26. Februar 1997

Vortrag auf der Festveranstaltung "150 Jahre Bayerisches Kultusministerium" im Herkulessaal der Residenz in München

 

Herr Ministerpräsident,

meine Herren Präsidenten des Landtags und des Senats,

meine Herren Minister, Exzellenzen,

meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete,

meine Damen und Herren,

vor allem liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

des Kultusministeriums,

zunächst möchte ich etwas zu den jungen Leuten hier auf der Bühne sagen. Lieber Herr Zehetmair, ich fand es phantastisch, daß uns die Jazz-Combo von Cordula Schmitz in dieser flotten und hinreißenden Weise begrüßt hat. Ich kann dazu nur gratulieren. Das war die musikalische Umsetzung dessen, was der Herr Ministerpräsident und der Herr Kultusminister über die Verbindung von Tradition und Zukunft gesagt haben.

Ich bin heute ausgesprochen gern hierhergekommen. Ich habe die Einladung sofort angenommen, um zum 150. Geburtstag zu gratulieren - aber auch, um in einer besonderen Weise zu demonstrieren. Hier ist soeben die Verfassung zitiert worden. Weder in der bayerischen noch in der deutschen Verfassung steht, daß man immer nur gegen etwas demonstrieren kann. Auch in München wird im Moment wieder demonstriert. Für mich gehört so etwas zu meinen täglichen Erfahrungen. Aber zu selten wird für etwas demonstriert - wie wir das hier tun.

Die 150jährige Geschichte des Bayerischen Kultusministe-riums und all das, was in dieser Zeit dort geleistet worden ist, geben uns einen guten Anlaß zu herzlicher Gratulation, aber auch zu Dankbarkeit. Zwar glauben heute viele, es sei altmodisch geworden, "Danke!" zu sagen. Aber ich möchte gerne die Gelegenheit wahrnehmen, allen zu danken, die in diesem Ministerium gearbeitet haben oder heute dort arbeiten. Ich danke den Lehrerinnen und Lehrern in allen Schulen - von den Grund- und Hauptschulen über die Real- und Berufsschulen bis zu den Gymnasien - und allen, die an den Hochschulen und im weiteren kulturellen Bereich tätig sind. Sie alle tragen dazu bei, das Land lebensfähig und liebenswert zu machen.

Ich bin noch aus einem zweiten Grund sehr gern hierher gekommen - einem persönlichen Grund, der etwas mit meiner Herkunft zu tun hat. Ich komme aus der linksrheinischen, früher bayerischen Pfalz. Mein Vater war ein Unterfranke, und ich selbst ging noch auf ein bayerisch geprägtes Gymnasium. Die Lehrer wurden damals noch mit "Herr Professor" angeredet. Man hat sich übrigens auch nicht sofort geduzt; das war ein Unterschied zu manchen neuen pädagogischen Entwicklungen. Wir waren gegen das Autoritäre - das bin ich heute ebenso wie damals -, aber wir hatten ein natürliches Verhältnis zur Autorität.

Wir Pfälzer haben den Bayern viel zu verdanken. Ich bin Jahrgang 1930 und wurde in meiner Kindheit und Jugend durch vielfältige bayerische Einflüsse geprägt. Ich möchte hier auch dem Hause Wittelsbach ein herzliches Wort des Dankes sagen. Es hat für meine Heimatstadt Ludwigshafen über lange Zeit hinweg viel getan.

Auch der Wegbereiter des Bayerischen Kultusministeriums, Maximilian Freiherr von Montgelas, hat die Region, aus der ich komme, beeinflußt. Er hat in dem von Edmund Stoiber soeben schon zitierten Ansbacher Memoire seine Erfahrungen aus - wie es damals hieß - pfalzbayerischen Diensten niedergelegt. Darin war bereits ein Ministerium für "Geistliche Angelegenheiten" vorgesehen. Dessen Aufgabe sollte unter anderem die "Wahrung der Rechte des Fürsten gegenüber dem katholischen und protestantischen Klerus" sein. Das ist ein Gedanke, der uns heute weit entfernt ist. Wir sind gelegentlich schon zufrieden, wenn wir nach Synoden verstehen, was dort beschlossen worden ist. Das Ministerium sollte ferner die "Generalaufsicht über die nationale Erziehung" ausüben - wie es in der Sprache der damaligen Zeit hieß. Es hat dann noch lange gedauert, bis ein eigenständiges "Ministerium des Inneren für Kirchen- und Schulangelegenheiten" errichtet wurde.

Für mich ist in dieser Stunde wichtig, daß wir im Rückblick auf die vergangenen 150 Jahre mit ihren dramatischen Umbrüchen in Bayern, in Deutschland und in der Welt zu begreifen versuchen, was wir miteinander aus den Erfahrungen - aus den Fehlern wie aus den Erfolgen - derer lernen können, die vor uns waren. Wir bauen auf ihrem Werk auf. Wenn wir heute aus gutem Grund über den Zusammenhalt unserer Nation durch Sprache und Kultur nachdenken, dann sollten wir nie vergessen, daß zum Selbstverständnis einer freiheitlichen Demokratie unverzichtbar auch gemeinsame Grundwerte gehören, die sich über lange Zeit hinweg entwickelt haben. Der freiheitliche Staat - auch das ist eine Erfahrung aus den vergangenen Jahrzehnten - kann nur bestehen, wenn er bereit ist, diese Grundwerte anzuerkennen, wenn es einen hinreichend großen Konsens darüber unter den Bürgern unseres Gemeinwesens gibt und wenn wir gemeinsam fähig sind, diese Ordnung gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen.

