25. September 1992

Regierungserklärung in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestags zur aktuellen Entwicklung in der Europapolitik

 

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Die Europäische Gemeinschaft steht in diesen Tagen und Wochen in einer für unsere gemeinsame Zukunft entscheidenden Bewährungsprobe. Wenn wir jetzt nicht gemeinsam die Chance nutzen, die der Maastrichter Vertrag bietet, wird die Gemeinschaft um viele Jahre zurückgeworfen. Es gilt daher, jetzt den in Maastricht festgelegten Kurs konsequent zu halten.

 

I.

Das Ja der Franzosen zu Maastricht vom vergangenen Sonntag hat uns hierin bestärkt. Ich möchte auch von dieser Stelle die Entscheidung des französischen Volks bei dem Referendum über den Vertrag von Maastricht noch einmal ausdrücklich begrüßen. Hervorheben möchte ich drei Aspekte, die sich aus der Analyse der Volksbefragung in Frankreich ergeben:

Erstens: Die älteren Menschen, die das Leid und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs - und noch zum Teil des Ersten Weltkriegs - erleben mussten, haben mit deutlicher Mehrheit für die Europäische Union gestimmt. Ihre Stimme hat auch für uns besonderes Gewicht!

Zweitens: Nicht minder bemerkenswert ist es, dass die Menschen in den französischen Grenzregionen zu Deutschland, im Elsass und in Lothringen, mit großer Mehrheit mit Ja gestimmt haben. Gerade sie - die stets als erste von den Bruderkriegen der Vergangenheit betroffen waren - haben ein besonderes Gespür für die historische Bedeutung des europäischen Einigungswerks, für gute Nachbarschaft und offene Grenzen. In dieses Bild passt auch, dass sich die dänische Bevölkerung im Grenzraum zu Schleswig-Holstein bei dem Referendum im Juni für Maastricht entschieden hat.

Drittens: Ich halte es für besonders wichtig, dass sich die junge Generation der Achtzehn- bis Fünfunddreißigjährigen klar für Maastricht entschieden hat. Sie hat verstanden, dass es um ihre Zukunft geht - dass Europa für ihr Leben in Frieden und Freiheit entscheidend ist.

Nunmehr kommt es darauf an, den Vertrag von Maastricht über die Europäische Union wie vorgesehen bis zum Ende dieses Jahres zu ratifizieren und ihn zum 1. Januar 1993 in Kraft zu setzen. Am 8. Oktober werden wir im Deutschen Bundestag Gelegenheit haben, eine eingehende Diskussion über diesen Vertrag zu führen.

 

II.

Mit der Initiative zu den beiden Regierungskonferenzen über die Politische Union sowie über die Wirtschafts- und Währungsunion haben wir uns gemeinsam mit Frankreich unserer besonderen Verantwortung für Europa gestellt. Gerade angesichts des Umbruchs in Mittel-, Ost- und Südosteuropa mit all seinen Risiken war diese Initiative ein klares, unmissverständliches Zeichen dafür, dass es in Westeuropa kein Zurück mehr geben darf zu den machtpolitischen Rivalitäten vergangener Zeiten. Die Lehre aus dieser Erfahrung bestand und besteht in dem immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker.

Jean Monnet, den viele den „Vater Europas" nennen, hat 1944, noch mitten im Zweiten Weltkrieg, hierzu geschrieben: „Es wird keinen Frieden in Europa geben, wenn Staaten sich nur auf der Grundlage nationaler Souveränität und der daraus folgenden Politik des Prestiges und des wirtschaftlichen Schutzes neu gruppieren." Weiter betonte er: „Europa muss geeint werden, und nicht nur durch Zusammenarbeit, sondern durch freiwillige Übertragung der Souveränität der europäischen Nationen an eine Art zentrale Union, eine Union, die Macht hat, Zolltarife zu ermäßigen, einen größeren europäischen Markt zu schaffen und das Wiederaufleben des Nationalismus zu verhindern."

Jean Monnet, Konrad Adenauer, Aleide de Gasperi und viele andere dieser Gründergeneration haben recht behalten: Das europäische Einigungswerk hat in den letzten 40 Jahren für uns alle entscheidend zu Frieden, Stabilität, Sicherheit und wirtschaftlichen Wohlstand beigetragen.

