26. November 1975

Rede in der 202. Sitzung des Deutschen Bundestages anlässlich der ersten Beratung über das Polen-Abkommen vom 9. Oktober 1975

 

Meine Damen und Herren, wer die Rede des Herrn Bundesaußenministers heute früh, auch die im Bundesrat, aufmerksam gehört oder gelesen hat, der hat einen weiteren Beweis dafür erhalten, daß die vorliegende deutsch-polnische Vereinbarung ein beredtes Dokument der verfehlten Ostpolitik der Bundesregierung seit 1970 ist.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Den Beweis für diese Tendenz kann niemand besser antreten als die Bundesregierung selbst. Allzusehr gleichen sich die Argumente für die Vereinbarung von heute und die vom Dezember 1970, als der Vertrag von Warschau unterzeichnet wurde. Wieder einmal heißt es, Herr Bundesaußenminister, daß die Verhandlungsergebnisse dem Ziel dienen, die deutsch-polnischen Beziehungen von Belastungen aus der Vergangenheit zu befreien. Am 7. Dezember 1970 hatte der damalige Bundeskanzler Brandt über alle Rundfunk- und Fernsehstationen der Bundesrepublik dem deutschen Volk erklärt: Der Vertrag von Warschau soll einen Schlußstrich setzen unter Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit. Er fuhr dann fort, daß dieser Vertrag „den Weg dafür öffnen soll, daß getrennte Familien wieder zusammenfinden können. Und daß Grenzen weniger trennen als bisher."

Meine Damen und Herren, Millionen unserer Mitbürger haben doch die Diskussion um den Vertrag von Warschau, auch die tiefen geschichtlichen Einschnitte, die dieser Vertrag bedeutet, so verstanden, wie es der damalige Bundeskanzler selbst formuliert hat: als einen Schlußstrich. Wenn deutsche Sprache noch deutsche Sprache ist, ist doch „Schlußstrich" der Begriff für etwas Abschließendes im Vorgang des Lebens eines Volkes.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Mit keinem Wort wurden damals zahlenmäßige Beschränkungen erwähnt.

(Dr. Carstens [Fehmarn] [CDU/CSU]: So ist es!)

Im Gegenteil, die Bundesregierung sprach von der polnischen Versicherung, daß die auf Grund der derzeit den polnischen Behörden vorliegenden Unterlagen genannten Ziffern keine obere Begrenzung der Umsiedlungsmöglichkeiten bedeuten sollen.

(Dr. Marx [CDU/CSU]: Sehr wahr! Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Genauso war es!)

Meine Damen und Herren, das sind doch keine Erfindungen von uns, das sind Ihre eigenen Äußerungen,

(Dr. Marx [CDU/CSU]: Vor dem Bundestag!)

die Sie jetzt fünf Jahre danach einfach nicht wahrhaben wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das Ergebnis waren 58.000 Deutsche, die seit 1970 Polen verlassen durften. Die polnische Regierung hat dann wiederholt erklärt, daß sie damit ihre Zusage im Rahmen der „Information" voll erfüllt habe. Heute, meine Damen und Herren, nach vier Jahren, liegt ein neues Abkommen vor, das 125.000 Deutschen die Umsiedlung ermöglichen soll. Aber auch dieses Abkommen - das muß deutlich ausgesprochen werden - enthält keine endgültige Regelung. Erneut muß die Bundesregierung erklären, daß sie „es lieber gesehen hätte, wenn sie mit dem Ausreiseprotokoll" - ich zitiere Sie gerade, Herr Kollege Genscher -, „eine endgültige Erledigung aller Ausreisewünsche in einem festgesetzten Zeitraum hätte vereinbaren können". Dieses Eingeständnis ist hier gemacht worden. Nur, es nützt den betroffenen Deutschen in Polen wenig.

Wir können nur feststellen, daß auch die neuen Vereinbarungen noch immer keinen Schlußstrich unter die ungelösten humanitären Probleme der Vergangenheit bedeuten. Obwohl die Bundesregierung erneut erhebliche Leistungen gegenüber der polnischen Regierung erbringt, werden wir auch in Zukunft mit den gleichen ungelösten Problemen zu tun haben. Und nach all den Erfahrungen seit 1970 ist man kein Prophet, wenn man sagt, daß dies zu neuen Belastungen im deutsch-polnischen Verhältnis führen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Vergleicht man die Ergebnisse von heute mit den Erklärungen und Ankündigungen der Bundesregierung von 1970, so bleibt eben nur der eine Schluß möglich, daß die Bundesregierung und der Bundeskanzler des Jahres 1970 - das muß hier ausgesprochen werden - das deutsche Volk getäuscht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie haben Erwartungen und Hoffnungen geweckt,

(Dr. Marx [CDU/CSU]: Propaganda gemacht!)

die zu keinem Zeitpunkt den wirklichen Ergebnissen dieser Politik entsprochen haben. Nur fünf Jahre später müssen neue Leistungen für Ergebnisse erbracht werden, die nach der Aussage des damaligen Bundeskanzlers Brandt schon 1970 hätten erreicht sein sollen.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