Es geht dabei um unsere Verfassungsordnung. Sie ist nicht - wie manche meinen - wertneutral, sondern sie steht auf einem ethischen Fundament, das ganz wesentlich vom christlichen Menschenbild geprägt ist. Auch jene, die dieses Menschenbild für sich nicht ohne weiteres anerkennen, stehen auf diesem Fundament. Dies bleibt eine wesentliche Feststellung, die gerade wir Deutsche immer wieder bekräftigen müssen. Wir wollen und können auf diese ethische Grundlage nicht verzichten, denn sie sichert im Zusammenleben der Bürger unseres Landes Gemeinsamkeit, Toleranz und Rücksichtnahme; sie schafft die Basis für ein menschliches Miteinander.

Nach den bitteren Erfahrungen mit anti-christlichen Ideologien in diesem Jahrhundert mit all ihren schrecklichen Folgen sind wir in einer besonderen Weise verpflichtet, die Grundwerte unserer abendländischen Kultur zu achten und mit Leben zu erfüllen. Dies ist ein Auftrag, der sich jedem von uns stellt, vor allem jenen, die - beispielsweise in der Schule - dazu berufen sind, diese Werte an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Dazu gehört auch das Wissen, daß Freiheit und Verantwortung untrennbar zusammengehören.

Wir haben soeben eindrucksvolle Zahlen über die Schulen in Bayern gehört. Dahinter verbergen sich - das sollte man bei solchen statistischen Werten immer bedenken - Tausende, ja Hunderttausende junger Menschen mit ihrer Hoffnung auf einen guten und erfolgreichen Lebensweg. Diese jungen Menschen brauchen auch in ethischer Hinsicht festen Boden unter ihren Füßen, um ihre Zukunft zu gestalten.

Dies zu sagen, wird heute immer wichtiger. Rund drei Viertel der heute lebenden Deutschen sind nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und aufgewachsen. Sie haben - Gott sei Dank - das Glück gehabt, vieles von dem, was die Gründergeneration unserer Republik nach dem Krieg durchstehen mußte, nicht mehr erleben zu müssen. Erst im Wissen um die Höhen und Tiefen unserer Geschichte können sie wahrhaft ermessen, was es heißt, in einer stabilen freiheitlich-demokratischen Ordnung zu leben. Dazu kann die Arbeit eines Kultusministeriums Entscheidendes beitragen. Es geht darum, jungen Menschen ein Bewußtsein dafür zu vermitteln, was für ein Glück es bedeutet, in Frieden und Freiheit leben zu können.

Meine Damen und Herren, Deutschlands Weg im 19. Jahrhundert zum Nationalstaat mit einer einheitlichen Währung stand auch im Zeichen dramatischer wirtschaftlicher Veränderungen. Vom zunehmenden Handel - vor allem innerhalb des Deutschen Zollvereins - gingen wichtige wirtschaftliche Impulse aus. Die technische Entwicklung, die Schaffung eines Eisenbahnnetzes, dies alles sind Kennzeichen der industriellen Revolution. Wer wüßte besser, was ein solcher Wandel bedeutet, als die Menschen hier in Bayern, die in einer dramatischen, aber auch ungewöhnlich erfolgreichen Weise die Umformung einer Agrargesellschaft in eine hochmoderne Industriegesellschaft geschafft haben. Dies ist ihnen gelungen - und das möchte ich hier unterstreichen -, ohne daß sie mit ihrer Tradition gebrochen haben. Das eine hat sich mit dem anderen glücklich zusammengefügt.

Ich sage dies, weil ich glaube, daß es wichtig ist, in einer Stunde wie dieser die geschichtlichen Erfahrungen nicht außer acht zu lassen: Früher hat es ebenfalls gewaltige Umbrüche gegeben. Der Wandel, den wir heute erleben, ist von einer ähnlichen Tragweite. Auch heute stehen wir vor enormen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen. Angesichts von 4,7 Millionen Arbeitslosen ist unsere vorrangige Aufgabe ganz selbstverständlich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Stärkung des wirtschaftlichen Aufschwungs.

Nun gibt es manche, die meinen, in diesem Zusammenhang sei die Diskussion über die Bedeutung der Kultur im eigenen Land, in Europa und in der Welt zweitrangig. Ich will dem nachdrücklich widersprechen. Ich möchte das unterstreichen, was Sie, Herr Ministerpräsident, gesagt haben: Es ist eine großartige Leistung, daß - trotz der knappen Haushaltslage - hier in München jetzt ein weiteres Gebäude errichtet wird, das der bildenden Kunst gewidmet ist.