Es hat uns Deutschen zugleich die Chance zur Wiedervereinigung unseres Vaterlands eröffnet. Denn es schuf jenes Vertrauen in das demokratische Deutschland, das Voraussetzung für die Zustimmung unserer Nachbarn, Partner und Freunde zur Deutschen Einheit war.

Der Vertrag von Maastricht steht voll und ganz in der Kontinuität des europäischen Einigungswerks, das von Anfang an eine klare politische Dimension hatte. Mit diesem Vertrag haben wir gleichzeitig die Grundlagen dafür geschaffen, mit einer handlungsfähigen Europäischen Union die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

Jeder in Europa muss sich darüber im klaren sein: Alles, was wir bisher wirtschaftlich erreicht haben, können wir auf Dauer nur bewahren, wenn wir es auch politisch absichern: Eine Wirtschaftsunion ist nur lebensfähig, wenn sie sich auf eine Politische Union stützen kann!

Fünf Ziele stehen im Vordergrund des Vertrags von Maastricht:

Erstens: Die Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Gerade auch aus deutscher Sicht - vor dem Hintergrund unserer geographischen Lage und unserer Geschichte - ist dies eine Schicksalsfrage. Das Ende des Kalten Kriegs und des Kommunismus bedeutet keineswegs, dass wir jetzt weniger wachsam zu sein brauchen. Allein der Krieg im früheren Jugoslawien ist eine ernste Warnung für uns alle. Es ist wahr, aus der Lage und Entwicklung in Ost- und Südosteuropa können Risiken und Unwägbarkeiten für ganz Europa entstehen. Wir können damit nur gemeinsam fertig werden.

Zweitens: Die stufenweise Entwicklung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Wir können unsere wirtschaftliche und monetäre Stabilität nur bewahren, wenn wir mit dem Ziel einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik immer enger zusammenarbeiten. Keiner in Europa sollte sich der Illusion hingeben, dass er dazu noch allein in der Lage ist! Die Ereignisse der letzten Wochen haben dies klar unterstrichen. Nur so können wir auch unsere gemeinsamen Interessen in der Weltwirtschaft wahren.

Drittens: Die Erarbeitung einer gemeinsamen Politik in einem so wichtigen Bereich wie dem der Inneren Sicherheit. Immer mehr Menschen machen sich große Sorgen wegen der Ausbreitung der internationalen organisierten Kriminalität und der Drogenmafia. Schon seit Jahren setze ich mich dafür ein, den Kampf hiergegen mit aller Entschiedenheit auch auf europäischer Ebene aufzunehmen. Er kann nur durch eine gemeinsame Politik und eine europäische Polizeiorganisation (EUROPOL) gewonnen werden. Gleichermaßen erfordert die dramatisch zunehmende Zahl von Asylsuchenden aus dem Süden wie aus dem Osten, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Westeuropa - vor allem zu uns - kommen, dringend eine europäische Antwort. Die bisherigen Erfahrungen machen mehr als deutlich, dass nur ein europäisches Vorgehen das Asylproblem erfolgreich lösen kann. Bei uns setzt dies die Änderung des Grundgesetzes voraus.

Viertens: Maastricht vertieft ferner die europäische Zusammenarbeit dort, wo Schwächen in den letzten Jahren sichtbar wurden. Dies gilt insbesondere für den Umweltschutz, dessen Bedeutung auch unsere Partner in den letzten Jahren mehr und mehr erkannt haben. Wer erinnert sich nicht noch an die Schwierigkeiten, die die Bundesregierung vor einigen Jahren hatte, um den Katalysator in der EG durchzusetzen? - Heute ist die entsprechende Ausrüstung aller Neufahrzeuge in Europa längst eine Selbstverständlichkeit.

Fünftens: Maastricht bringt auch Fortschritte bei der Verstärkung der demokratischen Kontrolle durch das Europäische Parlament. Diese Fortschritte reichen aus unserer Sicht nicht aus. Maastricht ist nur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wir werden daher bei einigen unserer Partner noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um in den kommenden Jahren, spätestens aber im Rahmen der für 1996 vorgesehenen Regierungskonferenz, die demokratische Kontrolle der europäischen Institutionen durch eine weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments durchgreifend zu verbessern.