Wenn überhaupt etwas, dann beweist dieser Vorgang, wie berechtigt der Vorwurf in jenen Jahren war, daß diese Verträge mit einer ungewöhnlichen Leichtfertigkeit ausgehandelt wurden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Er beweist auch die These, daß selbst gesetzter, aus innenpolitischen Gründen verfügter Zeitdruck zu schlechten Texten führen muß und daß ein Dissens im Text immer auch den Weg für neue Spannungen öffnet. Er beweist, daß die Bundesregierung - aus welchen Gründen auch immer - die polnische Beurteilung des Vertrages von 1970 nicht zur Kenntnis nahm oder nicht zur Kenntnis nehmen wollte.

Die Vereinbarungen von heute sind die Konsequenz der schlechten Vertragspolitik von 1970. Die Bundesregierung hat aber aus den Fehlern von damals nichts gelernt, sondern ist dabei, diese Fehler fortzusetzen.

(Dr. Carstens [Fehmarn] [CDU/CSU]: Sehr richtig! - Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich will dazu eine ganz und gar ungewöhnliche Stimme zitieren: „Damals, in den Jahren 1970, 1971, 1972 folgte eine Periode der Euphorie und der Begeisterung, die, wie es sich erweist, keine Deckung mit der Wirklichkeit gefunden hat. Später begannen Tauziehen und Kuhhandel." Der das sagte, ist - auch aus Ihrer Sicht - kein kalter Krieger, sondern einer der Chefkommentatoren von Radio Warschau. Gesprochen wurde dies im Juni dieses Jahres im Blick zurück auf die letzten fünf Jahre.

Das ist beispielhaft für die Periode der deutsch-polnischen Beziehungen seit 1970; denn diese Periode war auf Grund von unterschiedlichen Erwartungen der Vertragspartner von neuen Enttäuschungen und Spannungen geprägt. Die polnische Regierung hatte in dem Vertrag von Anfang an nur die Grundlage gesehen, auf der die bestehenden Probleme erst noch gelöst werden sollten. Dieser Beurteilung stand die entgegengesetzte Wertung der Bundesregierung gegenüber. Auf die höchst nachteiligen Folgen der Mehrdeutigkeit der Verträge haben wir seitens der CDU/CSU im Bundestag und Bundesrat immer wieder hingewiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Diese Auslegung setzt sich ja fort bis hin zur Frage der Oder-Neiße-Grenze. Die gemeinsame Entschließung aller im Bundestag vertretenen Parteien vom 17. Mai 1972, in der unmißverständlich festgestellt wurde, daß der Vertrag mit Polen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen schaffe, wird ja aus Gründen dieses Dissenses vom Vertragspartner, von der polnischen Regierung, bis heute entschieden abgelehnt. Ja, wir müssen sogar fragen, ob unser Gesprächspartner in Polen hinreichend informiert ist. Ich frage dies, meine Damen und Herren, weil es doch unerträglich ist, daß das Ergebnis des Vertrages von 1970 u.a. auch darin besteht, daß häufig polnische Gesprächspartner hier bei uns ihrer Enttäuschung über eine gewisse Unredlichkeit, wie sie sich ausdrücken, der deutschen Vertragsseite Ausdruck geben.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Wem das deutsch-polnische Verhältnis wirklich am Herzen liegt - und ich unterstelle, das gilt für uns alle in diesem Saal -, der muß dafür Sorge tragen, daß wirkliche Klarheit über die Absichten auf beiden Seiten besteht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das gilt auch in bezug auf die Auslegung der einseitigen Information. Die polnische Seite hat nach dem, was wir wissen, offenbar nie einen Zweifel an der Zahl von 60.000 Aussiedlern gelassen. Diese Zahl wurde hier von der Regierung nicht veröffentlicht. Dies hat Sie aber, Herr Brandt, nicht gehindert, damals als Bundeskanzler in der Öffentlichkeit den Eindruck einer abschließenden Lösung zu erwecken. Meine Damen und Herren, dies sind drei Beispiele für das Verhalten der Regierung, die geradezu dazu angetan sind, neues Mißtrauen zu säen und wirklich wichtige Chancen zur Annäherung beider Staaten von vornherein zunichte zu machen.

