25. März 1998

Rede anlässlich des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft auf dem Petersberg bei Bonn

 

Lieber Herr Stihl,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
meine Herren Präsidenten,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

I.

 

heute ist ein ganz besonderer Tag. Ungefähr zu dieser Stunde veröffentlichen das Europäische Währungsinstitut in Frankfurt und die Europäische Kommission in Brüssel ihre Konvergenzberichte. Diese Berichte stehen am Beginn einer Entwicklung, die unser Land und Europa in die Zukunft führen. Morgen wird die Deutsche Bundesbank ihre Stellungnahme zur Konvergenzlage beschließen, um die ich sie gebeten habe. Wir werden beide Berichte ebenso wie die Stellungnahme der Bundesbank sehr sorgfältig im Lichte der vertraglich vorgesehenen Stabilitätsvorgaben prüfen. Bereits heute und morgen befaßt sich das Europäische Parlament mit den Konvergenzberichten. Im Bundeskabinett werden wir am Freitag die Position der Bundesregierung festlegen. Der Bundestag wird dann diskutieren, und danach beschäftigen sich die Ausschüsse des Bundestages und des Bundesrates - teilweise in öffentlichen Anhörungen - mit diesem Thema. Der Bundestag schließt am 23. April und der Bundesrat am 24. April seine Beratungen ab.

 

Parallel dazu läuft die Debatte im Europäischen Parlament. Dort ist die Beschlußfassung am 29. und 30. April. Am 2. Mai wird der Rat auf Ebene der Staats- und Regierungschefs darüber entscheiden, welche Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllen. Bereits einen Tag später werden die Wirtschafts- und Finanzminister schließlich die bilateralen Kurse und ihre Empfehlungen für das Direktorium der Europäischen Zentralbank bekanntgeben. Jeder spürt, daß dies nicht irgendein Kalender ist, der hier abrollt, sondern daß dies die Erfüllung eines Zieles ist, für das viele in Europa - nicht zuletzt mit großer Entschiedenheit die Bundesregierung - gearbeitet haben.

 

Meine Damen und Herren, wir befinden uns in einem wichtigen Zeitabschnitt. Es ist eine Periode, die unser Land, Europa und weit darüber hinaus auch die Welt entscheidend beeinflussen wird. Heute nachmittag werden viele Menschen in Tokio wie an der Wallstreet die Ereignisse in Europa sehr genau beobachten. Um so wichtiger ist es, Ihnen gerade hier und heute zu sagen: Der Euro kommt pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt am 1. Januar 1999. Viele haben dies bezweifelt, aber in der Geschichte hat sich oft erwiesen, daß die sogenannten Visionäre die eigentlichen Realisten sind und die Zauderer und die Bedenkenträger zurückbleiben.

 

Der Euro kommt, und er wird eine stabile Währung sein. Er wird unsere Wirtschaft im schärferen internationalen Wettbewerb stärken und das Klima für Investitionen und Arbeitsplätze in Deutschland und Europa zusätzlich verbessern. Aber er ist ganz gewiß kein Patentrezept zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Ich bin sicher, er ist auch gut für die soziale Sicherheit. Denn je mehr der Euro die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft stärkt, um so mehr festigt er auch die Grundlagen unserer sozialen Sicherheit und damit der sozialen Stabilität.

 

Meine Damen und Herren, die Voraussetzungen für eine stabile europäische Währung waren noch nie so gut wie heute. Die Erfolge gewaltiger Konvergenzanstrengungen in den Mitgliedsländern sind unübersehbar. Die durchschnittliche Preissteigerungsrate in der Europäische Union beträgt derzeit unter eineinhalb Prozent. Wenn Sie dies jemandem vor zehn Jahren gesagt hätten, hätte er Sie schlicht für verrückt erklärt. Beim Abschluß des Maastricht-Vertrages 1991 betrug die Teuerungsrate noch 5,5 Prozent. Die langfristigen Zinsen liegen heute im EU-Durchschnitt bei fünf Prozent, damals waren sie über zehn Prozent. Die Haushaltsdefizite der EU-Mitgliedstaaten haben sich seit 1991 um ein Drittel verringert.

 

Die Botschaft, an der noch viele im November gezweifelt haben, lautet: Deutschland erfüllt die Stabilitätsvorgaben des Maastricht-Vertrages. Vor allem das schwierige Defizitziel von drei Prozent haben wir mit 2,7 Prozent deutlich unterschritten. Dieses positive Ergebnis ist einer konsequenten Reformpolitik und einer strikten Haushaltsdisziplin der Bundesregierung und der sie tragenden Mehrheit im Bundestag zu verdanken. Hinter diesem Erfolg verbirgt sich allerdings ein Maß an Mühe und Ärger, das man sich schwer vorstellen kann. Deswegen nehme ich gerne die Gelegenheit wahr, meinen Kabinettskollegen und besonders dem Kollegen Theo Waigel zu danken. Er hat diesen Dank wirklich verdient.

