führen, wie sie die Auenlandschaften auch hier an der Oder bieten.

 

Wir haben in den vergangenen Jahren unter anderem durch diese Regelungen sichergestellt, daß die Belange der Umwelt bei Bauvorhaben künftig besser berücksichtigt werden. Es gibt eine weitere Erkenntnis, die wir dabei gewonnen haben: Hochwasserschutz ist nicht mehr allein auf der Ebene der Nationalstaaten zu gewährleisten. Das gilt für den Rhein wie für die Elbe, und natürlich auch für die Oder. Wir müssen aufeinander zugehen und, ungeachtet verschiedener nationalstaatlicher Belange, die Wahrung der Schöpfung an die erste Stelle setzen.

 

Deshalb ist es absolut notwendig, daß die Probleme der Oder-Region und damit auch die Probleme der Ziltendorfer Niederung gemeinsam mit unseren polnischen und tschechischen Nachbarn gelöst werden. Wir haben die entsprechenden Aufgaben bereits verteilt. Ich bestehe darauf, daß wir möglichst bald zu Ergebnissen kommen.

 

Wir müssen dabei auch ein modernes, den Verhältnissen angepaßtes Hochwassermeldesystem aufbauen, das schnelle und zutreffende Prognosen möglich macht. Dies alles sind sehr wichtige Schritte, um in Zukunft solche Katastrophen verhindern zu können. Natürlich kostet das alles viel Geld. Aber die Erfahrung zeigt, daß eine rechtzeitige Vorsorge zwar teuer ist, aber in der Gesamtrechnung immer noch preiswerter ist als die Behebung des Schadens, der ohne Vorsorge entsteht - vom menschlichen Leid der Betroffenen einmal ganz abgesehen. Die Bundesregierung hat dem Land Brandenburg zu diesem Zweck insgesamt 70 Millionen D-Mark zugesagt. Im neuen Haushalt, den die Bundesregierung dem Parlament jetzt für das nächste Jahr vorlegt, sind 41 Millionen D-Mark allein für die Entwicklung des Naturschutzprojekts "Unteres Odertal" vorgesehen.

 

Meine Damen und Herren, diese Beträge sind nur dann gut angelegt, wenn sie in einem vernünftigen Miteinander von Bund, Land und Gemeinde eingesetzt werden. Ich habe vor einem Jahr in einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag gesagt: "Die Menschen in dieser schwer getroffenen Region können sich auf die Bundesregierung verlassen." - Dafür stehe ich auch ganz persönlich ein.

 

Wir Deutsche haben hier in den vergangenen zwölf Monaten gemeinsam viel bewegt. Nehmen wir dies als Beispiel, wie wir im wiedervereinten Deutschland eine gute Zukunft gestalten können. Dieser gemeinsamen Verantwortung entspricht es auch, daß der Aufbau Ost in Deutschland weiterhin Vorrang haben muß. Es ist eine gemeinsame Aufgabe, die wir mit gutem Willen und der Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, in Deutschland und nicht zuletzt mit unseren europäischen Nachbarn lösen wollen.

 

Für mich ist es eine großartige Erfahrung, daß im Miteinander der Menschen aus Ost und West in Deutschland vieles möglich ist und daß unser Land in der Arbeit an gemeinsamen Aufgaben immer enger zusammenwächst. Ich wünsche allen, die hier leben und arbeiten, daß der Wiederaufbau möglichst rasch vollendet wird. Ich wünsche uns allen, und gerade Ihnen hier an der Grenze zwischen Deutschland und Polen, Gottes Segen für eine friedliche Zukunft!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 56. 17. August 1998.