Wenn heute die für uns alle bedrückenden Vorwürfe der gegenseitigen Erpressung und des Menschenhandels im Raume stehen, dann ist das doch die unmittelbare Folge jener Vertragspolitik. Meine Damen und Herren, die Verknüpfung der polnischen Kreditwünsche mit der Frage der Aussiedlung von Deutschen ist doch letztlich Ihr eigenes Eingeständnis dafür, daß es Ihnen 1970 nicht gelungen ist, die deutschen Interessen in befriedigender Weise zu wahren.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, ich sage es ganz nüchtern: Der Versuch, das Versäumte über den Hebel der polnischen Kreditwünsche nachzuholen, mußte doch logischerweise zu der polnischen Reaktion führen, nun ihrerseits die Frage der Aussiedlung mit der Erfüllung finanzieller Forderungen zu verbinden. Die Gleichung „Mensch gegen Geld" ist doch nicht eine böswillige Unterstellung der Opposition, sie ist der unvermeidliche Ausdruck Ihrer unzulänglichen Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Vertragsverhandlungen zu dieser Vereinbarung hätten in der Tat auch aus unserer Sicht die Chance eines Neubeginns sein können. Sie, Herr Bundeskanzler, sprachen von einem Neuanfang. Aber die Fehler von 1970 fortzusetzen, das ist kein Neuanfang, das ist neuer Dilettantismus - um es klar und deutlich auszusprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Natürlich weiß ich um die Schwierigkeiten, auch durch die geschichtliche Belastung, beim Aushandeln solcher Abmachungen. Aber diese Vereinbarungen sind wiederum schlecht ausgehandelt - und es ist legitim, das im deutschen Parlament zu sagen -; sie berücksichtigen unseres Erachtens die deutschen Interessen nicht im erforderlichen Maß.

Ich will dazu im einzelnen feststellen: Die pauschale Abgeltung der Rentenansprüche aus der Renten- und Unfallversicherung in Höhe von 1,3 Milliarden DM wirft zwangsläufig eine Reihe von Einzelfragen auf, die die Regierung noch in den Parlamentsausschüssen in Bundestag und Bundesrat zu beantworten hat:

Erstens. Wie ist diese Pauschalsumme ermittelt worden?

Zweitens. Für welchen Personenkreis und in welchem Umfang wird eine Besserstellung erreicht?

Drittens. Wie ist sichergestellt worden, daß Polen auf Grund der Kündigungsklausel des Abkommens nicht neue finanzielle Ansprüche gegenüber der Bundesrepublik Deutschland erheben kann?

Viertens. Auf welche Weise hat die Bundesregierung Sorge dafür getragen, daß auf Grund dieses Abkommens nicht andere Staaten ähnliche finanzielle Forderungen an uns stellen?

Fünftens. Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefahr - und das ist ein wichtiger Punkt -, daß mit diesem Abkommen das Londoner Schuldenabkommen unterlaufen und ausgehöhlt wird?

Vorsitz: Vizepräsident von Hassel

Generell - lassen Sie mich das hier nochmals aufwerfen, Herr Bundesaußenminister - muß doch die Frage gestellt werden, ob nicht die individuelle Abgeltung der Rentenansprüche, so schwierig und - ich füge hinzu - auch durchaus teuer sie im Einzelfall sein mag, einen wirksameren und gerechteren Beitrag für eine Politik der Aussöhnung zwischen unseren Völkern hätte leisten können als diese pauschale Leistung.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Bundeskanzler Brandt hat damals, 1970, davon gesprochen, daß Politik für die Menschen in beiden Staaten gemacht werden muß. Ich stimme dem zu. Aber wäre es nicht gerade im Interesse dieses Denkens gewesen, den berechtigten Forderungen im Einzelfall zu entsprechen

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

und so eben die Menschen zu den Menschen zu bringen und den sehr persönlichen Bezug auch zur Bundesrepublik Deutschland und ihrer Haltung zur jüngsten Geschichte herzustellen?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Natürlich sehen wir, daß die polnische Regierung ein Zeichen setzen will, indem sie jetzt die Renten der ehemaligen KZ-Häftlinge erhöht. Aber, meine Damen und Herren, es ist doch wenigstens erlaubt, hier die Frage zu stellen, warum die polnische Regierung dabei jeglichen Hinweis darauf unterlassen hat, daß diese Maßnahme eine Folgewirkung des vorgelegten Abkommens ist, wenn wir uns jetzt aufmachen, Versöhnung zu bringen. Hier ist der Vergleich mit Israel gebracht worden. Dort gab es doch gar keinen Zweifel, daß die Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Menschen im Staat Israel einen entscheidenden Schritt getan hat.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Entspannungspolitik, wenn sie erfolgreich sein soll, darf nicht nur auf der Ebene von Regierungen stattfinden. Sie wird letztlich und in ihrem historischen Gehalt nur erfolgreich sein können, wenn sie die Menschen, wenn sie die Familien, die Alten und die Jungen in diesen Ländern einbezieht. Ich fürchte, mit dieser Vorlage wird eine wichtige Chance auf diesem Wege verspielt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir verkennen nicht den humanitären Aspekt, daß 125.000 Deutschen die Ausreise erlaubt werden soll. Wer das damit abtut, daß er sagt, wir wollten die Lebenslüge der CDU zur Lebenslüge unseres Volkes machen, der disqualifiziert sich in dieser Diskussion selbst.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber, meine Damen und Herren, die Bundesregierung weiß doch wie wir, daß nach dem neuesten Stand bereits über 280.000 Anträge auf Ausreise beim Deutschen Roten Kreuz vorliegen und das Schicksal von 160.000 Deutschen in Polen ungewiß bleibt. Die Bundesregierung hat sich erneut auf eine zahlenmäßige Beschränkung der Ausreisemöglichkeiten eingelassen, und sie erklärt - ich sage es mit meinen Worten -: Mehr war jetzt nicht drin. Herr Bundeskanzler, wer angesichts dieser Aussage als Kritiker der Vereinbarung des Mangels an humanitärer Gesinnung bezichtigt wird, der muß doch die Frage nach der humanitären Gesinnung in bezug auf die 160.000 Deutschen stellen, die jetzt unberücksichtigt bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es ergibt sich aus der Natur der Sache, daß jede zahlenmäßige Begrenzung immer ein Akt der Willkür sein muß.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Sie, Herr Bundeskanzler, berufen sich auf die Kriterien der einseitigen polnischen „Information". Diese mußten auch schon 1970 für jene 125.000 Deutschen gelten, die jetzt ausreisen dürfen.