 

Beim Schuldenstandskriterium lagen wir 1997 mit 61,3 Prozent leicht über dem Referenzwert von 60 Prozent. In Deutschland sollten wir in der Diskussion wenigstens so fair sein wie die Kommission, die in ihrem Bericht deutlich darauf hinweist, daß sich in der Gesamtschuldenquote vor allem die unvermeidbaren finanziellen Belastungen im Zuge der Wiedervereinigung niederschlagen. Viele in Deutschland reden heute nicht mehr darüber, welch ein Regime dort noch vor zehn Jahren herrschte. Die Folgen der Mißwirtschaft des SED-Regimes finden sich natürlich in diesen Belastungen wieder. Ich stehe zu diesen Belastungen, und ich freue mich über sie, denn für mich bleibt die Deutsche Einheit ein Geschenk und dies nicht nur am Nationalfeiertag. Es ist aber ehrlich zu sagen, daß unsere Schuldenquote ohne diese außergewöhnliche Bürde nicht über 60 Prozent, sondern bei rund 45 Prozent läge. Die Zahlen sind eindrucksvoll: Seit 1990 fließen jährlich über 100 Milliarden D-Mark aus dem Bundeshaushalt in die neuen Länder. Seit 1990 hat allein der Bund im Zuge der Wiedervereinigung Erblasten in einer Größenordnung von 350 Milliarden D-Mark übernommen. Zu häufig wird in der Europäischen Union vergessen, daß die Bundesrepublik Deutschland seit 1989 an die Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie an die Nachfolgestaaten der Sowjetunion Leistungen von insgesamt gut 180 Milliarden D-Mark erbracht hat. In unseren Diskussionen in der Europäischen Union, zum Beispiel wenn es um die Unterstützung armer Länder geht, vergessen wir meistens zu erwähnen, daß es auch bedürftige Länder in unserer Nachbarschaft, in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, gibt, für die wir eine besondere Verpflichtung haben. Hilfe für diese Länder ist eine Investition in eine friedliche Zukunft in einem enger zusammenwachsenden Europa.

 

Zur Politik der europäischen Einigung gibt es keine vernünftige und verantwortbare Alternative. Dies haben die großen Persönlichkeiten unseres Jahrhunderts gedacht, und Sie können es lesen in den Briefen von Kriegsteilnehmern und gefallenen Soldaten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Lesen Sie, was in der Zwischenkriegszeit nicht zuletzt in der Weimarer Republik geschrieben, gesagt und gehofft wurde. Namen wie Gustav Stresemann stehen für viele. Überlegen Sie, wie viele in den Gefängnissen und Konzentrationslagern so gedacht haben. Und dann kam die großartige Generation, die nach dem Krieg wieder angefangen hat - ausgehend von Winston Churchill und seiner berühmten Zürcher Rede, über Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Paul Henri Spaak, Robert Schumann und viele andere auch in Deutschland.

 

Was damals gedacht und erhofft wurde, wird jetzt Wirklichkeit. Diese Europäische Einigung, das Haus Europa, ist weit über jede wirtschaftliche Bedeutung hinaus die Garantie für Frieden und Freiheit in Europa. Wir Deutsche hätten die Deutsche Einheit nicht erreicht, wenn nicht alle Bundesregierungen auch meiner Vorgänger - von Adenauer, Erhard, Kiesinger über Brandt und Schmidt - konsequent die Einigung Europas betrieben hätten. Der Satz Konrad Adenauers "Deutsche Einheit und Europäische Einigung sind zwei Seiten der selben Medaille" war eines seiner kühnsten, aber auch der klügsten und weisesten Worte.

 

Was sich jetzt langsam, aber sicher und irreversibel vollendet, ist gerade im wohlverstandenen Interesse der Deutschen. Weitere enorme Veränderungen werden folgen. In den kommenden Jahren stehen wir vor großen Chancen und Herausforderungen, die sich hinter dem Begriff der "Agenda 2000" verbergen. Die damit verbundenen Entscheidungen greifen tief in die gesellschaftliche Struktur unseres Landes ein und zwar nicht nur bei den Landwirten, sondern in allen Bereichen der Gesellschaft. Es geht um die künftige EU-Agrar- und -Strukturpolitik sowie um die Ausgabenplanung für die Jahre 2000 bis 2006. Den Bericht über das Finanzierungssystem wird die Kommission im Herbst unterbreiten.

 

Die anstehenden Diskussion werden nicht einfach werden. Wir werden alle Vorschläge in den nächsten Wochen und Monaten sorgfältig prüfen und mit unseren Partnern in der Europäischen Union eingehend beraten. Natürlich vertreten wir dabei unsere deutschen Interessen. Dafür sind wir schließlich gewählt. Aber deutsche Interessen müssen in das Gesamtinteresse Europas eingebunden sein, weil wir durch die Verwirklichung des Gesamtinteresses Europas die besten Chan-

 

cen für die Zukunft haben werden. Dies ähnelt sehr der Vertretung der Interessen durch Verbände, die nicht nur legitim, sondern auch richtig ist. Aber solche Einzelinteressen verfehlen ihr Ziel und helfen nicht dem eigenen Klientel, wenn sie nicht in das Gesamtinteresse eingebunden sind. Deutschland hat vitale Interessen, nicht nur im Blick auf die Landwirtschaft, sondern beispielsweise auch im Blick auf die Regionalpolitik sowie auf eine faire Lastenteilung bei der EU-Finanzierung. Unser Anliegen ist es vor allem, daß die Europäische Union kein zentralistischer Moloch wird. Es sollte selbstverständlich sein, daß wir nicht nur im Sinne des Begriffs "Identität der Nationen" Deutsche, Briten, Franzosen und Italiener bleiben, sondern daß auch den unterschiedlichen Erfordernissen der einzelnen Regionen Europas durch eine wohlverstandene Umsetzung des Subsidiaritätsprinzipes Rechnung getragen wird.

 

Unsere Aufgabe ist klar: Wir müssen beides in einen vernünftigen Einklang bringen - die Europäische Einigung voranzutreiben und die elementaren deutschen Interessen auch gegenüber unseren Partnern durchzusetzen. Wir brauchen da gar nicht zimperlich zu sein, denn andere sind in der Europäischen Union überhaupt nicht zimperlich. Aber wir müssen auch nicht jeden Tag mit den Muskeln spielen - davon halte ich überhaupt nichts. Im Ergebnis rechne ich mit sehr zähen und schwierigen Verhandlungen. Die Präsidentschaft vom 1. Januar 1999 bis zum 30. Juni 1999 wird die genannten Fragen entscheiden. Nach dem in Europa üblichen festen Fahrplan wird Deutschland diese Präsidentschaft innehaben. Meine Damen und Herren, Sie müssen sich deshalb sehr genau überlegen, wer für Deutschland verhandeln soll.