Je nachhaltiger die Globalisierung der Wirtschaft unseren Alltag prägt, je rasanter die neuen Informationstechnologien die Welt zusammenwachsen lassen, desto wichtiger ist die Besinnung auf den eigenen Standort und die eigene Herkunft. Dazu gehört in hohem Maße die kulturelle Dimension.

Wenn wir als eines der großen Exportländer der Welt - wir sind die Nummer zwei nach den Amerikanern - etwa auf den Märkten Asiens mit vollem Einsatz um eine Verbesserung unserer Exportposition kämpfen, dann sollten wir nie vergessen, daß wir zum Beispiel in Japan und anderswo nur dann wirklich ernstgenommen werden, wenn neben Spitzentechnologie und erstklassigen Produkten zu vernünftigen Preisen auch die Ausstrahlung der deutschen Kultur zum Tragen kommt. Gerade in diesen Regionen der Welt findet die deutsche Kultur starke Beachtung. Ich war vor Jahren höchst beeindruckt, als ich bei einem Besuch in der kaiserlich-japanischen Universität in Kyoto feststellte, daß es dort bis 1957 einen Lehrstuhl für Plattdeutsch - Sie hören richtig! - gab. Das war zu einem Zeitpunkt, als sich in Deutschland eine bestimmte Gruppe von Leuten auf deutschen Lehrstühlen anmaßte, die Hochsprache gegen die angestammten regionalen Dialekte in Stellung zu bringen.

Wenn Sie einmal nach Indien kommen und sehen, welches Ansehen deutsche Indologen in diesem Teil der Welt genießen, dann haben Sie ein anderes eindrucksvolles Beispiel für die Strahlkraft der deutschen Kultur. Ich wünsche mir, daß in den Organisationen der Wirtschaft auch der Zusammenhang von Export und Kultur stärker gesehen wird. Wenn Sie so wollen, hat das durchaus auch etwas mit Exportchancen und Gewinn zu tun. Warum eigentlich sollte man nicht auch das aussprechen?

Die Erfahrung unserer eigenen Geschichte hat uns Deutschen gezeigt, wie wichtig kulturelle Gemeinsamkeit ist. In den Jahren der Teilung Deutschlands war es von besonderer Bedeutung, daß wir uns ungeachtet alles Trennenden - ungeachtet von Mauer und Stacheldraht - auf eine gemeinsame Kultur besinnen konnten. Ich habe mich in diesen Tagen aus Anlaß der Beisetzung von Deng Xiaoping an ein Gespräch mit ihm erinnert, das mich damals stark beeindruckt hat. Wir sprachen über die Einheit der Nation; es war noch vor der Verwirklichung der Deutschen Einheit 1990. Er war einer von denen, die sich ohne Wenn und Aber zur Einheit der deutschen Nation bekannten. Er sagte, er könne die Diskussion darüber überhaupt nicht verstehen. Ich solle ihm doch einmal sagen, ob Goethe oder Schiller BRD- oder DDR-Deutsche waren. An dieser Frage konnte man die ganze Absurdität des kommunistischen Versuchs erkennen, die deutsche Kultur je nach regionalen Zufälligkeiten ideologisch in Anspruch zu nehmen.

Ich sage noch einmal: Nach meiner festen Überzeugung ist es für die Zukunft unseres Landes - auch und nicht zuletzt unter ökonomischen Gesichtspunkten - von größter Bedeutung, daß wir uns als Kulturnation verstehen. Ich wünsche mir, daß diese Erkenntnis trotz schmaler Kassen weiterhin gilt - also auch dort, wo es Geld kostet. Beispielsweise sollten wir die Verbreitung unserer Muttersprache in der Welt stärker fördern. Hier haben wir eine große Chance. So liegt in polnischen Gymnasien Deutsch bei der Wahl der Fremdsprachen nach dem Russischen klar vorn. In der Ukraine hat mich der Staatspräsident erst kürzlich wieder gebeten: Schickt uns doch mehr Lehrer, die die deutsche Sprache vermitteln; wir wollen, daß Deutsch unter den Fremdsprachen die Nummer eins in unserem Land ist!

Es gibt viele solcher Nachfragen. Diesen mehr zu entsprechen, hat nichts mit einem neuen Pangermanismus zu tun, wie dies eine in Hamburg erscheinende, von mir nicht gelesene Wochenzeitung bezeichnet haben soll. Daß man etwas für seine Muttersprache tut, empfinde ich als ganz selbstverständlich. Charles de Gaulle hat einmal gesagt: Wenn eine internationale Konferenz stattfindet und Französisch nicht eine der Amtssprachen ist, dann zahlt die französische Republik keinen Sou. Das ist ein sehr einfacher Grundsatz. Wir Deutsche werden das nicht so ausdrücken - aus vielen Gründen. Aber daß wir uns diesem Grundsatz zumindest etwas annähern, in Europa und anderswo, halte ich für richtig. Dies ist kein Rückfall in Chauvinismus.

