26. Mai 1991

Ansprache auf dem Soldatenfriedhof Maleme auf Kreta

 

Wir sind hier zusammengekommen, um gemeinsam der Opfer der schweren Kämpfe um Kreta vor fünfzig Jahren, aber auch der Opfer der Besatzungszeit jener Tage zu gedenken. Über 11.000 Griechen, Deutsche, Briten, Neuseeländer und Australier verloren im Zweiten Weltkrieg hier auf Kreta ihr Leben. Sie alle wurden Opfer eines Kriegs, den Hitler begonnen hatte und der Millionen Menschen in Europa den Tod brachte.

Ich trauere mit Ihnen, den Angehörigen, um alle Gefallenen. Wir trauern um unsere Landsleute, die aus einem sinnlosen Krieg nicht mehr zurückkehrten. Wir trauern mit den Müttern und Vätern, die ihre Söhne, mit den Frauen, die ihre Männer verloren. Dieser Ort ist für uns Deutsche ein Mahnmal für den zynischen Umgang mit der Tapferkeit und dem Opfermut zahlloser junger Menschen.

Die Ereignisse vor fünfzig Jahren sind ein schreckliches Manifest für die Grausamkeit eines Kriegs, der kein Erbarmen kannte gegenüber den Verwundeten und den Gefangenen und der auch wehrlosen Männern, Frauen und Kindern den Tod brachte.

Die allermeisten deutschen Soldaten waren davon überzeugt, ihrem Land treu zu dienen. Und es gab zahlreiche Beispiele von Tapferkeit und Menschlichkeit, denen unsere Hochachtung gebührt. Wahr ist, dass die Menschen hier auf Kreta - wie in vielen anderen Ländern -unter der deutschen Besatzung ausschließlich zu leiden hatten. Und wir, die Deutschen, werden uns an dieses Unrecht stets erinnern.

Um so dankbarer sind wir, dass schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Griechen als eines der ersten Völker uns Deutschen die Hand zur Versöhnung reichten. Besonders herzlich danke ich all jenen, die hier auf Kreta und hier auf diesem Friedhof die Gräber der deutschen Gefallenen gepflegt haben und es auch weiterhin tun.

Aus Gegnern von damals sind längst Partner, Verbündete, Freunde geworden. Und heute verbinden Deutsche und Griechen eine enge politische und freundschaftliche Zusammenarbeit, ein reger Wirtschaftsaustausch und enge kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen.

Gemeinsam verteidigen wir seit Jahrzehnten als Mitglieder der Nordatlantischen Allianz unsere Freiheit. Wir sind Partner in der Europäischen Gemeinschaft [...] Unsere Gemeinschaft hat in beispielhafter Weise dazu beigetragen, Frieden und Freiheit zu bewahren.

Auf dem Weg zu einem vereinten Europa sind wir ein großes Stück vorangekommen, und wir werden es bald vollenden. Wir Deutsche wollen als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen. Es geht jetzt darum, und zwar uns allen darum, dass wir - Griechen und Deutsche - gemeinsam möglichst alle Europäer in das Werk des Friedens einbeziehen.

Als Europäer verbindet uns das gemeinsame Erbe einer Kultur -und wir verspüren dies gerade an einem Tag wie heute hier in Kreta -, die in Jahrtausenden gewachsen ist. Und wir wissen, wie viel gerade Griechenland dazu beigetragen hat. Diese Gemeinsamkeit wollen wir fruchtbar machen für ein vereintes Europa in Frieden und Freiheit.

Auf diesem Friedhof erfüllen uns viele Erinnerungen. Unser Blick geht zurück in ein Jahrhundert, das viel Blut und Tränen sah. Und wir wollen an diesen Gräbern versichern: Wir wollen am Ende dieses Jahrhunderts gemeinsam Werke des Friedens tun - zu Hause, in unserem eigenen Vaterland, in Europa und überall dort in der Welt, wo Werke des Friedens bitter notwendig sind.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 58 (28. Mai 1991).