 

II.

 

Lieber Herr Stihl, Sie haben vom Unternehmer gesprochen. Ich kann alles nur unterstreichen, was Sie gesagt haben. Ich habe noch Zeiten erlebt, in denen manche meinten, man grüße die Unternehmer besser bei Dunkelheit als am Tag. Aber das hat sich ja Gott sei Dank gründlich geändert. Nie zuvor - mit Ausnahme vielleicht der Gründerjahre unserer Republik - war die unternehmerische Persönlichkeit so gefragt wie heute.

 

Im Sinne eines Aufbruchs zu mehr Selbständigkeit und zu mehr Neugründungen ist es einfach notwendig, daß Unternehmerinnen und Unternehmer mehr gesellschaftliche Reputation erhalten. Ich habe aus gegebenem Anlaß in diesen Tagen in den Erinnerungen Ludwig Erhards nachgelesen. Da findet sich ein ganzes Kapitel über den Unternehmer. Was Erhard damals in den fünfziger Jahren sagte, gilt heute mehr denn je. Unternehmerinnen und Unternehmer sind Frauen und Männer, die sich hinstellen, die gegen den Wind stehen, die an sich selbst und ihre Sache glauben und nicht von jedem Wind umgeworfen werden.

 

Ich möchte dies so klar sagen, weil die Sicherung einer guten Zukunft unseres Landes ohne wagemutige Unternehmer nicht möglich ist. Das Thema Selbständigkeit geht weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus. Ein höheres Maß an Selbständigkeit verbunden mit Eigenverantwortung und Wagnisbereitschaft brauchen wir nicht nur in der Wirtschaft, sondern in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Wir brauchen dringend ein Umdenken in unseren Köpfen. Wir müssen von der Mentalität abkehren, die Lösung jedes Problems zunächst beim Nachbarn und dann auf alle Fälle beim Staat zu suchen. Jeder sollte zunächst ein Stück Verantwortung für sich selbst übernehmen, zum Beispiel für seine Altersvorsorge oder für die Gesundheitsvorsorge angesichts der dramatischen Veränderung der Demographie unseres Landes. Die Amerikaner - auch die amerikanischen Unternehmer -, die für eine Zeit in die Politik gehen, sprechen davon, in den "Service" zu gehen, das heißt, einen Dienst zu übernehmen. Wenn wir das Ehrenamt wieder als einen Dienst an der Gesellschaft begreifen - ob in der kirchlichen Gemeinschaft, beim Sport, bei den Parteien, in den Industrie- und Handelskammern oder bei den Verbänden -, dann kommen wir in der Gesellschaft als Ganzes und ökonomisch ein gutes Stück weiter.

 

Lassen Sie mich wiederholen, das freie und dynamische Unternehmertum ist und bleibt das Herzstück der Sozialen Marktwirtschaft. Innovative mittelständische Unternehmen und Existenzgründungen sind der Motor für Wachstum und Beschäftigung. Wir brauchen auf allen Feldern mehr Unternehmer, die auf neue Technologien, Verfahren und Produkte setzen, die neue Arbeitszeitmodelle wie Arbeitszeitkonten und flexible Teilzeit einführen. Wir brauchen Unternehmer, die die Chancen der zunehmenden Globalisierung für mehr Arbeitsplätze in Deutschland nutzen. Ich wiederhole, mehr Selbständigkeit ist vor allem eine Frage des gesellschaftlichen Klimas.

 

Sie haben es schon angesprochen, es geht um eine Kultur der Selbständigkeit. Diese kann man natürlich festigen und fördern, indem wir an unseren Hochschulen mehr Vorlesungen und Lehrstühle zum Thema Existenzgründungen anbieten. Aber bis der Student dorthin kommt, ist er im Regelfall 18, 19 oder 20 Jahre alt. Zuvor ist er in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der er im Regelfall etwas ganz anderes hört. Das fängt an im Elternhaus, in dem ein verständliches, auf Sicherheit bezogenes Denken im Sinne von "meinen Kindern soll es besser gehen" den Aufbruch in die weite Welt nicht gerade fördert. Es setzt sich fort in der Schule und in der Ausbildung. Viele von Ihnen nehmen an Meisterfeiern der IHKs oder des Handwerks teil. Sie sehen die jungen Menschen vor sich, die das Können und den Mut haben, sich selbständig zu machen, die aber häufig von ihrem Umfeld demoralisiert werden. Statt zum Unternehmertum ermuntert zu werden, begegnen sie Skepsis und Zweifeln in ihrem Elternhaus und Freundeskreis. In der Kammer wird einem jungen Meister dann geraten, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen, aber nicht selten mit einem Unterton, der nicht ermutigt, sondern abschreckt. Schließlich wird ihm der Besuch bei einer Bank zeigen, wie schwer es ist, für eine gute Idee und unternehmerischen Wagemut eine Finanzierungszusage zu erhalten.