Deutschlands Stellung in der Welt beruht nicht nur auf wirtschaftlichen und technischen Leistungen. Mindestens ebenso wichtig ist unser Ruf als ein Land, das der Menschheit große Werke der Philosophie, der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst und der Architektur geschenkt hat. Ich denke etwa an die unvergleichliche Schönheit einer Beethoven-Sinfonie oder eines Gedichtes von Hölderlin. Ich habe in Peking erlebt, daß ein chinesischer Außenminister in Anwesenheit von deutschen Studenten der Sinologie Hölderlins Schicksalslied frei auf Deutsch aufsagte. Einige der anwesenden Deutschen hatten noch nie etwas davon gehört, andere verbanden mit dem "Schicksalslied" etwas völlig anderes. Es mag sein, daß solche Erlebnisse Ausnahmen sind, aber sie vermitteln eine wichtige Erkenntnis. Wir sollten nicht glauben, daß das Bild der Deutschen in der Welt in streng voneinander getrennte Segmente geteilt wird - in wirtschaftliche oder geschichtliche. Ganzheitliches Denken ist gerade heute von größter Bedeutung.

Jedes Kunstwerk ist ein Stück Schöpfung, und so kann es uns - überall auf der Welt - daran erinnern, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Aus diesem Grunde trete ich auch leidenschaftlich dafür ein, daß wir bei aller Bedeutung des technischen Fortschritts die Geisteswissenschaften nicht vernachlässigen. Das ist auch eine wichtige Aufgabe für die Kultusminister. Die Kultusministerkonferenz muß darauf achten, daß wir - bei all dem, was Ministerpräsident Stoiber zur naturwissenschaftlich-technischen Innovation gesagt hat und was ich Punkt für Punkt unterschreibe - jene Bereiche nicht vernachlässigen, die man so gerne - und so unzutreffend - als brotlose Kunst ausgibt. Wir brauchen gerade die Geisteswissenschaften, um fremde Kulturen und Mentalitäten besser zu verstehen, um - was für die Deutschen existentiell ist - zu mehr Gemeinsamkeit mit anderen Ländern fähig zu sein, um offen für das Neue zu sein. Dies setzt voraus, daß wir unsere eigene Kultur kennen - sie ist ein Stück unserer Identität.

Eine reiche Kulturlandschaft ist der beste Nährboden für Innovation. Dies könnte man ohne zu zögern über das Wappen des Freistaates Bayern schreiben. Die Vielfalt des kulturellen Lebens bewahrt und stärkt geistige Beweglichkeit, auch die Fähigkeit zum Umdenken. Sie ist die Voraussetzung, um im Zeitalter neuer Technologien lernfähig zu sein. Wenn Deutschland sich - wie es zu Recht gesagt wird - zur Informationsgesellschaft entwickelt, dann dürfen wir an diesem Punkt nicht stehenbleiben. Unser Land muß zu einer Wissens- und Kulturgesellschaft werden. Deshalb muß sich jeder von uns fragen, welchen Beitrag er selbst - über die staatlichen Gegebenheiten hinaus - zur Pflege der kulturellen Landschaft leisten kann. Privates Engagement kann staatliche Verantwortung nicht ersetzen. Aber es ist eine notwendige Ergänzung. Ich wünsche mir und hoffe sehr, daß eine alte Idee von mir doch noch durchgesetzt werden kann: daß wir mit einem neuen, umfassenden Stiftungsrecht auch noch mehr private Initiativen für die Kultur auf den Weg bringen können.

Wir alle wissen, daß jetzt Umdenken angesagt ist. Wir brauchen mutige Reformen. Unser Handeln ist wertkonservativ im besten Sinne des Wortes: Wir wollen erhalten, was sich bewährt hat, und verändern, was eindeutig verändert werden muß. Es geht zum Beispiel darum, ein wettbewerbsfähiges Steuersystem zu gestalten, unser soziales Sicherungssystem zukunftsfähig zu machen, vor allem das System der Alterssicherung. Es geht aber auch um den Bereich der Ausbildungseinrichtungen und der beruflichen Qualifikation. Angesichts über vier Millionen Arbeitsloser wird eine Tatsache immer noch nicht genügend zur Kenntnis genommen: Die Schwierigkeiten vor allem auch der Langzeitarbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt sind in fast der Hälfte der Fälle entscheidend dadurch geprägt, daß sie es nicht zu einem beruflichen Abschluß gebracht haben. Gerade deshalb muß jeder, der über Beschäftigung spricht, auch darüber nachdenken, wie wir bei der Ausbildung weiter vorankommen.

Es gilt jetzt, in einer großen Kraftanstrengung um der jungen Menschen willen, dafür zu sorgen, daß jeder, der ausbildungsfähig und ausbildungswillig ist, einen Ausbildungsplatz bekommt. Gleichzeitig muß uns aber zu denken geben, daß rund zehn Prozent derer, die in Deutschland einen Ausbildungsvertrag abschließen wollen, mit dem, was sie in der Schule gelernt haben, nicht hinreichend gerüstet sind, um einen solchen Vertrag zu erfüllen. Wir geben von seiten der Bundesanstalt für Arbeit 500 Millionen D-Mark im Jahr aus, um sozusagen Nachhilfe zu leisten. Das muß uns doch alarmieren! Sie haben guten Grund, Herr Zehetmair, stolz darauf zu sein, daß Sie die Hauptschule hier in Bayern nicht abgeschrieben haben, sondern ihr das richtige Gewicht geben. Die Zahlenvergleiche zeigen das.