(Dr. Carstens [Fehmarn] [CDU/CSU]: Ja!)

Es stellt sich doch dann die Frage: Was soll jetzt das Protokoll, von dem Sie gesprochen haben?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

So ist jetzt zum zweitenmal eine Kontingentierung erfolgt, zum Preise neuer deutscher Leistungen, und eine Wiederholung dieses Vorgangs ist nicht auszuschließen. In diesen Wochen las ich in einem Kommentar in der Hamburger „Zeit" ein paar Sätze, die bemerkenswert sind. Sie sind vor allem deshalb bemerkenswert, Herr Bundeskanzler, weil sie von einem Mann geschrieben wurden, der bisher außerhalb jeglichen Verdachts, ich muß sogar sagen, des Anflugs jeglichen Verdachts, stand, über diese Regierung oder über Sie ein böses Wort zu sagen. Er schreibt:

„Wahrscheinlich hat kein deutscher Politiker heute die Kraft zu sagen: Dies ist das allerletzte Geschäft dieser Art, das wir in dieser Sache unterschreiben. Es ist ja auch nicht ganz ausgeschlossen, daß man in Polen für die nächsten 125.000 deutschstämmiger Umsiedler auch die nächste Tranche nach der Zahlung von 2,3 Milliarden DM haben möchte. Dies wäre schlimm, weil dann die Vokabel ‚Menschenhandel‘ und die Vokabel ‚Erpressung‘ nachträglich gerechtfertigt würden."

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Das, was hier nüchtern geschrieben und ausgesprochen ist, ist durchaus berechtigt. Im Zusammenhang mit diesem Protokoll ist noch die Frage hinzuzufügen: Warum gibt es keine Regelung für die Härtefälle? Diese Frage ist in diesem Zusammenhang durchaus berechtigt. Es gibt keine Festlegung über die Regelung von Einsprüchen, wenn Antragsteller abgewiesen werden, über die Kosten der Ausreise, über die Frage des Eigentums und darüber, wie es verbleibt, und alles, was dazugehört.

Meine Damen und Herren, wem es wirklich entschieden um eine Versöhnung mit Polen geht, der muß sich auch die Frage stellen, inwieweit Ausreisewillige Nachteile in bezug auf Arbeitsplatz und Wohnung erleiden oder anderen Schikanen ausgesetzt werden, wenn sie sich zur Ausreise melden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dieser Vorgang ist wiederum keine Erfindung von uns. Sie, Herr Bundesaußenminister, haben in der Sitzung des Bundesrates am 17. November 1975, also vor ein paar Tagen, schließlich mit gutem Grund davon gesprochen, daß die Bundesregierung wegen der Benachteiligung von Antragstellern bei der polnischen Regierung vorstellig werden mußte.

Die Bundesregierung hat es erneut versäumt, sich für die nationalen Volksgruppenrechte der verbleibenden Deutschen einzusetzen. 1970 sagte die Regierung zum gleichen Thema, sie gebe ihrer Hoffnung Ausdruck, daß im Laufe des Normalisierungsprozesses auch sprachliche und kulturelle Erleichterungen für Personen deutscher Muttersprache in Polen möglich werden. Meine Damen und Herren, so wie dies in der Sowjetunion, in Ungarn oder Rumänien möglich ist, muß es auch in Polen möglich sein.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Zu den schweren inhaltlichen Bedenken gegenüber dem Protokoll kommt einmal mehr die Tatsache hinzu, daß die von der Bundesrepublik Deutschland zu erbringenden Leistungen in förmlichen völkerrechtlichen Verträgen festgelegt sind, während die von Polen angekündigten Gegenleistungen in einem Protokoll festgelegt sind, das keinen vergleichbaren rechtlichen Rang besitzt.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Herr Bundesaußenminister, Sie haben dazu auch hier - wie schon im Bundesrat - erklärt, daß sich die polnische Regierung nicht in der Lage gesehen hat, Verwaltungsakte gegenüber Personen, die sie als eigene Staatsangehörige in Anspruch nimmt, zum Gegenstand eines ratifizierungsbedürftigen Vertrages mit der Bundesrepublik Deutschland zu machen. Ich muß ganz offen sagen, ich verstehe diese Einlassung nicht; sie kann mich nicht überzeugen. Es ist doch ein historisches Datum, daß die gleiche Volksrepublik Polen am 25. März 1957 ein völkerrechtlich gültiges Abkommen über die Repatriierung polnischer Staatsbürger aus der UdSSR abgeschlossen hat.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU. - Dr. Marx [CDU/CSU]: Das wurde alles unterschlagen!)