 

Viele von Ihnen, meine Damen und Herren, haben in Ihrem Leben vor der Entscheidung gestanden: "Übernehme ich den Betrieb der Eltern oder ziehe ich mich zurück?" Allein in den nächsten fünf Jahren werden in Deutschland 300000 Mittelständler, darunter 70000 Handwerker, einen Nachfolger für ihren Betrieb suchen. Zahlreiche Betriebe erwarten bei der Übergabe Probleme, darunter viele, weil in ihrer eigenen Familie kein geeigneter Nachfolger bereitsteht. Nur durch einen Klimawechsel werden wir erreichen, daß künftig eben nicht mehr - wie heute noch - die Hälfte der Hochschulabsolventen in den öffentlichen Dienst strebt. Wir müssen bereits unsere Kinder zu Mut, Offenheit und zum Abenteuer des Lebens erziehen.

 

Wir leben in einer Gesellschaft, in der jener prämiert wird, der sich viel Freizeit leistet und in der jener kaum beachtet wird, der - vielleicht trotz betrieblicher Probleme - viele Lehrstellen geschaffen hat. In einer solchen Gesellschaft ist es höchste Zeit umzudenken. Denn die Freizeitmeister - ich gönne das jedem von Herzen - leisten keinen Beitrag zur Zukunftssicherung.

 

Meine Damen und Herren, die Voraussetzungen für Existenzgründungen haben sich dramatisch verbessert. Ich brauche Ihnen nicht alle Förderprogramme aufzuzählen, die kennen Sie ja. Es ist nicht allein eine Frage des Geldes, sondern eine Frage der inneren Schubkraft. Wenn wir es am Ende dieses Jahrhunderts fertigbringen, in unsere Gesellschaft eine Dynamik hineinzubringen, damit es - in der Modesprache ausgedrückt - "in" wird, sich selbständig zu machen - dann werden eine ganze Reihe von Talenten den Sprung in die Selbständigkeit wagen. Das liegt entscheidend an uns allen.

 

III.

 

Die Welt hat sich tiefgreifend verändert. Die grenzüberschreitenden Direktinvestitionen nehmen dreimal so stark zu wie die Weltproduktion. Es ist eine alarmierende Zahl, daß ausländische Investoren im Zeitraum von 1985 bis 1996 in Großbritannien im Vergleich zu Deutschland fast achtmal mehr investierten. Die Zahlen signalisieren uns eindringlich, daß wir unser Land attraktiver machen müssen für Investoren aus aller Welt. Wir brauchen vor allem in den neuen Ländern Investoren wie Luft zum Atmen. Dort entsteht - in der Mitte von Europa gelegen - eine Traumlandschaft für Investoren, wenn Sie den bevorstehenden EU-Beitritt der Nachbarländer in Mittel-, Ost- und Südosteuropa berücksichtigen.

 

Die Globalisierung eröffnet neue Chancen für mehr Wachstum und Arbeitsplätze gerade für uns Deutsche. Wir sind nach den USA die zweitgrößte Exportnation der Welt, und jeder fünfte Arbeitsplatz - in manchen Bundesländern sogar jeder vierte Arbeitsplatz - hängt von den Ausfuhren ab. Um so entscheidender ist es, daß wir auf die weltweiten Veränderungen rechtzeitig mit den notwendigen Anpassungen reagieren. 1997 haben wir wieder einen neuen Exportrekord erzielt. Die Steigerungsrate lag bei elf Prozent. Zugleich hat Deutschland Weltmarktanteile zurückgewonnen. Doch dies darf nicht unseren Blick verstellen: Wenn wir im internationalen Wettbewerb an der Spitze bleiben und unsere viel zu hohe Arbeitslosigkeit wieder zurückführen wollen, brauchen wir einen enormen Schub. Dabei können wir auf unseren beachtlichen Stärken aufbauen. Wir verfügen über eine Infrastruktur, die im internationalen Vergleich Spitzenklasse ist. Wir haben Arbeitnehmer mit hoher Qualifikation. Unser duales Berufsausbildungssystem ist weltweit anerkannt. Wir haben eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem innovativen Mittel-

 

stand. Gemessen an vielen Ländern der Welt verfügen wir über ein sehr hohes Maß an Rechtssicherheit, obwohl wir in verständlicher Reaktion auf die NS-Zeit manchmal Gefahr laufen, daß sich aus unserem Rechtsstaat ein Rechtsmittelstaat entwickelt. Schließlich haben wir wirtschaftliche Stabilität und ein gutes soziales Klima. Auf all diesen Stärken können wir aufbauen.

 

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren beharrlich - oft gegen erbitterten Widerstand - eine Vielzahl von Reformen durchgesetzt, um den Standort Deutschland im internationalen Wettbewerb weiter zu stärken und fit für die Zukunft zu machen. Die Diskussion dieser Tage amüsiert mich: Man wirft der Regierung vor, es herrsche Stillstand, kündigt gleichzeitig aber an, daß man unsere Reformen zurücknehmen wolle. Ein wenig Logik wäre selbst in der Politik hilfreich: Wo sich nichts bewegt hat, kann man auch nichts rückgängig machen.

 

Die Bundesregierung hat ihr 50-Punkte-Programm vom Frühjahr 1996 in den meisten Elementen durchgesetzt. Wir haben die Bahn- und Postreform durchgeführt. Das sagt sich so leicht, das müssen sie erst einmal machen. Wir haben die Lufthansa und die Telekom privatisiert. Auf der CeBIT konnten Sie den Aufbruch ins Informationszeitalter spüren. Durch die Liberalisierungen seit Anfang dieses Jahres gibt es viele neue Anbieter im Telekommunikationsbereich. Der damit verbundene neue Wettbewerb führt zu sinkenden Telekommunikationskosten. Dies ist gut für die Bürger ebenso wie für die Wirtschaft und damit für die Arbeitsplätze in Deutschland. Anfang März haben wir das Gesetzgebungsverfahren für das neue Energiewirtschaftsrecht erfolgreich abgeschlossen. Diese Öffnung der Märkte für Strom und Gas ist ein überfälliger Beitrag zu wettbewerbsfähigen Energiepreisen in unserem Land.