Schauen wir uns einmal den 15jährigen, den 16jährigen oder den 17jährigen an, der jetzt eine Lehrstelle sucht, sie aber vielleicht deswegen nicht findet, weil er die notwendigen Voraussetzungen nicht mitbringt. Hier geht es natürlich in erster Linie um den Lebensweg des einzelnen, aber es geht zugleich um das Selbstverständnis von Staat und Gemeinschaft. Ich erwarte, daß ein junger Mann zum Beispiel seinen Dienst in der Bundeswehr leistet. Aber er muß seinerseits erwarten können, daß Staat und Gesellschaft ihm die Chance für eine bestmögliche Ausbildung für das Leben bieten. Beides gehört zusammen.

Es gibt eine Menge Leute, die gar nicht begreifen, wie töricht sie manchmal handeln, wenn sie den Standort Deutschland herunterreden und dabei unseren größten Aktivposten, nämlich die hochqualifizierte Ausbildung, unterschlagen. Es ist kein Zufall - auch das gehört ins Bild der internationalen Veränderungen -, daß gegenwärtig in der Europäischen Union, aber auch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, nicht zuletzt in Asien, viele Anfragen an uns gerichtet werden: Wie können wir euer bewährtes duales System übernehmen? Dieses Ausbildungssystem ist ein wertvoller Vorteil, ein Schatz unseres Landes. Wir dürfen ihn nicht zerreden, sondern wir sollten alles tun, um ihn für die Zukunft zu sichern.

Wenn wir in unserem Bildungssystem eine Bestandsaufnahme machen, müssen wir ganz offen darüber reden, wo es Erfolge und wo es Fehlentwicklungen gibt. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß wir den internationalen Vergleich in den allermeisten Bereichen nicht zu scheuen brauchen. Natürlich ist eine Quote von zehn Prozent Jugendarbeitslosigkeit noch viel zu hoch - aber vergessen wir nicht, daß unsere Nachbarn in der Europäischen Union zum Teil 20, 30 bis hin zu über 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit haben. Auch an diesen Zahlen kann man erkennen - ich sage es ganz bewußt noch einmal -, welchen Schatz wir mit unserem Ausbildungssystem haben - einen Schatz, mit dem wir pfleglich umgehen müssen.

Zu unseren Aktiva gehört auch ein gut ausgebautes, differenziertes und breit gestreutes Angebot an Bildungseinrichtungen. Die deutsche Grundlagenforschung genießt international einen guten Ruf. Wir haben Grund, noch manches zu verbessern, aber wir haben auch Grund, stolz darauf zu sein.

Es ist richtig, Herr Ministerpräsident Stoiber: Es ist eine der Chancen des Föderalismus, daß wir zu wirklichem Wettbewerb im Bildungswesen kommen. Die Studenten können dann erkennen: Diese oder jene Universität ist besonders qualifiziert. Wenn alle Beteiligten mithelfen, können wir in Deutschland ein Ranking der Universitäten erstellen, so daß der Student - oder auch der Hochschullehrer - alle Informationen hat, um zwischen den Hochschulen auszuwählen. Wenn es darüber hinaus möglich wäre, daß sich mehr Menschen - in Form von Stiftungen - privat engagieren, dann können wir noch bessere Ergebnisse erzielen. Der Föderalismus gibt uns diese Chance.

Auch auf die Gefahr hin, daß mir das Ärger einbringt, möchte ich Ihnen hier in Bayern sagen: Sie haben Grund, stolz darauf zu sein, daß Sie sich in den Grundlinien treu geblieben sind und nicht jedem Wind des Zeitgeistes nachgegeben haben. Es ist und bleibt ein Trugschluß zu glauben, daß aus jedem Geburtsjahrgang die Hälfte Abitur machen muß. Das ist eine völlige Überschätzung des akademisch-theoretischen Ausbildungssystems - und für mich eine inakzeptable Unterschätzung der praktischen Fähigkeiten von Menschen. Nur mit Akademikern lassen sich die Herausforderungen der Zukunft nicht meistern.

Zu den Fehlentwicklungen in der deutschen Bildungslandschaft gehören neben den Ungleichgewichten zwischen den Bildungsbereichen vor allem die Mängel bei der Ausbildungseffizienz und die zu lange Ausbildungsdauer.

Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine enorme Bildungsexpansion erlebt. Wenn der Ordinarius, der sich um seine Studenten intensiv kümmern will, in ein Seminar geht und dort 80, 100 oder 120 Studenten vor sich hat, dann ist das eine völlig andere Situation als zu meiner Zeit mit 30 Seminarteilnehmern - das war in Heidelberg damals schon viel. Diese Entwicklung gilt für den ganzen universitären Bereich. Es war eine Fehleinschätzung zu glauben, daß die Hochschulen nach dem sogenannten Öffnungsbeschluß von Bund und Ländern 1977 nur vorübergehend überlastet sein würden. Hier haben wir uns getäuscht. Ich war indirekt an diesem Fehler mitbeteiligt, und ich will mich auch gar nicht aus der Verantwortung stehlen. Ich finde, es ziemt sich zuzugeben, in der Politik wie im privaten Leben, wenn man einen Bock geschossen hat. Schon als Kind habe ich gelernt, daß sich ein hartnäckiges Leugnen bei der Strafzumessung ungünstig auswirkte; wenn man statt dessen den Fehler zugab, kam man oft sehr viel besser davon!