 

III.

Die Diskussion während der vergangenen Monate in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft - auch bei uns - hat gezeigt, wie viele Missverständnisse und Unsicherheiten, ja Ängste im Hinblick auf den Vertrag noch bestehen. Viele Menschen befürchten ein zentralistisches Europa. Sie fragen sogar: Werden wir in einem solchen Europa noch Deutsche, Italiener oder Franzosen sein? Meine Antwort und die Antwort des Vertrags von Maastricht sind klar: Wir bleiben fest in unserer Heimatregion verwurzelt, wir bleiben Deutsche, Italiener und Franzosen - und wir sind zugleich Europäer.

Wir müssen den Menschen mehr noch als bisher nahebringen, dass das Europa von Maastricht für sie da ist, dass Maastricht für ein demokratisches und bürgernahes Europa steht, das die nationale Identität und Kultur aller Mitgliedsstaaten und ihrer Regionen achtet und fordert. Wir haben mit Maastricht eben nicht den Grundstein zu einem europäischen Über-Staat gelegt, der alles einebnet, sondern uns auf ein Europa verpflichtet, das auf dem Grundsatz „Einheit in Vielfalt" gegründet ist.

Der Vertrag von Maastricht stärkt zugleich die Rolle der Regionen, bei uns der Bundesländer. Innerstaatlich tragen wir dem durch die angestrebte Grundgesetzänderung Rechnung. Durch den zukünftigen Artikel 23 werden die Interessen der Länder gesichert und zugleich die elementaren Prinzipien unserer gesamtstaatlichen Ordnung als Ziel für die Europäische Union festgeschrieben.

Aber wir müssen in das europäische Einigungswerk weitaus stärker als bisher auch die Städte und Gemeinden in Deutschland und in Europa einbeziehen. Föderalismus - dies ist ein altes Thema, und es hat mit Parteipolitik nichts zu tun - betrifft ja nicht nur die Beziehung zwischen Bund und Ländern, sondern gleichermaßen die Beziehung zwischen Ländern und Kommunen.

Bedeutung und Verantwortung der Länder und Gemeinden werden vor allem in der Zusammenarbeit im grenznahen Raum sichtbar. Hier wird schon ein Stück europäischer Zukunft erfolgreich praktiziert, auch auf örtlicher Ebene. Denken Sie nur an die Kooperation zwischen Baden und dem Elsass sowie dem Baseler Raum, denken Sie an das enge Zusammenwirken zwischen dem Saarland, Lothringen und Luxemburg oder im Aachener Drei-Länder-Eck oder auch an die guten Beziehungen zwischen Schleswig-Holstein und dem Süden Dänemarks.

Unsere freiheitlichen Demokratien leben vom Engagement und der Eigenverantwortung der Bürger. Ihre Teilhabe am politischen Geschehen setzt voraus, dass Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Ebene getroffen werden, die ihnen am nächsten steht. Nur dies garantiert zugleich die notwendige Sachnähe und Effizienz.

Beim letzten Europäischen Rat in Lissabon haben wir ein Arbeitsprogramm zur Umsetzung des Prinzips der Subsidiarität beschlossen. Es ist unbedingt notwendig, dass wir diesem Begriff in der Praxis rasch mit Leben erfüllen und damit auch zentralistische Fehlentwicklungen korrigieren. Es geht insgesamt darum, ein vernünftiges Gleichgewicht herzustellen - in dem Gemeinde und Region, Nationalstaat und Europäische Gemeinschaft ihre jeweilige Verantwortung wahrnehmen und so den Interessen der Bürger am besten dienen.

Dies bedeutet: Die höhere Ebene darf nur dann tätig werden, wenn es unabweisbar notwendig ist. Sie darf sich nicht anmaßen, alles bis ins letzte Detail regeln zu wollen. Dies muss auch für Brüssel gelten. Wir müssen wegkommen von einer Tendenz, alles und jedes auf europäischer Ebene regeln zu wollen. Das heißt aber auch, dass nationale Verwaltungen ihre Verantwortung dort, wo sie gefordert ist, wahrnehmen und unbequeme Dinge nicht einfach auf die Gemeinschaft schieben.