 

Wir haben den Arbeitsmarkt flexibilisiert und die Arbeitsförderung reformiert. Die Schwelle für den Kündigungsschutz ist angehoben und die Befristung von Arbeitsverträgen erleichtert worden. Die Zumutbarkeitskriterien sind verschärft worden. Damit wurde der Anreiz für Arbeitslose erhöht, ein zumutbares Arbeitsplatzangebot anzunehmen und der Mißbrauch bekämpft. Außerdem haben wir Einstellungszuschüsse für Existenzgründer eingeführt, die Langzeitarbeitslose einstellen. Darüber hinaus wurde mit dem Eingliederungsvertrag für Langzeitarbeitslose eine neue Brücke in die Betriebe gebaut - ohne Risiko für die Unternehmen. Diese Maßnahmen müssen von allen Beteiligten noch viel stärker genutzt werden.

 

Der Name des Manifestes des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft "Petersberger Erklärung" gefällt mir, weil er eine Nähe zum Steuerkonzept der Bundesregierung ausdrückt. In Ihrem Memorandum beklagen Sie sich bei der Politik über die gestiegenen Lohnzusatzkosten. Da gebe ich Ihnen Recht. Aber bitte fügen Sie eine kleine Fußnote an, in der Sie schreiben, daß allein die deutschen Großunternehmen den Vorruhestand enorm in Anspruch genommen haben und daß die Rentenversicherung in 1997 und 1998 dadurch um circa eineinhalb Beitragspunkte belastet wird. Das rundet das Bild ab. Auch die Tarifvereinbarungen hat nicht Bundesminister Norbert Blüm abgeschlossen, der sonst immer gern als Adressat unternehmerischer Kritik dient.

 

Im Zusammenhang mit den Lohnzusatzkosten ist die Neuregelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall besonders wichtig. Sie ist ein Paradebeispiel für die Hysterie, die an manchen Tagen in diesem Land herrscht. Als wir diese Frage diskutierten, konnte man den Eindruck gewinnen, die Republik breche zusammen und der Sozialstaat werde abgeschafft. Als wir die Reform dann durchgesetzt haben, wehten die roten Fahnen am 1. Mai des damaligen Jahres etwas kräftiger im Wind. Durch die Neuregelung und durch entsprechende Regelungen in Tarifverträgen wurden Unternehmen und Arbeitsplätze von Kosten in Höhe von rund 15 Milliarden D-Mark entlastet. Außerdem ist der Krankenstand auf das niedrigste Niveau seit Kriegsende gesunken, wodurch zusätzlich rund neun Milliarden D-Mark eingespart wurden. Leider erhalten weder die Regierung noch der Kanzler Lob für diese "Gesundheitswelle". Die Neuregelung war überfällig und hat uns ein Stück vorangebracht. Eine Rücknahme der Reform entspräche einer Beitragssatzanhebung von eineinhalb Prozentpunkten und wäre nichts anderes als ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm.

 

All diese Maßnahmen insgesamt rückgängig zu machen hätte katastrophale Wirkungen für unsere Volkswirtschaft. Wer den Sozialstaat nicht durch Umbau sichern will, setzt ihn durch Überforderung erst recht aufs Spiel. Unser Ziel ist es, den Sozialstaat zu erhalten, und dafür müssen wir ihn auf eine dauerhaft tragfähige Grundlage stellen. Deshalb haben wir die Gesundheitsreform fortgesetzt. Sie hat den Wettbewerb zwischen Kassen gestärkt und zu mehr Eigenverantwortung für Bürger geführt. Ohne diese Neuregelung wäre es zu einem Defizit von rund zehn Milliarden D-Mark und in der Konsequenz zu einer weiteren Anhebung des Beitragssatzes gekommen.

 

Darüber hinaus ist offenkundig, daß wir die Rentenreform brauchen. Ob wir es wollen oder nicht, die demographische Entwicklung in Deutschland erzwingt Anpassungen. Der Altersaufbau unserer Bevölkerung wird sich in den nächsten Jahrzehnten dramatisch verändern. Wir haben mit die niedrigste Geburtenrate in der Europäischen Union, nur die Geburtenraten in Italien und Spanien liegen niedriger. Heute sind 17 Millionen Menschen in Deutschland 60 Jahre und älter, im Jahr 2030 werden es bereits 26 Millionen Menschen sein. Außerdem ist es absurd, daß junge deutsche Akademiker bei ihrem Berufsstart oftmals fünf Jahre älter sind als alle ihre Kollegen in der Europäischen Union. Im Ergebnis zahlen so immer weniger Menschen für immer kürzere Zeit Beiträge, aber immer mehr Menschen beziehen zunehmend länger ihre Rente. Diese Rechnung kann nicht aufgehen. Wir haben die Pflicht, die Rente der jetzigen Rentnergeneration zu sichern, und das wird uns gelingen. Aber wir müssen auch darüber reden, wie es in Zukunft weitergehen soll. Ich sage noch einmal: Es geht nicht um den Abbau, sondern um den Umbau des Sozialstaates. Nach wie vor geben wir fast jede dritte D-Mark, die wir erwirtschaften, für Sozialleistungen aus. Wo gibt es das in Europa eigentlich noch? Es gibt keinen Grund, uns dauernd vorzuwerfen, wir seien nicht hinreichend bereit, für den Sozialstaat einzutreten.

 

IV.