Zum Problem der Studiendauer: Wir können doch bei einem gemeinsamen Arbeitsmarkt in der Europäischen Union nicht länger hinnehmen, daß der durchschnittliche deutsche Hochschulabsolvent mit 30 Jahren die Hochschule verläßt, seine Kommilitonen in den anderen Ländern aber bereits mit 25 Jahren. Ich glaube nicht, daß wir diesen Zustand beibehalten können. Das ändern wir nicht mit Klagen und schon gar nicht mit einem einseitigen Anklagen der Hochschulen. Das ändern wir nur, indem wir uns zusammensetzen und das Notwendige tun!

Meine Damen und Herren, wir werden in diesen Tagen geradezu mit der Nase auf das Problem gestoßen, wenn wir die Diskussion um die Sicherung der Renten verfolgen. Ein junger Akademiker steigt mit 30 Jahren in den Beruf ein, geht mit 60 Jahren in den Ruhestand - die Lebenserwartung des Mannes liegt bei rund 75 Jahren, sie steigt sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen weiter an. Jeder kann sich ausrechnen, welche Konsequenzen dies für die Alterssicherung haben muß. Man kann nicht fast zwei Drittel seines Lebens in Ausbildung sowie Pension oder Rente einerseits verbringen und nur ein Drittel im Erwerbsleben andererseits. Nur Demagogen können glauben, daß man daran mit allgemeinen Sprüchen vorbeireden kann. Man muß die Konsequenzen sehen und in der Sache etwas ändern!

Es gibt ja eine Menge ermutigender Beispiele dafür. Ihre frühere Justizministerin hier in Bayern hat in der Juristenausbildung an den Universitäten erste Schritte in eine Richtung getan, die jetzt in vielen Bundesländern nachvollzogen werden. Ich habe kürzlich die Zahlen meiner alten Fakultät in Heidelberg gehört. Es ist beachtlich, wie viele Studenten sich jetzt sehr viel früher - ohne den Druck, daß ein möglicher Fehlversuch in die Akten kommt - zur Prüfung anmelden. Es ist eben nicht nur alles eine Frage des Geldes, sondern auch der Ideen und der Bereitschaft, ausgetretene Pfade zu verlassen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas anderes ansprechen - das hat auch mit Pädagogik und Erziehung zu tun: Wir sollten aufhören, jungen Leuten vom Elternhaus über den Kindergarten bis in die Schulen hinein Lebensängste zu vermitteln. Es kann doch nicht unser Bestreben sein, daß sie möglichst lange in der zwar warmen, aber stickigen Stube bleiben - mit der Folge, daß sie den manchmal kalten Wind, aber auch die frische Luft des Lebens fürchten. Wenn wir nicht eine Generation in Deutschland heranbilden, die bereit ist, auch etwas zu wagen, wird alles umsonst sein, was wir heute hier diskutieren. Deswegen ist die Frage der mentalen Situation in unseren Schulen von allergrößter Bedeutung.

Die Leitidee Humboldts zur Neugestaltung der Universität - nämlich "Bildung durch Wissenschaft" - ist nach wie vor aktuell. Wissenschaft als Bildungselement - das heißt für mich auch: sich inspirieren lassen zum geistigen Wagnis. Deswegen ist es auch eine bedenkliche Entwicklung, daß ein Großteil unserer Hochschulabsolventen das Berufsziel darin sieht, in den Öffentlichen Dienst zu kommen. Auch vor diesem Hintergrund ist es so wichtig, daß wir alle unseren Teil dazu beitragen, um einer "neuen Kultur der Selbständigkeit" zum Durchbruch zu verhelfen.

Zu den glücklichen Erfahrungen meines Amtes gehört die Begegnung mit vielen jungen Meisterinnen und Meistern bei Freisprechungsfeiern. Bei den Gesprächen mit ihnen erlebe ich immer wieder, wie groß die Bereitschaft ist, sich selbständig zu machen. Aber es gibt oft auch Ängste - etwa wegen der Frage, wie man einen Betrieb übernehmen und wie man die Finanzierung gewährleisten kann. Die jungen Leute haben es mit einem Umfeld zu tun, das ihnen nicht etwa vermittelt: "Wage es!". Statt dessen heißt es: "Bleibe um Gottes Willen an Deinem sicheren Platz im Großbetrieb, der Dich ausgebildet hat. Da kannst Du bleiben, bis Du 65 Jahre alt bist." Mit einer solchen Einstellung wird unser Land keine Zukunft haben. Das müssen wir ändern, meine Damen und Herren!

Ich freue mich, daß hier in Bayern im Bereich des Hochschulrechts jetzt kräftige Schritte auf den Weg zu mehr Autonomie, zu mehr Spielraum für Eigenverantwortung gemacht worden sind. Ich hoffe, daß sich dies in allen deutschen Ländern so entwickeln wird. Herr Ministerpräsident, das wäre in der Tat ein klassisches Feld für fruchtbare Konkurrenz. Deshalb brauchen wir auch das eben schon angesprochene Ranking, damit Leistung auch die notwendige öffentliche Anerkennung erfährt.