Es handelt sich - dies werden Sie feststellen, wenn Sie den Inhalt des Textes einmal betrachten - in der Sachmaterie um einen durchaus vergleichbaren Gegenstand.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dieses Abkommen ist sowohl vom Präsidium des Obersten Sowjets wie vom polnischen Staatsrat ratifiziert worden.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, dieses Abkommen ist auch kein Einzelfall. In den Jahren 1944, 1945, 1949 und 1951 hat Polen durchaus analoge Schritte getan und Umsiedlungsabkommen mit der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, mit der UdSSR und mit der ČSSR abgeschlossen. Unser Einwand ist also doch überhaupt nicht unberechtigt. Es ist doch ein Einwand aus der Sorge heraus, daß hier eine verschiedene Qualifikation vorgenommen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wer zu gutnachbarlichen Beziehungen Ja sagt - und wir tun dies

-, muß dann doch auch dieses Argument zumindest wägen.

(Zuruf von der SPD: Das ist makaber!)

Ich weiß nicht, was Sie daran als makaber empfinden.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Ich muß Ihnen ganz offen sagen, verehrte gnädige Frau: Ich empfinde es als makaber, wenn im deutschen Parlament in aller Ruhe Argumente abgewogen werden und Sie das als makaber empfinden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das ist doch genau der Punkt, den ich ansprechen will, daß in einem bestimmten Teil der deutschen Öffentlichkeit und auch zumindest bei Teilen der Bundesregierung und vor allem bei Teilen der SPD zunehmend die Neigung besteht, sich sachlichen Auseinandersetzungen in diesen Fragen, die man doch führen muß - das ist doch unsere Pflicht -, von vornherein zu entziehen.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

Dann wird gesagt - und das ist dann sozusagen die Markierung, der sich jedermann zu fügen hat -, mehr sei jetzt nicht erreichbar. Und es wird gesagt, bei einem Standpunkt des „Alles oder nichts" wäre überhaupt kein Ergebnis zustande gekommen. - Meine Damen und Herren, wer von uns in diesem Hause hat denn je, wer, der politische Vernunft gelten läßt, wird je Politik nach dem Prinzip „Alles oder nichts" machen? Das wäre ja wider die menschliche Natur. Und weil dies so ist, muß es wirklich sein, daß wir miteinander über diese Texte reden und daß die Kritik an diesen Texten dann eben nicht zu vordergründigen Schutzbehauptungen führt.

Ich meine, meine Damen und Herren, wir alle sollten auch daran denken, daß Menschlichkeit ein zu hohes Gut ist, als daß damit ständig die eigene Politik oder gar die eigene Partei geschmückt werden könnte.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Hier geht es um ein Stück Menschlichkeit, hier geht es um das Austragen einer geschichtlichen Last, hier geht es darum, auch Humanität zu üben. Aber das alles schließt doch ein, daß man über den Weg, den man gehen will, vernünftig miteinander reden muß.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Genau das wollen die Sozialdemokraten nicht!)

Und es muß endlich Schluß damit sein, daß jeder, der sich hier im Parlament oder draußen kritisch mit derlei Formen der deutschen Ostpolitik beschäftigt, pauschal als Feind des Friedens, als Entspannungsgegner, als kalter Krieger oder gar als unmenschlich diffamiert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dies unterscheidet uns doch als freies Land von jeglicher Diktatur: daß es natürlich zur Politik - auch zur Politik der Regierung - eine Alternative gibt und daß es zu Ihren politischen Entscheidungen Alternativen geben muß.

(Möllemann [FDP]: Haben Sie eine?)

Ich kann nicht verstehen, daß Sie, der Sie doch ein Liberaler sein wollen,

(Dr. Marx [CDU/CSU]: Der ist doch nicht liberal!)

dieses Prinzip überhaupt anzweifeln wollen. Denken Sie doch einmal an Ihre Ausgangsposition und an Theodor Heuss! Das war ein Satz, der ihm gut aus dem Munde gekommen wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der FDP und Gegenrufe von der CDU/CSU.)

Wenn es zu dem vorliegenden Abkommen mit Warschau wirklich keine Alternative gegeben haben sollte - ich bezweifle dies -, dann, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, müssen wir doch fragen, ob Sie und noch mehr eigentlich Ihr Vorgänger nicht selbst erheblich zu dieser ausweglosen Situation beigetragen haben.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Vor allen Dingen der Vorgänger!)

Wie erklären Sie sich beispielsweise die doch unleugbare Tatsache, daß in den Jahren von 1950 bis 1969, also in der Regierungszeit der CDU/CSU, über 400.000 Deutsche ausreisen konnten?