 

Meine Damen und Herren, unsere Reformen beginnen zu greifen. Die Bundesregierung erwartet dieses Jahr ein reales Wirtschaftswachstum in ganz Deutschland von zweieinhalb bis drei Prozent. Damit haben wir eine günstige Ausgangslage für weiter zunehmende wirtschaftliche Dynamik in 1999. Die ökonomischen Grunddaten sind so gut wie seit langer Zeit nicht mehr. Die eigentliche Sensation in Deutschland ist der Preisanstieg von 1,1 Prozent. Die Gelehrten diskutieren derzeit sogar, ob selbst diese Zahl nicht noch zu hoch ist. Wieso wird ein solcher Stabilitäts-Rekord überhaupt nicht zur Kenntnis genommen? Ein Prozent Preissteigerung ist die beste Sozialpolitik. Gerade Menschen mit niedrigem Einkommen und Rentner sind darauf angewiesen, daß ihr Geld seinen Wert behält. Darüber hinaus sind die langfristigen Zinsen und die Bauzinsen auf dem niedrigsten Niveau seit Bestehen der Bundesrepublik. Unerträglich hoch ist allerdings die Arbeitslosigkeit. Hinter der pauschalen Zahl der Arbeitslosen verbirgt sich eine unterschiedliche Entwicklung in den neuen und alten Ländern. In Westdeutschland bahnt sich bereits eine Stabilisierung und damit eine Wende zum Besseren an. Besonders in den exportstarken Branchen wie Maschinenbau, Elektrotechnik und Automobilbau wird wieder eingestellt.

 

Zum Stichwort Automobil will ich nur sagen: Man kann natürlich in diesem Bereich modernster Technologie die Arbeitslosigkeit durch Autofeindlichkeit nicht abbauen. Die Forderung nach fünf D-Mark je Liter Benzin ist nicht nur unsinnig; es ist auch eine Heuchelei, das Auto als eine Katastrophe für das Land zu verdammen. Natürlich wissen wir um die beinahe moralische Verpflichtung, Ökologie und Ökonomie miteinander zu verbinden und Autos zu bauen, die der Umwelt, der Schöpfung, entsprechen. Aber das Auto ist auch ein Stück gelebte Freiheit. Für Millionen von Menschen in Deutschland hat das Auto einen hohen Stellenwert. Ich habe die Sorge, daß die Schere zwischen den städtischen Räumen und dem sogenannten flachen Land immer weiter auseinandergeht. Den Menschen, die in der Fläche wohnen, jetzt noch das Auto zu vermiesen, wie kommen wir eigentlich dazu? Zwar sind die Deutschen in der Freizeit wieder ein Volk von Radfahrern geworden, aber doch nicht in ihrem Lebensalltag.

 

Wir werden weiter ganz hart arbeiten müssen, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Es gibt keine Patentlösung. Dies gilt insbesondere für die neuen Länder, wo die Lieferungen zu den Betrieben des früheren sowjetischen Machtbereichs weggefallen sind und der Anschluß im Export so schnell nicht gelingen konnte. Das verarbeitende Gewerbe wächst dort jetzt zwar kräftig, aber es kann den Arbeitsplatzabbau noch nicht wettmachen, den die notwendige Strukturanpassung in der Bauwirtschaft erzwingt. Um gerade diesen Normalisierungsprozeß etwas abzufedern, hat die Bundesregierung ihre KfW-Kreditprogramme für den Wohnungsbau nochmals verstärkt. Damit können Investitionen in einer Größenordnung von 22 Milliarden D-Mark beschleunigt beziehungsweise angestoßen werden. Dies bedeutet die Sicherung von 100000 Arbeitsplätzen in der Bauwirtschaft. Wir werden im übrigen alles tun, um Investitionen der öffentlichen Hand vorzuziehen und anzutreiben. Um zusätzliche Wachstumsimpulse zu geben, haben wir zudem das finanzielle Förderangebot für Innovationen, Wagniskapital und Existenzgründungen ausgebaut - ebenfalls mit einem Schwerpunkt in den neuen Ländern. Wir erwarten, daß dadurch Investitionen in Höhe von rund zehn Milliarden D-Mark angeschoben oder beschleunigt werden.

 

V.

 

Ohne grundlegende Reformen, ohne gemeinsame Anstrengungen und ohne Opfer ist keine Zukunft in Wohlstand und Sicherheit möglich. Dabei hält sich der Umfang des geforderten Opfers durchaus in Grenzen.

 

Schlüssel für mehr wirtschaftliche Dynamik und Beschäftigung ist die große Steuerreform. Wir brauchen ein international wettbewerbsfähiges Steuersystem, um für inländische und ausländische Investoren attraktiver zu werden. Wir haben zwar die Substanzsteuern abgeschafft und den Solidaritätszuschlag gesenkt. Aber wir können es drehen und wenden, wie wir wollen - ohne die große Steuerreform werden wir in der deutschen Wirtschaft den Durchbruch nicht schaffen. Natürlich habe ich nicht erwartet, alle Details des Petersberger Konzeptes durchzusetzen. Damit konnte bei den unterschiedlichen Mehrheiten in beiden Kammern niemand rechnen. Aber ich hatte gehofft, daß wir wenigstens in der Grundfrage übereinstimmen, daß die Reform sozusagen die Magna Charta der wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands werde. Im Moment träumen alle möglichen Leute von britischen Verhältnissen. Die jetzige britische Regierung hat ein Steuerrecht von ihrer Vorgängerregierung übernommen, das ermöglicht hat, daß im Vergleich zu uns das Achtfache an Investitionen aus dem Ausland dorthin geflossen ist. Auch andere Länder haben die notwendigen Steuerreformen durchgeführt: Sie können in die Schweiz reisen, in die benachbarten Niederlande. Sie können nach Österreich fahren. Überall hat man bereits das Steuersystem neu gestaltet.