Angesichts der dynamischen Entwicklung von Information und Wissen ist es auch an der Zeit, Ausbildung und Studium über die Spanne des gesamten Berufslebens neu zu verteilen. Hier liegt eine wichtige Zukunftsaufgabe. "Lebenslanges Lernen" ist das Stichwort für einen Ansatz, der der Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaft, der aber auch dem Leben jedes einzelnen neue Impulse geben kann.

Ich freue mich, daß über die Notwendigkeit zu inhaltlichen Reformen nun zwischen Bund, Ländern und Hochschulorganisationen in wesentlichen Eckpunkten breiter Konsens besteht. Zum erstenmal seit Jahren bietet dies die Chance, über Reformen nicht nur zu reden, sondern sie auch umzusetzen.

Der Freistaat Bayern hat sich in seiner Hochschulpolitik immer konsequent an Qualität und Leistung orientiert. Ich kann Ihnen nur zurufen: Egal, was andere sagen, machen Sie weiter so! Die attraktive und differenzierte Hochschullandschaft Bayerns ist für viele junge Leute aus anderen Bundesländern von hoher Anziehungskraft. Hier werden immer wieder überdurchschnittliche Leistungen und Spitzenergebnisse erzielt.

Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, daß ausländische Studenten Deutschland als offenes und unbürokratisches Land erfahren. Ich halte es für eine äußerst negative Entwicklung, daß der Austausch von Studenten zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und unserem Land eine sinkende Tendenz aufweist.

Wir tun den jungen Menschen keinen Gefallen, wenn wir aus populistischen Gründen das Niveau der Ausbildung und die entsprechenden Anforderungen absenken. Auch das ist keine gute Entwicklung in Deutschland. Das Abitur in den verschiedenen Bundesländern ist nicht mehr vergleichbar. Wenn wir in den Hauptfächern nicht wieder bestimmte, einigermaßen vergleichbare Anforderungen stellen, wird das Niveau in Deutschland insgesamt weiter sinken. Davon haben auch die Jungen keinen wirklichen Vorteil - im Gegenteil!

Wir brauchen in allen Bereichen unserer Gesellschaft erstklassige Fachkräfte. Damit bin ich bei einem wichtigen Begriff, der in eine solche Feierstunde unbedingt mit hineingehört. Es zählt zu dem Auftrag eines Kultusministeriums, Leistungseliten heranzubilden. Wir haben uns in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine törichte Diskussion um den Elite-Begriff geleistet, von manchen ist er systematisch herabgesetzt worden. Das hat uns geschadet. Wer Leistungseliten ablehnt, der sägt an dem Ast, auf dem wir sitzen - als Industrieland und als Kulturnation. Wir stehen in weltwirtschaftlicher Konkurrenz mit Ländern, die gezielt eigene Eliten fördern, um sich im globalen Wettbewerb besser behaupten zu können. Ohne Leistungseliten kann auf Dauer auch eine freiheitliche Demokratie nicht bestehen. Sie ist sogar in besonderer Weise auf herausragendes Engagement angewiesen.

Wir brauchen Frauen und Männer, die sich etwas zutrauen, die bereit sind, mehr zu tun als ihr Arbeitsvertrag von ihnen verlangt. Bei Handwerksolympiaden, bei Meisterfreisprechungsfeiern, bei "Jugend forscht", bei vielen anderen Gelegenheiten erlebe ich immer wieder junge Leute, die leistungswillig sind. Wir sollten diese Beispiele mehr herausstellen.

Jedes Jahr nehme ich die Gelegenheit wahr, mit den Siegern von "Jugend forscht" zu sprechen. Für mich ist es interessant zu hören, wie viele Lehrer überhaupt wissen, daß einer ihrer Schüler diesen wichtigen Preis errungen hat. Es gibt allerdings auch Beispiele dafür, daß das ganze Lehrerkollegium geholfen hat, da sind die Lehrer nachmittags und abends gekommen, um bei den Versuchen zu helfen. Mit einem Wort: Für die Zukunft unseres Landes - und damit meine ich viel mehr als den Standort im ökonomischen Sinn - ist es von größter Wichtigkeit, daß wir diese Eliten fördern und unterstützen, daß wir ein ganz klares Ja zu Leistungseliten sagen.

Deutschland ist arm an Rohstoffen. Unser eigentlicher "Rohstoff" sind die Menschen, die sich in besonderer Weise hervortun, die mehr leisten als andere. Durch unsere Politik in den 80er Jahren ist es gelungen, trotz schwieriger Umstände in den alten Bundesländern über drei Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das haben die meisten heute vergessen. Die neuen Arbeitsplätze sind überwiegend in forschungsintensiven Industrien und im Bereich innovativer Dienstleistungen entstanden. Dieses Beispiel zeigt, daß der Abbau von Arbeitslosigkeit, daß auch soziale Stabilität und privates Glück für den Menschen mit genau dem Bereich zu tun haben, der heute im Mittelpunkt dieser Feierstunde steht - in bürokratischer Sprache: dem Amtsbereich eines Kultusministeriums.