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Das ist doch im Jahresdurchschnitt fast die Hälfte mehr als seit 1969 ausreisen durften,

(Beifall bei der CDU/CSU.)

ohne daß hier spektakulär geredet worden wäre.

Wir sind auch dankbar für die Haltung der polnischen Seite in jenen Jahren; wir haben das selbstverständlich immer anerkannt. Diese Ergebnisse sind erzielt worden unter Wahrung der deutsehen Interessen, auf der Grundlage einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte und ohne spektakuläre PR-Arbeit. Das erforderte Fingerspitzengefühl und Differenzierungsvermögen, aber es stellten sich bei Geduld auch unleugbar unbestreitbare Erfolge ein.

Meine Damen und Herren, was Sie seit jenen Jahren erreicht haben, geht nicht wesentlich über das hinaus, was ohne Verträge in den sechziger Jahren in dieser Frage erreicht wurde.

(Zurufe von der CDU/CSU: Das ist weniger!)

Die Kritik an den vorliegenden Vereinbarungen kann auch nicht mit dem Vorwurf abgetan werden, dies sei der Ausfluß eines Mißtrauens gegen Polen, das nicht gerechtfertigt sei. Sie behaupten, die Abkommen seien der Beweis dafür, daß beide Seiten das Mißtrauen überwunden hätten und auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens zusammenarbeiten wollten. Lassen Sie mich dazu mit großem Ernst sagen - auch an die Adresse unserer polnischen Nachbarn und des polnischen Volkes -: Soweit heute Mißtrauen gegenüber der polnischen Regierung bei vielen Deutschen vorhanden ist - und das ist sicherlich in keiner sehr konkreten Form so zu sehen -, so hat dieses eher zugenommen dadurch, daß eben nach 1970 sehr unterschiedliche Vorstellungen dieser Politik in unserem Lande dargeboten wurden. Es besteht bei uns überhaupt kein Verständnis für die Meldungen über Repressionen und Schikanen, die deutsche Landsleute erdulden müssen, nur weil sie einen Antrag auf Ausreise gestellt haben.

Meine Damen und Herren, wir haben nicht vergessen, wie der polnische Außenminister Ende 1973 in Bonn von 150.000 Deutschen sprach, die innerhalb von drei Jahren ausreisen könnten, und dabei zugleich von 3 Milliarden DM deutschen Gesamtzahlungen ausging. Die Bundesregierung - und natürlich auch die polnische Regierung - muß sich doch in diesem Zusammenhang fragen lassen, welchen Wert die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat,

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

wenn die Grundrechte dort feierlich bekräftigt werden, die Praxis des Alltags aber von finanziellen Überlegungen abhängig ist.

Ich spreche dabei noch gar nicht - und dies muß hier auch gesagt werden - von der Anerkennung des Rechts auf Auswanderung als eines individuellen Menschenrechts in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in den internationalen Pakten der UNO über politische und bürgerliche Rechte. Wir sind fest entschlossen, die Schlußakte von Helsinki ernst zu nehmen, Buchstabe für Buchstabe und Satz für Satz. Wir verlangen dies aber in gleicher Weise von allen Unterzeichnerstaaten, und zwar für alle Teile der Schlußakte von Helsinki.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, wir wissen, daß es angesichts der Last der Geschichte sehr schwierig ist, die Berge des Mißtrauens abzubauen. Neues Vertrauen kann nur gewonnen werden, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht, wenn man aufeinander zugeht, wenn man, soweit dies menschlich möglich ist - ich sage dies mit aller Zurückhaltung -, bereit ist, auf beiden Seiten Schlimmes zu vergessen, wenn beide Seiten auch mehr Verständnis für die Interessen und die Lage des anderen aufbringen. Dies ist nicht leicht. Zu sehr ist noch die jüngste Vergangenheit im Bewußtsein beider Völker lebendig.