 

Es ist zynisch, daß ich nun jeden Tag neue Steuerreformangebote höre. Zunächst nannte man den Spitzensteuersatz von 53 Prozent unerträglich; dann wurden 49 Prozent vorgeschlagen. Ich glaube, heute ist 45 Prozent ins Feld geführt worden. Diese Diskussion ist doch absurd. Wenn man wirklich zur Neuregelung bereit wäre, hätte man doch längst mit uns eine Reform umsetzen können. Der im SPD-Wahlprogramm vorgeschlagene Spitzensteuersatz von 49 Prozent wäre jedenfalls kein Signal des Aufbruchs für die Wirtschaft, denn man muß wissen, daß 85 Prozent der Unternehmen Personengesellschaften und damit einkommensteuerpflichtig sind!

 

Ich bin zusammen mit den Parteien der Koalition fest entschlossen, die Bundestagswahl zu einem Plebiszit über die Steuerreform zu machen. Nur wenn wir begreifen, daß wir jetzt eine Steuerreform brauchen, werden wir eine gute Zukunft haben. Das ist wie beim Fußball: Sie spielen um den Europapokal, vielleicht sind Sie deutscher Meister. Wenn Sie dann falsch trainieren oder die falsche Mannschaft aufstellen, befinden Sie sich nach einiger Zeit im Mittelfeld. Sie wachen auf und sind im Abstiegsstrudel. Anschließend versuchen Sie wieder, aus der zweiten Liga aufzusteigen. Pfälzische Gestalten wie in Kaiserslautern schaffen das. Aber wer wie ich am Betzenberg dabei war, der weiß, wie schwer der Wiederaufstieg fiel. Ich warne davor.

 

Wir haben in den 50 Jahren Bundesrepublik immer den Ehrgeiz gehabt, in der Weltolympiade der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung auf dem Siegertreppchen zu stehen. Es muß nicht Gold sein. Manchmal ist es besser, die Deutschen haben kein Gold und kein Silber, aber Bronze. Wenn man Bronze hat, ruht man sich nicht auf seinen Lorbeeren aus, sondern strebt das nächste Mal Silber oder Gold an. Deshalb reicht uns Bronze völlig. Aber um in den Medaillenrängen zu bleiben, brauchen wir die Steuerreform - da können wir machen, was wir wollen.

 

Gleichzeitig müssen wir natürlich auf anderen Gebieten, etwa auf der Ausgabenseite, vorankommen. Wir haben dort bereits erhebliche Fortschritte erzielt, die viel zu wenig beachtet werden. Wer weiß eigentlich, daß die Ausgaben des Bundes in den Jahren 1995, 1996 und 1997 jeweils gesunken sind, daß die Staatsquote - also der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt - von 50,6 Prozent in 1995 auf 48,8 Prozent im vergangenen Jahr zurückgeführt wurde? Wem ist bekannt, daß wir in diesem Jahr 48 Prozent erreichen und daß wir, wenn es so weitergeht, zu Beginn des neuen Jahrhunderts - trotz aller Belastungen - die Staatsquote auf das Niveau vor der Wiedervereinigung von 46 Prozent gesenkt haben werden? Auf diesem Weg zum sogenannten schlanken Staat haben wir den Personalbestand des Bundes von 381000 nach der Wiedervereinigung auf inzwischen 314000 zurückgeführt. Bezogen auf die Zahl der Einwohner ist dies der niedrigste Stand seit 30 Jahren. Dies ist alles geschehen. Ich behaupte nicht, daß wir weltweit Meister sind, aber wir befinden uns auf dem richtigen Weg.

 

VI.

 

Ein weiteres Schlüsselthema für eine gute Zukunft unseres Landes ist Bildung und Ausbildung. Wenn ich über Ausbildung rede, möchte ich mich zunächst bei allen bedanken, Unternehmern und Unternehmensleitungen, Personalchefs, Betriebsräten und auch den Gewerkschaften, daß wir die Trendwende am Lehrstellenmarkt erreicht haben.

 

Bei aller Genugtuung über dieses Ergebnis sollten wir aber auch zur Kenntnis nehmen, daß die Lehrstellennachfrage bis zum Jahr 2005 weiter steigt. Danach wird die Zahl der Bewerber abrupt zurückgehen. Ich habe deshalb heute die Bitte an Sie, daß wir gemeinsam schon jetzt Lösungen finden, die ein ausreichendes Lehrstellenangebot auch in den Jahren bis 2005 sicherstellen. Ein ausreichendes Lehrstellenangebot ist für mich eine moralische Verpflichtung unserer Gesellschaft gegenüber den jungen Menschen. Ich kann zum Beispiel von einem Jungen im Alter von 16 oder 17 Jahren, der keinen Ausbildungsplatz findet, nicht erwarten, daß er mit 19 Jahren ganz selbstverständlich zur Bundeswehr oder zum Ersatzdienst geht. Auch die Jungen müssen die wichtige Erfahrung machen, daß beides zusammengehört: Rechte und Pflichten.

 

Ein ausreichendes Lehrstellenangebot trägt gleichzeitig dazu bei, Forderungen nach einer Ausbildungsabgabe einen Riegel vorzuschieben. Wir brauchen keine Ausbildungsabgabe. Eine Ausbildungsabgabe wird ein paar Mark einbringen, aber das Freikaufen wird zum Prinzip werden. Der normale deutsche Handwerker hat eine ganz persönliche Beziehung zu seinem Lehrling. Er schämt sich zum Beispiel, wenn sein Lehrling durch die Prüfung fällt und ist stolz, wenn er eine gute Note erzielt oder auf der Meisterfeier einen Preis erhält. Das sind normale menschliche Gefühle. Ein Ausbildungsabgabe würde diese traditionelle Bindung untergraben und keine neuen Lehrstellen schaffen.