Meine Damen und Herren, an der Schwelle des 21. Jahrhunderts stehen wir vor großen Herausforderungen. Wir werden sie nicht auf nationaler Ebene allein meistern können. Deutschland wird in einer sich verändernden Welt nur bestehen können, wenn wir uns mit unseren Partnern in Europa enger zusammenschließen.

In wenigen Monaten, im Juni, werden wir in Amsterdam die Konferenz zur Überprüfung und Weiterentwicklung des Maastricht-Vertrages abschließen. Wir wollen das Haus Europa wetterfest bauen. Wir werden die europäische Währung, den Euro, einführen. Wir wissen, daß das - nach den guten Erfahrungen der Deutschen mit der D-Mark - eine stabile Währung sein muß. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Politischen Union. Beim Bau des Hauses Europa geht es vor allem um die Sicherung von Frieden und Freiheit in unserem Kontinent im nächsten Jahrhundert.

François Mitterrand hat in seiner letzten Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg ausgerufen: "Der Nationalismus, das ist der Krieg." In dem Europa, das wir bauen, ist für Nationalismus kein Platz. Etwas ganz anderes ist das nationale Bewußtsein. Wir bleiben natürlich "deutsche Europäer und europäische Deutsche", wie es Thomas Mann gesagt hat. In diesem Europa werden wir unsere Identität nicht aufgeben, auch nicht unsere landsmannschaftliche Identität - in Europa würde man "regionale Identität" sagen. Bayern ist auch hier in den vergangenen 150 Jahren ein gutes Beispiel gewesen.

All dies verheißt für uns eine gute Zukunft. Das gilt für uns Deutsche wie für unsere Nachbarn in Europa - im Westen wie im Osten. Europa umfaßt eben mehr als die Grenzen der jetzigen Europäischen Union! Ich war dabei, als Václav Havel angesichts des Umbruchs in seiner Heimat hier in der Staatskanzlei sagte, daß sein Land "nach Europa zurückkehrt". Wir sollten aufhören, dabei von Osteuropa zu reden. Städte wie Prag und Krakau liegen in Mitteleuropa.

Meine Damen und Herren, als Land mit den meisten Nachbarn in Europa haben wir ein elementares Interesse daran, von stabilen Demokratien umgeben zu sein. Wir wollen nie vergessen, was wir in den Jahren versprochen haben, als der kommunistische Imperialismus jenseits von Mauer und Stacheldraht herrschte. Damals haben wir den Menschen in Polen, in Ungarn und in der Tschechoslowakei zugerufen: "Wenn ihr den Kommunismus los seid, wenn wir Mauer und Stacheldraht niedergerissen haben, dann wollen wir gemeinsam das Haus Europa bauen!" Jetzt ist es soweit. Es muß ein Europa sein, in dem die Menschen ihre Identität bewahren, die Sprache ihrer Mutter sprechen können. Bezeichnenderweise reden wir ja von der "Muttersprache", um auszudrücken, wie eng und ursprünglich die Bindung des Menschen an jene Sprache ist, mit der er aufwächst.

Wenn man Europa so versteht, muß es ein Europa des Dreiklangs "Heimat, Vaterland, Europa" sein - hier in München würde man sagen: Bayern, Deutschland und Europa. Die europäische Einigung darf - jedenfalls nach meiner Überzeugung - niemals Gleichmacherei bedeuten, schon gar nicht im kulturellen Bereich; Europa bedeutet Einheit in Vielfalt. Deshalb war es gut und richtig, daß wir im Maastrichter Vertrag die Wahrung der "nationalen und regionalen Vielfalt" ausdrücklich festgeschrieben haben. Wenn wir in diesem Sinn Europa enger zusammenschließen, dann leisten wir jetzt einen entscheidenden Beitrag dafür, daß die Menschen im 21. Jahrhundert ohne Krieg, in Frieden und Freiheit und mit einem hohen Maß an wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Stabilität leben können.

Dies alles, Herr Staatsminister, hat viel mit der Arbeit zu tun, die Sie und Ihre Mitarbeiter Tag für Tag in vielfältiger Form leisten. Sie haben zu Recht gesagt: Es ist eine schöne Aufgabe. In der Sprache der Jungen würde man sagen: Es ist ein Super-Job. Es ist eine Arbeit, deren Ergebnis man nicht jeden Tag an Zahlen ablesen kann. Man kann sie vielleicht am ehesten mit der Aufgabe eines Försters vergleichen, der den Wald neu aufforstet in dem Bewußtsein, daß erst die nächste Generation den Nutzen davon haben wird.

150 Jahre sind eine lange Zeit, viele Männer und Frauen haben in diesen Jahren am "Teppich der Geschichte" mitgewebt. An diesem Tag wünsche ich Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Herzen viel Glück, Erfolg und Gottes Segen für Ihre Arbeit! Es ist eine Arbeit für die Menschen, eine Arbeit, die unserem Volk dient und einen Beitrag zum Frieden leistet.




Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 24. 20. März 1997.