Keiner in diesem Hause bestreitet die moralische Verpflichtung, die sich daraus für unsere Politik ergibt. Von dieser Stelle aus hat der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland bei seiner ersten Regierungserklärung zu diesem Thema unvergeßliche Worte schon 1949 gesprochen. Wir alle - ich sage dies jetzt auch für meine Freunde in der CDU/CSU - haben die Lektion der Geschichte, haben die Lektion der Nazi-Barbarei begriffen. Wir wissen, welch hohes Gut Frieden ist und wie wichtig es für unsere und für die nach uns kommende Generation ist, gute Nachbarschaft mit allen unseren Nachbarn zu haben. Aber gerade weil wir darum wissen, gerade weil wir bereit sind, die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen, sind wir nicht gewillt, uns daran hindern zu lassen, auch die Maßnahmen der Regierungen daraufhin zu prüfen - und diese Vereinbarung ist eine solche Maßnahme -, inwieweit sie wirklich und auf Dauer dem Ziel der Aussöhnung mit dem polnischen Volk dienen; denn daß wir die Aussöhnung wollen, ist gänzlich unbestritten, dies ist ein Teil unserer Geschichte, zu dem wir selbstverständlich stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, gerade weil das so ist und weil ich davon ausgehe, daß das für alle in diesem Hause gilt, ist es gänzlich unmöglich, die sachliche und ernsthafte Auseinandersetzung über diesen Text von vornherein mit der moralischen Verpflichtung unmöglich zu machen. Das eine ist notwendig, wie das andere selbstverständlich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es ist unerträglich, wenn wir die Bürger in diesem Land in Gruppen einteilen, die einen mit einer höheren Moral, weil sie für Menschlichkeit und Aussöhnung sind, und die anderen, denen diese moralische Position abgesprochen wird. Herr Abgeordneter Friedrich, Sie haben das hier vorhin mit der CDU/CSU versucht. Ich kann nur sagen: Wir sind eine Parteiengemeinschaft, für die die Gewissensfreiheit ganz selbstverständlich ist, in der die Freiheit des einzelnen ein Stück der Existenz und der Geschichte unserer Partei ist. Dementsprechend ist es das freie Recht des einzelnen Abgeordneten, wie es die Verfassung niedergeschrieben hat, abzustimmen, wie er es für richtig hält.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber es ist gänzlich unerträglich, daß Sie daraus Schlüsse darauf ziehen - und dies zu einem Moment Ihrer Propaganda machen wollen -, wo in diesem Zusammenhang die moralisch Höherwertigen und die weniger Gewichtigen etwa bei der CDU/CSU zu suchen seien. Es ist Ihre Sache, wie Sie mit Ihren Problemen fertig werden, und es ist unsere Sache, wie wir mit unseren Problemen fertig werden. Aber wir werden gemeinsam mit den Problemen dieser deutschen Demokratie nur fertig, wenn wir uns nicht gegenseitig verteufeln und verdächtigen, sondern respektieren in der Meinung, die wir haben.

(Beifall bei der CDU/CSU. Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Das schafft der Wehner nicht!)

Meine Damen und Herren in der Koalition und vor allem in der SPD, wenn Sie so fortfahren, wie Sie 1970 begonnen haben, unser Volk in den Fragen der Ostpolitik zu spalten, anstatt es zusammenzuführen, dann gelingt Ihnen auf Dauer auch nicht die Aussöhnung mit unserem Nachbarn;

(Beifall bei der CDU/CSU.)

denn eine Aussöhnung mit dem polnischen Volk, dem polnischen Nachbarn - dies gilt gerade wegen der moralischen Position, die hier mitschwingt - ist nur möglich, wenn sie vom ganzen deutschen Volk mitgetragen wird, ist nur möglich - Herr Abgeordneter Friedrich, überlegen Sie noch einmal, was Sie geagt haben! -, wenn jene ungeheure geistige Weite, jener Sinn für Toleranz und wirklich ethische Grundlagen des Dokuments der Stuttgarter Vertriebenencharta von 1950 alle Gruppen in Deutschland beseelt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

In diesem Zusammenhang will ich noch ein Thema ansprechen, das leider auch hier, wie ich finde, sehr einseitig dargestellt wurde, nämlich das historische Zusammenleben zwischen unseren beiden Völkern. In der aktuellen Diskussion wird das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland fast ausschließlich unter dem Aspekt der letzten 80, 60 oder gar der letzten 40 Jahre gesehen. Auch der Abgeordnete Friedrich hat dies hier getan. Ich halte diese Betrachtungsweise unserer wechselseitigen Beziehungen für verhängnisvoll; denn sie ist historisch verkürzt, drängt die offenkundigen historischen Gemeinsamkeiten zurück und überbetont das Trennende, das sich natürlich auch zwischen unseren Völkern abgespielt hat. Ich verkenne nicht, daß es überall in der Welt Kreise gibt, die ein Interesse daran haben, daß dieser Ausgleich nicht stattfindet. Aber das kann doch nicht unser, das deutsche Interesse sein. Gerade wenn wir uns aufgemacht haben, das Trennende zu überwinden und zu einer neuen Verständigung zu kommen, dann sollten wir uns auch daran erinnern und es den Kindern durch die Schulbücher in beiden Ländern sagen und es sie lernen lassen, daß diese beiden Völker jahrhundertelang auch in enger und friedlicher Nachbarschaft miteinander gelebt haben.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Erst die polnischen Teilungen und der Verlust der polnischen Unabhängigkeit haben zu jenen gesteigerten nationalen Auseinandersetzungen, zumal dann auch im Zeitalter des Nationalstaates, geführt. Das Gegeneinander ist also erst seit rund hundert Jahren stärker als das Miteinander. Aber, meine Damen und Herren - das ist doch das Entscheidende -, Regierungen und Parlamente kommen und gehen, die Völker bleiben. Mit keinem Nachbarvolk gab es doch eine solche gegenseitige intensive siedlungsmäßige Durchdringung, eine solch weitgehende kulturelle und technische Beeinflussung und so vielfache Familienverbindungen wie zwischen Deutschen und Polen. Auch das ist doch deutsche Geschichte!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das kann und darf uns doch ermuntern, für die Zukunft auf eine neue Gemeinsamkeit, trotz allem, was da war, zwischen Deutschland und Polen zu hoffen. Es gibt ebenso wenig eine deutsch-polnische Erbfeindschaft, wie es in der Bundesrepublik Deutschland einen modernen Revanchismus gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es gibt in unserem Volke quer durch alle Lager der Politik den ehrlichen Willen, mit den Nachbarn und mit den Polen zusammenzuleben. Heute ist doch die Enkelgeneration jener, die dies alles noch erlebten, herangewachsen. Sie schaut doch nach vorn. Sie will Geschichte so begreifen, daß sie aus der Geschichte und den Fehlern der Väter und Großväter lernt. Deswegen ist es jetzt an der Zeit, aufzubrechen und in diesem Sinne aufeinander zuzugehen. Das muß aber mit klaren Abmachungen geschehen, mit Abmachungen, die für beide Seiten vertretbar und klar verständlich sind.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Aus diesem Grunde sehen wir uns außerstande, der vorliegenden Vereinbarung in dieser Fassung zuzustimmen. Wir fürchten, daß dies ein Schritt ist, der nicht Ungerechtigkeit beseitigt, sondern neue Zweideutigkeit schafft. Neue Konflikte mit neuen polnischen Forderungen sind ja nicht gänzlich auszuschließen.