Wir alle sollten uns selbstkritisch fragen, welchen Eindruck die oft zu beobachtende Regelungswut bei den Bürgern hinterlässt und ob wir nicht Gefahr laufen, das Europäische Einigungswerk dadurch in Misskredit zu bringen. Dieser Vorwurf gilt nicht nur für Brüssel, sondern gleichermaßen für die Mitgliedsstaaten. So manche europäische Regelung, die in der Öffentlichkeit Kopfschütteln hervorruft, geht in Wahrheit oft auf nationale Vorstöße zum Schutz eigener, auch wirtschaftlicher Interessen zurück.

Es wäre für mich ein leichtes, hier eine ganze Liste von Beispielen vorzutragen, wo aus allen gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland über das Europäische Parlament, über den Deutschen Bundestag sowie über die Parlamente der Bundesländer Vorschläge gemacht worden sind und werden, mit dem Ziel, bestimmte Interessen, die ja auch ganz legitim sind, auf europäischer Ebene durchzusetzen.

Ich wende mich hier nur vor dem Forum der deutschen Öffentlichkeit gegen den pauschalen Vorwurf, „Brüssel" sei an allem schuld. Ich plädiere für eine faire Betrachtungsweise. Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass hier alle Mitgliedsstaaten der EG - auch die Bundesrepublik Deutschland - seit Gründung der Gemeinschaft immer wieder gesündigt haben. Aus solchen Fehlern müssen wir lernen und die notwendigen Konsequenzen ziehen.

Der Vertrag von Maastricht hat den Rahmen und die Grundlagen für die Korrektur von Fehlentwicklungen und eine klare Ausrichtung hin zu einem wirklichen Europa der Bürger geschaffen. Es wird eine wesentliche Aufgabe der Sondertagung des Europäischen Rats im Oktober wie der Arbeit der kommenden Monate sein, hierfür die Weichen zu stellen. Der Vertrag von Maastricht ist und bleibt daher eine geeignete und tragfähige Grundlage für die europäische Einigung - an ihm werden wir festhalten. Es kommt jetzt darauf an, Maastricht richtig in die Tat umzusetzen.

 

IV.

Die Unruhe an den europäischen Devisenmärkten hat verständlicherweise zu Fragen nach der weiteren europäischen Integration und der Umsetzung des Maastrichter Vertrags geführt.

Es ist richtig, dass die Entscheidungen der italienischen und britischen Regierung, die Interventionen an den Devisenmärkten aufzusetzen, ungewöhnlich waren. Aber sie waren eine notwendige Reaktion auf die aufgelaufenen volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte und die vom Umfang her bisher nicht gekannten spekulativen Devisenströme.

Die Gründe für die Spannungen im EWS sind vielfältig. Einseitige Schuldzuweisungen gehen an der Sache vorbei. Die Ereignisse der letzten Wochen waren nicht die Folge der deutschen Stabilitätspolitik. Im Gegenteil, Stabilitätspolitik ist das Fundament für das Vertrauen auf den Devisenmärkten und für geordnete Währungsverhältnisse.

Ich weiß, wie schwierig die Aufgabe der Deutschen Bundesbank in den letzten Wochen war. Sie stand vor schwierigen Entscheidungen. Ihre vorrangige Aufgabe als unabhängige Notenbank ist und bleibt es. die Geldwertstabilität in Deutschland zu sichern. Sie hat bei der Erfüllung dieser Aufgabe die volle Unterstützung der Bundesregierung. Deutschland leistet damit zugleich einen entscheidenden Beitrag zu einer Stabilitätsgemeinschaft und zu dauerhaftem Wachstum in Europa.

Die derzeitigen Probleme im EWS sind Folgen unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklungen zwischen den Mitgliedsstaaten, die über eine lange Zeit hinweg entstanden waren. Trotz dieser Unterschiede blieben die EWS-Wechselkurse über viele Jahre unverändert. Wir wissen jedoch, dass es sich um ein System mit festen, aber anpassungsfähigen Wechselkursen handelt - und nicht um eine vorweggenommene europäische Währungsunion. Dies gilt grundsätzlich bis zum Ende der zweiten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.