 

Für eine Kulturnation ist es ein Skandal, daß zehn Prozent der Abgänger der Hauptschulen nicht über die notwendigen Voraussetzungen für eine Ausbildung verfügen. Dies ist nicht einfach die Schuld der Lehrer. Vor Gott und den Menschen tragen zuerst die Eltern die Verantwortung für ihre Kinder. Aber natürlich weist die fehlende Ausbildungsfähigkeit auf einen Reformbedarf an unseren Schulen hin. Als eine Lösung empfinde ich allerdings nicht den ideologischen Irrweg, Zeugnisse bis zur 8. Klasse abschaffen zu wollen.

 

Wenn ich von der Schule rede, muß ich ebenfalls von der Hochschule reden. Die internationale Attraktivität des Studienstandortes Deutschland ist in Gefahr. Es muß uns mit Sorge erfüllen, daß gerade ausländische Studenten aus aufstrebenden Wirtschaftsregionen lieber in den USA als bei uns studieren. An einer amerikanischen Universität kommen in einem Jahrgang von 1200 bis 1500 Studenten vielleicht 30 Studenten aus Kontinentaleuropa, davon drei Deutsche, hingegen 80 Studenten aus Japan, aus der Volksrepublik China, aus Taiwan und 150 aus anderen Teilen der Erde. Dagegen ist die Zahl der ausländischen Studenten, die etwa an meiner Heimatuniversität Heidelberg studieren, dramatisch zurückgegangen.

 

Unsere Hochschulen müssen wieder internationaler werden. Wir brauchen Weltoffenheit, mehr Leistungsorientierung und mehr Konkurrenz an unseren Universitäten. Wir wollen nicht das Leistungsprofil senken, sondern der Institution Universität mehr Vertrauen schenken und Verantwortung übertragen. Wir müssen Bedingungen schaffen, die Kreativität und Spitzenleistungen fördern. Wenn wir diesen Weg konsequent beschreiten, werden wir die notwendigen wissenschaftlichen Höchstleistungen erreichen. Allerdings honorieren wir immer noch zu wenig diejenigen, die auf dem Gebiet von Wissenschaft und Forschung etwas besonderes leisten. Natürlich ist ein Nobelpreis, der in Stockholm verliehen wird, etwas besonderes. Aber es gibt viele, die Spitzenleistungen erbringen und die nicht das Ansehen und den Respekt erfahren, der ihnen eigentlich zusteht. Wir brauchen in unserer Gesellschaft ein vernünftiges Verhältnis zur Leistung und zur Leistungselite. Ich rede nicht von Eliten durch Geburt. Ich rede von einer hinreichend großen Zahl von Frauen und Männern in unserem Volk, die in den verschiedensten Bereichen bereit sind, mehr zu leisten als andere.

 

Wissen und Forschung sind die Triebkraft für Wachstum und Strukturwandel in unserer Wirtschaft. Bei Forschung und Patenten haben wir in den letzten Jahren einige Fortschritte erzielt. Wir sind wieder Nummer eins bei den Weltmarktpatenten. Wir haben wieder einen Spitzenplatz im Welthandel mit höherwertiger Technik. Diese Ergebnisse sind ein gemeinsamer Erfolg von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik.

 

VII.

 

Meine Damen und Herren, die Fortschritte der letzten Jahre geben uns Anlaß zu einem realistischen Optimismus. Die größte Zukunftschance unseres Landes sind die Menschen, ihr Fleiß, ihre Ideen, ihre schöpferische Kraft und ihre Menschlichkeit. In zwei Jahren geht dieses Jahrhundert zu Ende, ein Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und viel Not und viel Elend. Gestern besuchte mich eine Delegation der Deutschen aus Polen. Zur Vorbereitung habe ich ihre Lebensläufe gelesen. Diese Menschen hatten nicht das Glück, in Ludwigshafen am Rhein aufzuwachsen, sondern in einem ganz anderen Teil Europas, der damals zu Deutschland gehörte. Bedenkt man, was diese Leute und ihre Familien mitgemacht haben, dann ist es eine phantastische Sache, daß wir jetzt alle Chancen für Frieden und Freiheit haben.

 

Unsere Vision ist es, das 21. Jahrhundert menschlich zu gestalten. Die materiellen Voraussetzungen sind dafür wichtig, aber noch wichtiger sind die immateriellen Voraussetzungen. Die Werteordnung ist nach meiner Überzeugung für die Zukunftssicherung entscheidend. In der Schule und überall müssen wir darlegen, daß Fleiß, Toleranz, Ehrlichkeit, Leistungsbereitschaft und Mitmenschlichkeit richtig bleiben und keineswegs altmodisch geworden sind. Ohne diese Grundsätze wäre Deutschland nicht wieder aus dem Nullpunkt auferstanden. Ohne Zuverlässigkeit und Grundsatztreue wird unser Land keine gute Zukunft haben. Unser Land braucht keinen Opportunismus, der ohne festen Kompaß dem jeweiligen Zeitgeist folgt, sondern einen klaren beständigen Kurs. Das bedeutet Veränderungen und Reformen, wo diese um der Zukunft willen geboten sind und Festhalten an Grundwerten, die für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft unverzichtbar sind, und zwar egal, woher der Wind kommt. Wenn wir so ans Werk gehen, haben wir keinen Grund zum Pessimismus. Wir haben alle Chancen - wir müssen sie nur nutzen!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 26. 21. April 1998.