25. März 1997

Erklärung zum 40. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge

 

Heute vor vierzig Jahren wurden in Rom die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Euratom unterzeichnet. Damit wurden Visionen der großen Europäer der Nachkriegszeit, Robert Schuman, Konrad Adenauer oder Alcide de Gasperi, verwirklicht. Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge, die auf der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl aufbauen konnten, wurden die Lehren aus der leidvollen Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezogen.

An die Stelle überkommender Machtpolitik trat das Konzept von Zusammenarbeit und Integration. Dies war, wie der damalige Staatssekretär und spätere Präsident der EWG-Kommission Walter Hallstein in seiner Erklärung vor dem Deutschen Bundestag am 21. März 1957 zu Recht ausführte, für Europa "wahrscheinlich die letzte Chance des Überlebens, die letzte Möglichkeit der Sicherung unseres freiheitlichen Daseins, unseres wirtschaftlichen Gedeihens und unseres sozialen Fortschritts". Für uns Deutsche bedeutete die Gründung der Europäischen Gemeinschaften zugleich die historische Chance, als gleichberechtigtes Mitglied der europäischen Staatenfamilie die Einigung unseres Kontinents mitzugestalten.

Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahre 1957 begann eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend dazu beigetragen hat, Frieden, Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherheit in allen Ländern, die am Einigungsprozeß teilnehmen konnten, zu sichern. Zugleich ist das Konzept der europäischen Integration zu einem Modell und zu einem Anziehungspunkt für alle diejenigen in Europa geworden, denen die Mitwirkung zunächst verwehrt blieb, aber auch für andere Regionen in der Welt.

Das Europa der Römischen Verträge ist zusammen mit der Atlantischen Allianz in den vergangenen vierzig Jahren zu einem entscheidenden Element bei der Sicherung des Friedens und der endgültigen Überwindung der Spaltung unseres Kontinents geworden. Ohne eine konsequente Politik der europäischen Einigung wäre die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit und mit der Zustimmung aller unserer Nachbarn und Partner nicht möglich gewesen. Ohne die Römischen Verträge hätte Europa heute nicht die Chance, im 21. Jahrhundert ein Kontinent des Friedens und der Freiheit zu sein.

Die Politik der von mir geführten Bundesregierung steht fest in der Tradition der europäischen Einigung. Sie stellt sich ihrer Verantwortung für die zielstrebige Fortsetzung des Einigungswerks. Wir müssen Europa auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Deshalb wollen wir die europäische Integration im Rahmen der Regierungskonferenz weiter vertiefen, die Effizienz und demokratische Verankerung der Europäischen Union verbessern und deren Handlungsfähigkeit insbesondere im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie bei der Bekämpfung der internationalen Kriminalität erhöhen. Für mich ist dabei selbstverständlich: Das Europa der Zukunft wird kein zentralistischer Einheitsstaat sein, es wird auf dem Prinzip der Subsidiarität aufbauen, nationale und regionale Traditionen achten und die kulturelle Vielfalt fördern.

Diese starke Europäische Union, die wir wollen, wäre unvollständig ohne eine stabile gemeinsame Währung. Deshalb wollen wir den Euro - und zwar gemäß den bestehenden Vereinbarungen, das heißt bei strikter Einhaltung der Stabilitätskriterien und des Zeitplans des Maastrichter Vertrags.

Die Europäische Union wird auch künftig kein exklusiver Klub sein; sie darf - nicht zuletzt auch im deutschen Interesse - nicht an Oder und Neiße enden! Deshalb wollen wir neben der Vertiefung auch die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten und Südosten: Prag, Krakau und Budapest - um nur einige Städte zu nennen - verkörpern ebenso europäische Kultur und europäischen Charakter wie beispielsweise Rom, Amsterdam, Paris oder Berlin. Ohne die Erweiterung nach Osten und Südosten bliebe die Europäische Union ein Torso. Nicht zuletzt deshalb ist ein erfolgreicher Abschluß der Regierungskonferenz noch im ersten Halbjahr 1997 so wichtig: Wir brauchen eine starke und handlungsfähige Europäische Union, damit wir die ersten Staaten aus Mittel- und Südosteuropa, die dazu in der Lage sind, möglichst bald als neue Mitglieder aufnehmen können.

Zur Politik der europäischen Einigung gibt es keine verantwortbare Alternative. Wer einem Rückfall in Nationalismus, den Gefahren machtpolitischer Rivalitäten und unheilvollen Konflikten vorbeugen will, wer Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand für alle Bürger unseres Kontinents auf Dauer sichern will, der wird für das geeinte Europa eintreten. In diesem Sinne sind uns die Römischen Verträge auch heute unverändert Verpflichtung und Ansporn zu mutigen und wegweisenden Entscheidungen.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 27. 8. April 1997.