Wir sind zutiefst überzeugt, daß der Wille zur Verständigung, zu intensiver Zusammenarbeit und verstärkten Kontakten in beiden Völkern vorhanden ist. Wir wissen um die Gegensätze, die uns trennen und die nicht einfach totgeschwiegen werden können. Aber wir wissen auch, daß es, wenn die Menschen und die Politik in Polen und in Deutschland Großzügigkeit, Mut und Phantasie aufbringen und bereit sind, die gegenseitigen Beziehungen unter dem Prinzip gegenseitiger Achtung zu normalisieren, möglich ist, einen Ausgleich über das Trennende hinweg zu finden. Voraussetzung sind mehr Verständnis für den andern, auch und gerade dort, wo Verschiedenheit besteht, und die Bereitschaft, den guten Willen selbstverständlich nicht in Frage zu stellen.

Herr Abgeordneter Friedrich, für uns alle ist selbstverständlich - pacta sunt servanda - der Vertrag von 1970 rechtsgültig. Er gilt mit dem Vorbehalt, daß völkerrechtlich endgültige Bestimmungen über Deutschland als Ganzes erst in einem Friedensvertrag für ganz Deutschland getroffen werden. Dies entspricht dem Grundgesetz; dies entspricht dem Deutschlandvertrag. Dies ist auch die Basis der gemeinsamen Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Gerade wir wollen darauf hoffen, daß die Polen für unsere Lage mehr Verständnis haben als alle anderen, weil es kein Volk in Europa gibt, das das Schicksal der Teilung, ja sogar der Aufteilung, so hart am eigenen Leibe erleben mußte wie unsere polnischen Nachbarn. Gerade wer den Standpunkt der polnischen Nation durch viele Jahre der Geschichte leidenschaftlich verfolgen konnte, der weiß, daß dieses Volk und diese Nation niemals die Identität der eigenen polnischen Nation aufgegeben hat, sondern daß sie einen langen Atem vor der eigenen Geschichte hatte.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, wer das ganz selbstverständlich Polen zubilligt, ja, wer es mit einem großen historischen Respekt vor der Leistung des polnischen Volkes ausspricht, der darf auch erwarten und darum bitten, daß für die Fragen, die aus der deutschen Teilung des einen deutschen Vaterlandes entstanden sind, überall in der Welt, auch in Polen, Verständnis herrscht.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Die bestehenden Fragen können nur gelöst werden, wenn sich beide Seiten von dem Willen leiten lassen, dem einzelnen Menschen zu helfen. Dies setzt Verständnis, Toleranz und auch Verzicht auf diskriminierende politische Propaganda voraus. Auch der Abschluß dieses Kapitels könnte einen guten Beitrag für die Entwicklung der Zukunft bilden.

Meine Damen und Herren, ich sagte, daß Konrad Adenauer schon 1949 in diesem Saal und von dieser Stelle aus für Aussöhnung und gute Nachbarschaft mit Polen geworben hat. Wir stehen in der Kontinuität dieser Politik. Wir sind zu dieser gutnachbarlichen Zusammenarbeit bereit, mit allen unseren Nachbarn, vor allem auch mit Polen, von dem uns manches in der Geschichte getrennt hat, mit dem uns aber viel mehr verbindet.

Wir wollen die Überwindung der Teilung Deutschlands und die Überwindung der Teilung Europas. Wir wollen den Frieden und den Ausgleich, auch mit Polen.

(Langanhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

 

Quelle: Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Hg. von Horst Teltschik. Bonn 1978, S. 90-105.