Beim Wechselkurs zwischen Französischem Franken und D-Mark besteht, wie beide Regierungen und Zentralbanken gemeinsam festgestellt haben, kein Anpassungsbedarf, weil in Frankreich überzeugende Stabilitätserfolge erzielt worden sind. Die Preis- und Kostensituation ist dort heute in wichtigen Bereichen günstiger als bei uns.

Unterstreichen möchte ich. dass Spannungen im EWS kein Grund sind, das System selbst in Frage zu stellen. Das EWS war eine wichtige Grundlage für die Integrationsfortschritte des letzten Jahrzehnts. Das gilt insbesondere für die Vollendung des Binnenmarkts und damit auch für die lnvestitions- und Wachstumsimpulse, die hiervon ausgegangen sind und noch ausgehen. Das EWS ist zugleich die Grundlage von der aus wir das nächste Ziel - die Wirtschafts- und Währungsunion - ansteuern.

Die Turbulenzen auf den Devisenmärkten haben in Europa zu einer schwierigen Situation geführt. Aber gerade diese Erfahrungen haben das Konzept des Vertrags von Maastricht für die Wirtschafts- und Wahrungsunion eindrucksvoll bestätigt.

Die Schlussfolgerung lautet einmal mehr: Ein funktionsfähiger einheitlicher Währungsraum kann nur durch gleichgerichtete wirtschaftspolitische Anstrengungen, insbesondere über eine entschlossene Stabilitätspolitik jedes einzelnen Mitgliedlands erreicht werden. Es zeigt sich jetzt, wie wichtig es war, dass in den Vertrag von Maastricht klar formulierte Prüfsteine für den Eintritt in die Währungsunion aufgenommen wurden. Wer diese strengen Kriterien aufweichen will, der muss wissen, dass dies schlimme Folgen hätte.

 

V.

Ungeachtet aller Schwierigkeiten in diesen Tagen und Wochen dürfen wir unser großes Ziel nicht aus dem Auge verlieren: Es ist und bleibt die Aufgabe von grundlegender Bedeutung für unsere Zukunft, die Europäische Union zu vollenden. So will es auch unser Grundgesetz. Es fordert uns auf, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Ich weiß, dass der tiefgreifende Wandel in Europa, dessen Zeugen wir alle seit einigen Jahren sind, viele Menschen in Deutschland und anderswo verunsichert. Sie fragen, ob nicht das Tempo der Veränderungen zu schnell sei. Doch können wir uns eine langsamere Gangart überhaupt leisten?

Schon einmal, bei der Wiedervereinigung unseres Vaterlands, haben wir erlebt, dass es darauf ankommt, eine einmalige Chance beherzt zu ergreifen. So ist es heute auch im Hinblick auf die europäische Einigung. Abwarten wäre die falsche Antwort, Stillstand wäre Rückschritt! Deshalb müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern mutig nach vorn gehen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass wir schon bald von den Ereignissen überrollt werden.

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts steht die Europäische Gemeinschaft in einer besonderen Verantwortung für unseren ganzen Kontinent. Je schneller wir sie in die Lage versetzen, dieser Verantwortung besser gerecht zu werden, desto erfolgreicher können wir die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft bestehen. Polen und Ungarn, Tschechen und Slowaken und viele andere Menschen und Völker in Mittel-, Ost und Südosteuropa setzen ihre Hoffnung auf die Gemeinschaft. Diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen. Die Außen- und Europapolitik entscheidet über unser aller Schicksal. Gerade wir Deutschen können uns am wenigsten provinzielles Denken und nationalen Egoismus leisten.

Die Bundesregierung und ich selbst werden in den kommenden Wochen und Monaten deshalb mit aller Kraft dafür arbeiten, dass der Vertrag von Maastricht wie vorgesehen in Kraft gesetzt wird.

Deutschland ist unser Vaterland. Europa ist unsere Zukunft!

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 103 (26. September 1992).